PAUL KELLER

Schlesiens großer Erzähler

VON HEINRICH O. OLBRICH

„Was drinnen tief im jugendlichen Herzen Von Gottes Hand geschrieben steht, AU‘ meine Freuden, alle Schmerzen, Die ganze Liebe und mein gut Gebet, Hab‘ ich in meine Bücher hingesungen, Und ist der Sang, der so dem Mund entweicht, Lebendig in ein ander Herz gedrungen, So habe ich mein Ziel erreicht.“ (Keller)

Es war im Jahre 1902, als uns unser Deutschlehrer für die Sommerferien die Aufgabe stellte, ein gutes Buch zu lesen und in einem kurzen schriftlichen Niederschlag darüber zu berichten. Ich griff zu Paul Keller, dessen Roman „Waldwinter“ eben erschienen war und allgemein beste Aufnahme fand.

Eine geistige Verbindung zu Paul Keller war insofern voraufgegangen, als in meinem Elternhaus seine Früherscheinungen „Gold und Myrrhe“ gern gelesen wurden. Es sind doch Geschichten, die durchwebt sind von dem Golde leuchtender Liebe oder auch von dem bitteren Beigeschmack menschlicher Härte und Gleichgültigkeit — also immer ein Körnchen Gold oder Myrrhe.

Paul Keller
Repr.: Kreisbildstelle

Nach kurzer Zeit folgten der zweite Band von „Gold und Myrrhe“ und die Novellenbände „In Deiner Kammer“ Und das „Niklasschiff“. In das Kinderland des Dichters führten die Kurzgeschichten „Seeschwalben“ und der „Guckkasten“.

Einen durchschlagenden Erfolg errang unser Dichter im Jahre 1902 mit dem Roman „Waldwinter“. Noch heute, also nach mehr als 68 Jahren, gehört er nach Verlautbarung des Verlages zu den gelesensten Büchern. Romantik, Heimat und Liebe beherrschen die Handlung, die in die schlesischen Berge versetzt ist. In diesem Ich-Roman stellt Paul Keller die Hauptperson als den freisinnigen und kunst-beflissenen Waldhofer dar. Die muntere Tochter Ingeborg, der derbe Oberförster Gerstenberger, der biedere Haushalter und Kellner Baumann, der linkische aber recht höfliche Gastwirt Sternitzke und eine große lebhafte Kinderschar sorgen für den munteren Ablauf der heiteren . und ernsten Szenen.

Der Roman wurde ins Ungarische, Tschechische und Finnische übersetzt und 1936 verfilmt. Zu einem wahren Volks-, ja Weltroman, wurde das 1903 erschienene Werk „Die Heimat“. Felix Dahn schrieb dem damals noch jugendlichen Paul Keller: „Ja, das ist echte Heimatkunst“, und Gustav W. Eberlein urteilte: „Alle Menschen in dieser Geschichte ringen, keiner ist schlecht bis ins Mark, jeder schleppt die Last seiner Unvollkommenheit bis zum Ende — Menschsein.“

Kurz nach Vollendung dieses bedeutenden Werkes brach der Dichter an einem Blutsturz zusammen. Er litt seelisch sehr unter diesem Mißgeschick, besonders deshalb, weil das Schlußkapitel, das die Auflösung aller Akkorde bringen sollte, noch nicht geschrieben war. Mit Hilfe der ärztlichen Kunst durfte der sehr geschwächte Dichter im Krankenbett den Schluß schreiben. Der Roman klingt aus: „Heimat ist Friede.“ Nach einem Jahr sorgfältigster Pflege erschien 1905 ein neuer Roman „Das letzte Märchen“. Der Dichter selbst nennt ihn ein Idyll. Er sagt: In diesem Buch will ich alles retten, was in mir noch jung ist, nein, was in mir noch ein Kind ist. Kommt mit! Nicht alle! Nur die, die in ihres Lebens heimlichen Stunden in der Brust das alte Kinderherz noch einmal ein paar Schläge fühlen, die manchmal eine Sehnsucht haben, in die Heimat zu gehen und die Spielplätze neu aufzusuchen. Im letzten Märchen liegt der ersten Märchen Erfüllung.“

