Anno 1874… Aus dem Bad Neuenahrer Hurleben
VON WALTHER OTTENDORFF-SIMROCK
Im Juli 1874 schreibt die russische Fürstin Gortschakow, Kurgast in Bad Neuenahr, an ihre Freundin Marfa, die Gemahlin des Generalleutnants Seljinski, einen Brief, der in einem späteren russischen Reisebuch veröffentlicht wurde. Darin heißt es: „Nirgendwo auf solch engem Raum begegnen sich so viele ungleichartige, jedoch fast immer interessante Leute, oft faszinierende Persönlichkeiten, wie in einem Badeort. Als ich, um nur ein Beispiel zu erzählen, heute zum Brunnen ging, traf ich auf dem Wege einen spanischen Maler, der mit der aristokratischen Grandezza eines kastilianischen Hidalgo seinen verbeulten Schlapphut vor mir schwenkte. Kaum, daß ich das Lachen verbissen hatte, grüßte mit preußischem Schneid ein Prinz aus einem der mitteldeutschen Geschlechter; gleich hinter ihm wandelte ein steif-feierlicher dänischer Pastor, ein struppiges Wesen, das mich lebhaft an einen sibirischen Popen erinnerte …“ Daß die russische Fürstin richtig geurteilt hat, im Badeort begegne man „vielen ungleichartigen, jedoch fast immer interessanten Leuten“, das weiß jeder Kurgast, der nicht gerade mit verbundenen Augen seine Promenade macht. So war es damals — so ist es, freilich unter gewandelten sozialen und wirtschaftlichen Aspekten, auch heute. Blättern wir einmal zurück ins vorige Jahrhundert! Ein alter Faszikel, dessen Pappeinband einige Stockflecken aufweist, liegt in meiner Hand. „Cur- und Fremdenliste des Bades Neuenahr, 1874″ liest man auf der vergilbten Etikette. In nur siebzehn Ausgaben ist das von den damaligen Gästen des jungen Heilbades im Ahrtal jeden Samstag mit einer gewissen Spannung erwartete Blättchen der „Actien-Bade-Gesellschaft“ erschienen; die erste Nummer trägt das Datum „23. Mai“, die letzte ist vom 3. Oktober datiert.
Der schmale Band, wie auch die anderen Jahrgänge der „Kur- und Fremdenliste“ aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, sind für den familien- und kulturgeschichtlich Interessierten eine wertvolle Fundgrube. Er findet nämlich hier, von einer wohllöblichen Direktion gewissenhaft und für alle Zeit festgehalten, die Namen der in den verschiedenen Hotels und Gästehäusern neu angekommenen „Curfremden“ (so der damalige terminus technicus für willkommene Besucher). Auch Beruf und Heimatort sind registriert, bei Familien auch die Personenzahl. Um der Wißbegier aber vollends zu genügen, veröffentlichte man — „mit kleiner Schrift gedruckt“ — auch noch die Namen der schon länger im Kurort weilenden Gäste. So erfährt der Leser zu seiner Genugtuung, daß Seine Hoheit der Herr Landgraf von Hessen nebst Adjutant und Dienerschaft im renommierten „Bade- und Curhotel“ abgestiegen ist. Als Sterne zweiter Größe führt die Kurliste sonstige Angehörige des Hochadels, Diplomaten und Spitzen von Verwaltung und Justiz auf. Man verneigt sich im Geist vor den Trägern von Diensträngen, wie „Oberappellationsgerichtspräsident“ oder „Wirklicher Geheimer Vortragender Rat“, und nimmt mit Interesse die Anwesenheit von Oberbürgermeistern, Königlich Preußischen Landräten und Herzoglich Badischen Oekonomieräten zur Kenntnis. Es schnarrt nur so von Titeln, wenn sich die Exzellenzen und würdegezierten Behördenchefs an der Table d’hote, am Brunnen oder im Park begegnen. Auf gleicher Stufe stehend, sie aber an Geld übertreffend, sind die Herren Rittergutsbesitzer aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern und Schlesien. Zahlreiche dieser Großagrarier fügen ihren Namen auch noch den Titel eines „Kammerherr“ bei, und damit die Kur-und Fremdenliste selbst hier noch deutliche Unterscheidungen machen kann, läßt man vermerken, daß man Kammerherr eines Königs oder einer Königin, eines Prinzen oder einer Prinzessin ist.
