Der Vogelpastor

VON WALTHER OTTENDORFF-SIMROCK

Viele, die diese Zeilen lesen, haben den merkwürdigen Mann noch gekannt. Wohl jeden Tag war er im Kurpark von Bad Neuenahr zu sehen. Er trug einen großen dunklen, meist schwarzen Hut, und der wirkte wie eine Lockscheibe auf das liebe Vogelvolk in Baum und Strauch, auf Wiese und Weg. Der wunderliche Mensch kam seines Weges gegangen, da flogen die Vögel ihm auch schon entgegen und flatterten um ihn her, sie setzten sich auf seine Schultern, verweilten dort und hüpften dann hinauf, mitten hinein in die breitrunde Mulde des pastoralen Hutes. Meist gab es ein unbrüderliches Gezänk dort droben, ein Gezwitscher und Gezwatscher, ein Schimpfen und Drohen und dann ein sieghaftes Frohlocken. Denn die Sieger hatten ihr Ziel erreicht:

drinnen in der flachen Tiefe des großen Hutes lag ein großer Dosendeckel, und darin häufte sich das Futter, Körner und andere Leckerbissen, welche die Vögel lieben, die Meisen und Finken, die Rotkehlchen und wie sie noch heißen, die vielen Sänger im Kurpark zu Bad Neuenahr. Doch auch die Spatzen seien nicht vergessen, denn der Vogelpastor mochte sie nicht weniger gut leiden, und er war der Armut ihrer Gassenjungenstimmen nicht weniger hold als dem gepflegten Tirili der übrigen Vögel. Sie kamen und nahmen und flogen wieder weg, um schnell wiederzukehren und sich von neuem am absonderlichen Tisch zu laben. Da sie nun keinen „Knigge“ gelesen hatten, ja nicht einmal das simpelste Anstandsbuch, benahmen sie sich manchmal recht freizügig, und dann gab’s weiße Kleckfleckerchen. Doch der Vogelpastor im rheinischen Bad Neuenahr dachte akkurat wie Eduard Möricke, der gutherzige Dichterpfarrer aus dem schwäbischen Cleversulzbach, der in seiner Idylle, dem „Alten Turmhahn“, schmunzelnd sagt:

„Lieb deucht mir jedes Drecklein itzt,
damit ihr ehrlich mich beschmitzt.“

So viele Kurgäste auch das Schauspiel erlebten, nie hat einer gespöttelt: Gebannt hingen die Blicke der Großen und — wie von einem Märchen verzaubert — die Augen der Kinder auf dem seelenguten Mann und seinen Tieren. Lief doch hier eine magische Szene ab: Mensch und Tier waren, geschwisterlich einander zugetan. Keiner von denen, die an jenem Tag dabei waren, als wohl ein halbhundert Vögel den Mann umflatterten und sich auf seinen Schultern, den Armen und dem großen Hut niederließen, wird jemals den Ausruf des italienischen Kurgastes Guiseppe Vannero vergessen können:

„U Santo . . . Francesco!“ — Dem Minnesänger,* Herrn Walther von der Vogelweide, hat man im Lusamgärtlein zu Würzburg einen Stein gesetzt, Trink- und Futter-mulden sind darin für die hungrigen Vögel eingelassen. Wer weiß: vielleicht wird der Kurgast eines Tages im Park des Bades Neuenahr eine dunkelsteinerne Tränke finden, die einem weitmuldigen Pastorenhut gleicht. Vielleicht wird man darauf den Namen des Tierfreundes lesen, der Paul von Spankeren hieß, den so viele Freunde des Bades jedoch nur mit dem Namen nennen: Der Vogelpastor von Neuenahr.