Dieses eigenwillige Werk Kellers wird von einer ungeheueren Stimmung beherrscht. Wilhelm Raabe zählte „Das letzte Märchen“ zu seinen liebsten Büchern. Und wie sehr er es schätzte, besagt die Tatsache, daß der damals schon gealterte Raabe Bekannte auf der Straße anhielt und ihnen empfahl, in die Buchhandlung zu gehen und „Das letzte Märchen“ zu kaufen. Paul Keller, der die Berge Schlesiens über alles liebte, besuchte auch gern die düstere Bergwelt Norwegens. In dieser harten Umgebung reifte in ihm der Plan zu einem neuen Werk „Der Sohn der Hagar“, das 1908 erschienen ist. Damit hat der Dichter den Höhepunkt seines Schaffens erreicht.

Er stellt in diesem großen Roman jene Menschen unter Anklage, die sich durch Almosen ihren Nächstenpflichten zu entziehen suchen und sich am liebsten aus Bequemlichkeit von fremdem Leid und fremder Not nicht berühren lassen möchten.

Von den Hauptpersonen und ihrer Handlungsweise in diesem Werk sagt Peter Rosegger, „daß sie in der deutschen Literatur einzig dastehen, so die Frau des Gastwirts, hart, selbstsicher und unduldsam. Unvergeßlich sind die Großeltern Roberts, die alten Helmichsleute in ihrer Abgeklärtheit, in ihrer innigen Zuneigung und Liebe. In ihrem heiteren Wesen zeigen sie viele Züge auf, wie ich sie in langen Jahren in den Eltern Paul Kellers kennengelernt habe.“ An einer anderen Stelle sagt Rosegger: „Ich habe Ihr Buch gelesen; ich möchte zu Ihnen kommen, Ihnen in die Augen schauen und Ihnen beide Hände reichen.“ Auch dieser Roman wurde ein Welterfolg; er wurde in viele Sprachen übersetzt und verfilmt. Einen dankbaren Stoff für seine literarische Gestaltung fand Keller in der reichen Sagenwelt der Sorben, einer nationalen Splittergruppe zwischen Oder und Unstrut. 1909 erschien der Roman „Die alte Krone“. Zu dieser Dichtung sagt er: „Ich bin mit ganzer Liebe an das Werk gegangen, habe nach den Trümmerbildern, die ich fand, die Sage vom Wendenkönig rekonstruiert und hoffe, daß mich das deutsche Herz nirgends, wo zwischen Nationalitäten abzuwägen war, zu einer Sünde ungerechter Parteilichkeit verführt hat.“ In den nächsten Jahren schenkte der Dichter seiner Nachwelt zwei Erzählungsbücher, „Die fünf Waldstätte“ und „Stille Straßen“. In letzterem Buch führt er uns in seine Dorfjugendzeit. Wir erleben ihn hier als Bauernbub im Hause seiner Großeltern, fahren mit ihm und seinen Eltern durch das Waldenburger Bergland, halten mit den Kindern Gewissenserforschung und erleben mit ihm die kindliche Demut, „wie er mit dem lieben Gott im Schlitten fuhr“.

Dieses Buch findet seine Krönung durch den Beitrag: „Das Märchen von den deutschen Flüssen“, das wir als Kostprobe dieser einmaligen Erzählkunst Kellers am Schluß unserer Abhandlung folgen lassen.

Sein nächster Roman „Die Insel der Einsamen“ erschien 1913. Hier erzählt er die Geschichte einsamer Menschen. „Es ist ein romantisches Lied, das Trauer und Heiterkeit widerspiegelt.“ Als der erste Weltkrieg ausbrach, stand Paul Keller geistig inmitten seiner schlesischen Landsleute, die im Felde waren. Für sie schrieb er u. a. „Grünlein“, eine der schönsten Kriegsgeschichten. 1916 erschien der Roman „Ferien vom Ich“, dann 1917 „Von Hause ein Päckchen Humor“ und 1918 der Waldroman „Hubertus“. Der Roman „Ferien vom Ich“ erregte damals schon wegen seines Titels Aufsehen. Die Kritik sagt: Der klassisch gewordene Ferienroman ist in der Literatur einmalig geblieben, ein Buch ernster Lebensphilosophie, ein Meisterwerk des Humors. Auch dieser Roman wurde verfilmt. Von dem eben genannten Roman „Hubertus“ sagt er zur Hauptperson: „Er war kein Prinz, nicht einmal ein Jäger, noch viel weniger ein Heiliger. Er hat viele Freuden des Lebens sorglos genossen, er hat gejagt nach Geld, Macht, Ansehen, Weinlaunen und Weiberlust und hat eines Tages ein weißes Kreuz leuchten sehen, worauf ihm alle Jägerlust erlahmte und er ein stiller Mann geworden ist.“

Die Kritiker dieser Neuerscheinung waren einmütig darin, daß es wohl kaum einem Dichter gelungen ist, das Leben des Waldes und seiner Mitmenschen so zu schildern. Von seinen Spätwerken sind noch aufzuzeigen „In fremden Spiegeln“, „Die vier Einsiedler“ und „Marie Heinrich“.

In der letzten Romangestalt stellt uns der Dichter ein Mädchen vor, das früh verwaist, tapfer und kraftvoll im Kampf um die Erhaltung des Hoferbes und der Wahrung der Familienehre den Glauben an die Macht des Guten nicht verliert. Weit über die Grenzen Schlesiens bekannt und gern gelesen war die von Paul Keller herausgegebene Monatsschrift „Die Bergstadt“, die er von 1914 bis 1931 redigierte. Viele seiner Erzählungen und Romane fanden hier ihren Niederschlag.

Der Gesundheitszustand unseres Dichters war nach dem erlittenen Blutsturz nie voll wider-standsfähig. Unter diesem niederdrückenden Zustand schrieb er 1931: „Nächstes Jahr werde ich 60 Jahre alt. Kein Tag, um fidel zu sein. Es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.“ Als er 1932 in dem von ihm oft gern aufgesuchten Bad Landeck Erholung suchte, erlitt er einen völligen Zusammenbruch und mußte nach Breslau gebracht werden. Hier ereilte ihn am 20. August in den Armen seiner treusorgenden Gattin der Tod.

Auf dem Laurentiusfriedhof in Breslau fand er seine letzte Ruhestätte.

Sein alter Freund und Verehrer, der damals schon 80jährige Bildhauer Schmit, schnitzte ihm ein Denkmal und die Stadt Landeck stiftete hierfür einen Obelisken. Er trägt die Worte des Dichters:

„Heimat ist Friede.“

In stillem und dankbarem Gedenken an den großen Erzähler Schlesiens, der dem Autor dieses Beitrages persönlich gut bekannt war, lassen wir als winzige Kostprobe „Das Märchen von den deutschen Flüssen“ folgen:

Frau Gräfin Elbe wollte ihre Gesellschaft geben. Wie immer im intimen Kreise. Nur die Spitzen waren geladen. Schon, weil Se. Majestät erschien. König Rhein ist ja recht leutselig, zumal wenn er (ganz im Vertrauen gesagt) ein Gläschen zuviel getrunken hat, und das hat er (in noch tieferem Vertrauen gesagt) eigentlich oft; aber König ist König.

Nochmals prüfte Gräfin Elbe das Verzeichnis der Geladenen. Ach Gott, man hat seine liebe Not. Der Mangel an Herren! Majestät und seine Kammerjunker Main und Neckar; dann der Inn, der im Gefolge der Donau kommt, und schon ist Schluß. Sonst nur Damen: die Weser, die Oder, die Elbe, die Donau, die Memel. Überschuß an Weiblichkeit wie überall. Dazu die Weichsel. Frau Elbe wußte, daß seine Majestät Wert darauf legt, mit ihr gut nachbarliche Beziehungen zu pflegen. Also mußte auch sie geladen werden. Schließlich hatte sie sich nach langen, schweren Bedenken entschlossen, es mit dem Pregel einmal zu versuchen. Lediglich weil er ein Mann ist; denn sonst — o, man kann sich denken, was der Kerl aus seinen masurischen Wäldern für ein Odeur in den Salon bringen wird. Aber er hat eine freie Standesherrschaft, und — er ist ein Mann. Eine Art Mikosch unter den deutschen Flußherrschaften. Man muß es eben probieren.

Die Oder hat einen schmucken Trabanten, den Bober, den könnte sie mitbringen. Soll Zwar Zuweilen den Koller kriegen und dann alles drunter und drüber werfen, aber, lieber Himmel, Temperament ist ja beliebt bei den Damen. Tem— pe—ra—ment! Den Bober läßt die Oder zu Haus. Dafür bringt die Alte jedes Jahr die Warthe mit, das hausbackene, melancholische Mädchen. Oder sie bringt mal die fromme Neisse mit oder gar die Hotzenplotz. Also Hotzenplotz, das ist ein Skandal! Ein Mann müßte sich genieren, so zu heißen, geschweige denn ein Fräulein. Man schämt sich ja, das Mädel vorzustellen. Se. Majestät hat sich voriges Jahr halbtot gelacht über die Hotzenplotz und das Mädchen zum Karneval nach Köln eingeladen — sozusagen als einen flüssigen Witz. Der Osten überhaupt, der Osten! Das ist ja das Schreckliche für Frau Elbe, daß sie so in der Mitte wohnt. Sie möchte es nach rechts nicht verderben und nicht nach links, und ihre linke Hand will nie recht wissen, was die rechte tut, auch das nicht, was sie Gutes tut fürs Vaterland. Eine recht peinliche Lage. Und sie selber — ach — sie hat ja auch nur Töchter. Töchter und Kummer hat sie! Die Moldau, durch ihre tschechische Heirat dem deutschen Lande Entfremdet, die Havel — na ja, wenn sie eine bessere Figur machte — aber Gott, die Buckel und diese vielen Wasserblasen — und dann das Enkelchen, die Spree, das enfant ter-rible! — Die andere Tochter, die schwarze Elster, ist voriges Jahr von der Donaumadame indirekt beschuldigt worden, ihr eine Perle gestohlen zu haben — bleiben die Aller mit ihrer spitzen Sprechart, die schlichte Mulde und als einziger Trost die Saale, ihre liebe poetische Saale.

Kummer und Töchter hat Frau Elbe. Wenn nur die Gesellschaft erst gut vorbei wäre! — Der Gesellschaftsabend war gekommen. Der Goldene Auen-Saal war von hunderttausend Lichtern bestrahlt, Madame wartete. Sie trug ein grünseidenes Kleid.

Als erster Gast stellte sich der Pregel ein. Er kam in Lederhosen, in juchtenen Halbstiefeln, einem altfränkischen Gehrock und hatte ein blaues Halstuch umgebunden. Dazu war er gänzlich unrasiert. Herzlich streckte er der Hausherrin die Hand entgegen und sagte in seinem polnischen Deutsch: •• „Mohlzeit! Bin ich da. Freit mich sähr. Is aber verflucht weit zu Ihnen.“

Die Elbe lächelte gezwungen. „Willkommen — Herr — Herr — Wie ist doch gleich Ihr Titel?“ „Baron —! Von Großvater her! Urgroßvater war bloß Bauer.“ „Ja, ich hörte!“ sagte die Elbe reserviert. „Sie haben Anschluß an die deutsche Aristokratie gefunden.“ „Hob ich — hob ich mir schon särr feines Sacktüchel gekauft in Königsberg bei Johrmorkt. Wollen Sie sehen?“ Er kramte in den Taschen. Die Elbe wehrte mit beiden Händen ab.

Ein Fanfahrenstoß. Der König trat ein. Er trug keine Krone, aber es schlang sich eine Weinranke um seine Stirn, und zwischen den grünen Blättern blitzte es rot und blau. Sein Töchterlein, die neckische Mosel, hing an seinem Arm, und seine beiden Kammerjunker Main und Neckar begleiten ihn. Sonst war in seinem Gefolge nur die Frau Kommerzienrat Ruhr. Die Elbe machte ihren tiefen Hofknix, dann stellte sie Baron Pregel vor, der sich sofort die Nase schneuzte und dann dem König demütig die Hand küßte. Der König klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte, er freue sich, den Baron mal kennenzulernen. Darauf klopfte der Baron dem König auf die Schulter und sagte, er freue sich, den König mal kennenzulernen. Die Elbe wollte ohnmächtig werden; aber der König zwinkerte ihr zu: sie solle das bleiben lassen. Da ließ sie’s. Der Pregel versuchte indes, der schönen Königstochter in die Backen zu kneifen, woran ihn aber die beiden Junker mit eifersüchtiger Ritterlichkeit hinderten. So wandte er sich betrübt der etwas ältlichen Kommerzienrätin zu.

„Ruhr hob ich gehört“, sagte er. „Ruhr! Verfluchte Geschichte! Hoben bei mir Schweine auch gehabt!“

Die Ruhr wurde schwarz vor Wut. Unterdes kamen neue Gäste. Die Oder trat ein, in ihrer Gesellschaft wieder ihre kleine schmucke Tochter Warthe.

Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlenstaub liegt manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbcdarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus. Und so wie sie ist ihr stilles, starkes Kind, die Warthe; ein wenig verträumter noch als die Mutter, ein wenig schwermütig geworden durch ihre Wanderungen über lautlose, weite Wiesen, durch stille, einsame Wälder, wortkarg geworden im Umgang mit den schweigsamen Schiffern der langsamsten Fahrzeuge der Welt — kaum daß sie in weltentlegenen Mühlen einmal lustig plaudert.

Die beiden Ankömmlinge erfuhren einen freundlichen, wenn auch reservierten Empfang.

Unterdes kam die Weser an. Sie hat eine gute Figur, nicht zu dünn, nicht zu dick, und ist ein niedliches, etwas kokettes Frauchen. Der König ging ihr ein paar Schritte entgegen und begann augenblicklich das Lied „An der Weser“ zu summen:

„Hier hab‘ ich so manches liebe Mal

Mit meiner Laute gesessen —“

Hoben särr scheene Stimme, Herr König“, sagte der Pregel anerkennend und setzte leiser hinzu, indem er auf die Weser hinwies: „Ise wohl bissei Pussade von Ihnen?“ Ein strafender königlicher Blick traf ihn. „Madame ist meine Nachbarin, Herr Baron!“ Der Pregel kicherte.

„Nachbarin is gutt gesagt; sag‘ ich ooch immer!“ „Herr Baron, ich verbitte mir das!“ „Nu aber“, machte der Pregel gemütlich, „kleiner Späßchen unter uns Männern …“ „Hören Sie, Herr König“, setzte er hinzu, als draußen plötzlich ein wildes Schellengeläut ertönte, „kummt Weichsel, verrückte Schachtel! Kenn‘ ich! Is meine Nachbarin!“ Auf einer Troika jagte die Weichsel in wilder Fahrt daher. Sie selbst regierte die drei feurigen Hengste und knallte ihnen die lange Peitsche um die Ohren. Ein schönes, rassiges Weib. Die schwarzen Haare flatterten wirr um das gerötete Gesicht, die Augen blitzten in jagellonischer Lebenslust. Eine von den Fruchtbaren und Starken, die ihren eigenen Willen haben. „Tag, Vetter!“ sagte sie, als sie vom Wagen sprang, und gab dem Pregel einen Nasenstüber, der sich dafür mit einem Klaps auf ihren Pluderrock bedankte.

„Tag, Vetter!“ wiederholte sie; „ist die langweilige Blase schon beisammen?“ „Die meisten sind schon da!“ antwortete der König, der unvermutet herantrat. „O pardon, Majestät waren natürlich —“ „Ich war natürlich nicht gemeint“, fiel ihr der Rhein lächelnd ins Wort, betrachtete mit Wohlgefallen die gesunde, blühende Frau und reichte ihr den Arm.

Die Elbe und die Weser sahen das Paar daherschreiten und zischelten.

„Majestät sind heute sehr herablassend“, sagte die Elbe.

„Ja“, sagte die Weser neidisch. „Mich wundert das. Sie ist doch eine halbe Wilde.“ „Im großen ganzen sieht sie ganz schick aus“, meinte die Elbe, die immer krampfhafte Versuche macht, unparteiisch zu sein. „Schick — na ja“, sagte die Weser gedehnt; „aber man merkt ihr doch Krakau und Warschau an. Sehen Sie nur, wenn sie das Kleid rafft, sieht man, daß die Kante ihres Jupons zerrissen ist.“

Da kam der Pregel heran. „Gnädige Frau“, sagte er zur Elbe, „sehen Sie, dort im Winkel steht Memel. Ise sähr braves Mädel, spricht sich bloß nich so flink hochdeutsch wie ich und Sie. Nähmen Sie sich bissel armes Ding an.“

„Herr Baron, ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie mich auf meine Hausfrauenpflichten aufmerksam machen“, sagte die Elbe verärgert. „O bitte sähr“, erwiderte der Pregel harmlos, „tue ich gäm, tue ich immer. Wenn ich weiter auf wichtiges Ding aufmerksam machen darf: haben vielleicht Gnädigste Gläschen Wudka zur Hand?“

„Nein!“ sagte die Elbe scharf, „ich habe keinen Tropfen Branntwein im Haus.“ „Schade, Gräfin, sähr schade! Werd‘ ich Ihnen mal Fassel schicken.“ „Danke!“

„Bitte sähr, wird gäm geschehen; werd‘ ich bald anständiges Fuder schicken.“ Die Elbe wurde abberufen. Die vornehmste Dame des Abends erschien: die Donau. Sie wälzte die ungeheuren Massen ihrer Körperlichkeit in den Saal und ächzte ihren „Guten Abend“.

„Eigentlich entsetzlich“, sagte der Main zu seinem Kollegen; „die Dicke möchte noch angehen, wenn sie nur nicht so entsetzlich lang wäre.“

„Und ungebildet. Ganz ihrer Entwicklung gemäß. In Deutschland ein schmuckes, aber etwas tölpisches Bauernmädel, in Wien eine Operettenfigur, in Budapest eine reich gewordene, faule, fette Magyarin; die Balkanstaaten machen das Maß ihres fragwürdigen internationalen Personale voll. Ihr Ruf ist nicht ganz fein.“ Die Donau kam näher. Da beeilten sich die beiden Junker, der „hochverehrten gnädigen Frau Tante“ mit inbrünstiger Verehrung die Hand zu küssen. ‚

,,No“, sagte sie gemütlich, ihr Jüngelchen, habt’s etwa wieder a bisserl schandiert auf mich von wegen meiner Figur?“

Der Main wurde rot, der Neckar übersprudelte sich in gegenteiligen Versicherungen.

„No, ich kenn‘ euch schon“, fuhr die Donau fort, „und dann habt ihr halt a bisserl d‘ Köpf z’sammengesteckt von wegen Budapest und Bolkon. Ihr armen Hascherl, gelt, das is zum Giften, daß ihr da unten nit mitmachen könnt?“

Sie lachte mit ihrem großen schönen Mund, der herrliche Zähne aufwies.

„Um auf was anderes zu kommen“, fuhr sie weiter fort, „ich hab‘ a fein’s Sprücherl auf die Elbe gehört. Das wird euch Freud‘ machen.

Paßt’s auf!

Warum ist denn die Elbe

Bei Dresden so gelbe?

Se schämt sich ze schände,

Sie muß aus’m Lande,

Aus’m Lande so scheene,

So niedlich und kleene;

Denn gleich hinter Meißen,

Pfui Spinne, kommt Preißen!“

Die beiden Junker lachten, daß sie krebsrot wurden, und die Donau lachte, daß ihre Riesenfigur schüttelte und wackelte. Da fuhr in die Fröhlichkeit eine zornige Stimme hinein: „Was hoben gnädige Frau gesagt über Preißen? Hoben gnädige Frau „Pfui Spinne!“ gesagt? Möcht‘ ich mir gehorsam verbitten oder kriegen eine in Maul!“ Die Donau war entsetzt.

„Wer ist denn dieser grausliche Flegel?“ keuchte sie.

„Baronn Pregel“, stellte sich dieser vor. „Pregel,

nich Flegel: Prrr—egel!“

Die Donau gewann ihre Fassung wieder.

„Ja, so, also Pr—egel, net Fl—egel. No, die klane Verwechslung kann einem bei Ihnen schon leicht passieren. Ich kenne Sie übrigens vom Hörensagen. Wenn’s nach Haus kummen, grüßen’s Ihre Schweine.“

„Danke!“ sagte der Pregel, „und wenn Sie nach Haus,kummen, grüßen’s Ihre Tochter, wos heißt in ganzer Welt ,Sau‘.“

Der Main wandte sich ab. Er war zu gebildet, um diese rauhe Aufrichtigkeit zu vertragen. So zog er ein Büchlein aus der Tasche, das er aus Frankfurt mitgebracht hatte: „Eckermanns Gespräche mit Goethe“, und begann zu lesen. Das war eine andere Konversation!

Inzwischen wurde zu Tisch gebeten. Es gab:

1. Hamburger Aalsuppe.

2. Als Hors d’oeuvres: Gefüllte Schnecken, Froschkeulen, Fisch mit Muscheln.

3. Schleie blau.

4. Weiße Rüben mit Hecht.

5. Wilde Ente gedämpft.

6. Krebs-Pudding.

Als der französische Sekt gereicht wurde, trank der Pregel der Oder zu und sagte: „Prosit, Muhme! Weiß ich, daß ist französischer Sekt in Deutschland immer gemacht aus Grün-berger Wein. Gratulier‘ ich dir zu edles Gewächs!“

So recht „gemütlich wurde die Stimmung nicht, obgleich die Donau  Sehr viel aß, der Rhein sehr Viel trank und der Pregel sehr viel unpassende Bemerkungen machte.

Nach dem Essen trieben die Herren Politik. Sie sprachen natürlich über die Schiffahrtsabgaben. Die Damen prahlten, mit wieviel Brückenbändern ihre Röcke gebunden seien. Von der Weser, deren Leib sichtbar auf Werra und Fulda steht, wurde behauptet, sie trüge einen Hosenrock. Die Weser nickte geschmeichelt und erklärte, in Bremen sei sie „deswegen“ sogar schon viel angepöbelt worden. Der Rhein hatte sich nach und nach in eine melancholische Stimmung hineingetrunken. Er seufzte tief und sagte:

„Meine herrlichen grünen Berge! Der Wurm und die Rebläuse vernichten ihren Reichtum und mein Glück.“

Sofort nahte der Pregel, der auch schon längst nicht mehr nüchtern war, und sagte teilnehmend: „Hast du Lause, Bruder Rhein? Mußt du nicht flennen! Hob ich auch! Hob ich viel: Mußt du knicken oder laufen lassen —wie trefft!“ Der Rhein hatte auf diese tröstenden Worte nicht gehört. Er fuhr in düsterer Selbstachtung fort:

„Jahrtausende sah ich an meinen Ufern ein frohes, reiches, herrliches Volk. Wenn aber meine Berge veröden und wenn — was Gott verhüte! — in trüber Zeit einmal auch meine Maschinen stille ständen, was dann? Wir würden in Herz und Beutel arm!

Dem Pregel wurden die Augen feucht, als er den König der deutschen Flüsse so im Schmerz sah. Und er sagte treuherzig:

„Mußt du doch nicht flennen, Herr König. Bist du mal in Not, pump‘ ich dir eines! Hob ja nicht viel, aber hob ich doch immer was in Sparkassenbüchel. Schick‘ ich dir Holz und Getreide, schick‘ ich dir auch Fassel Wudka für Pläsier deiniges!“

Da umarmte der Rhein den groben, gesunden, gutmütigen Gesellen und rief:

„Pregel, du bist ein braver, lieber Kerl!“ Und der Pregel wischte sich die Nase und die Augen und sagte:

„Mußt du nicht sagen, Herr König, schäm‘ ich mich sonst!“

*

Es war tief in der Nacht. Die letzten Gäste waren gegangen. Da legte sich die Hausherrin, die Elbe, in ihrem breiten weichen Bett zur Ruhe. Glückliche Worte murmelte sie für sich hin. Ein buntscheckiges Völklein hatte sie zu Gaste gehabt. Jede Person eigenartig, jede ein wenig Eigenbrödlerin. Und immer die Lust, sich zu necken, ja ein wenig zu befehden. Das ist so die Mode selbständiger Herrschaften. Und doch —wäre etwa an dem Abend eine fremde Persönlichkeit stolz oder gar anmaßend und feindlich in die Gesellschaft hineingefahren, sie hätte sich einer rechten und echten Familie gegenübergesehen. Das hatte der König zu Frau Elbe gesagt. Er hatte sogar gesagt: „Und den Pregel laden Sie ja immer ein! Der gehört zu uns!“ So war die Hausfrau glücklich, daß alles gut angelaufen war. Wohlig dehnte sie ihre Glieder in ihrem breiten weichen Bett und schlief ein. Und zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken, in Ostelbien und in Westelbien, schliefen brave Kinder.