O diese Titelsuoht, die vor allem nach 1871 •wuchert! Im Gegensatz zu den staatlichen Würdenträgern bezeichnen sich die Pioniere der immer mächtiger werdenden westdeutschen Wirtschaft, des Kohlenbergbaus und der Eisenindustrie, des Binnenhandels, der Rheinschifffahrt und des Bankwesens, Männer wie Harkort, Kirdorf, Guilleaume, Kannengiesser, Rothschild und viele andere schlicht als „Kaufmann“, allenfalls als „Fabrikant“ oder „Bankier“. Auch die Ausländer, die schon bald nach Gründung des Bades in ständig wachsender Zahl Bad Neuenahr aufsuchen, sind im allgemeinen gegen die „Titelei“ immun. Sie treten als „Mr. and Mrs. Makintosh“, als „Mons. et Mme. Neuville“ auf. Und gehören sie der ausländischen Hocharistokratie an, so erscheinen sie in der Kurliste mit meist nur kurzgestrafftem Titel: Prinz, Herzog, Lord, Fürst und Graf.
Die Trinkhalle in Bad Neuenahr um 1870
Repr.: Kurverwaltung Bad Neuenahr
Professor Peter Cornelius nach einem zeitgenössischen Bild
Und wie stand es damals mit der species „homo sine titulo“, mit den Bürgern, die keinen oder keiiien besonders illuminierten Titel vorweisen konnten? Gewiß, nicht wenige von ihnen mochten sich durch die gleichzeitige Anwesenheit hochgestellter Persönlichkeiten, die dem Badeleben Farbe und Glanz verliehen, in ihrem eigenen Wert als Kurgast bestätigt, wenn nicht gar gesteigert sehen. Schwellte nicht eine Art Hochgefühl des Bürgers Brust, wenn Seine Exzellenz der Herr Staatsminister von Soundso ihn beim Spaziergang auf der Promenade eines leutseligherablassenden Kopfnickens würdigte! Die meisten, von ihnen aber traten nicht weniger selbstbewußt auf als die Kurgäste aus der gesellschaftlichen Oberschicht. Und dafür liefert uns der Brief der Fürstin Gortschakow einen ausgezeichneten Beweis: „ .. . was nun die Bürger betrifft, die diesen schönen Badeort besuchen, sie sind voll gepflegter Wohlerzogenheit, höflich, ohne zu dienern, wie es die Petersburger Bürger allzu häufig tun. Und. ihre Bildung ist so groß, daß sie einen hervorragenden Platz in unserer Gesellschaft einnehmen könnten“.
Auch heute, beinahe hundert Jahre später, ist das Interesse an der Bad Neuenahrer Kur- und Fremdenliste nicht erlahmt. Mit der gleichen Neugier suchen Herr Meyer und Frau Schmidt ihren Namen in der Liste, ein Beweis dafür, daß sich in diesem Punkt die Mentalität der Kurgäste nicht geändert hat.
Aber — blenden wir wieder zurück: Das Gesicht von Bad Neuenahr und seinen Gästen „anno 1874″ wäre nicht vollständig gezeichnet, wollte man nicht auch des einen oder anderen zur Kur weilenden Künstlers gedenken. So notiert die gewissenhafte Kur- und Fremdenliste unter dem 15. August 1784 einen bekannten Musikernamen : Professor Peter Cornelius aus München, mit Familie abgestiegen im Hause der Frau Kreisbaumeister Clotten, der heutigen „Villa Sibilla“, Oberstraße 21.
Einige kurze biographische Hinweise dürften erwünscht sein: Peter Cornelius wurde 1824 in Mainz geboren; er war ein Neffe des berühmten Malers Peter von Cornelius. Früh ergriff ihn die Liebe zu Musik und Dichtung mit gleicher Stärke. Franz Liszt, der ihn in seinen Weimarer Schülerkreis aufnahm, wies den Weg, auf dem sich die Doppelbegabung des jungen Cornelius voll entfalten konnte. Als Dichtermusiker schuf er damals seine ersten Lieder, und wenige Jahre später entstand sein Meisterwerk „Der Barbier von Bagdad“. Es sprudelt in dieser vergnüglichen Oper von überwältigender Komik und geistreichem Spiel. Gemütvoller Frohsinn lächelt über die Schwächen der Menschen, lächelt in Wort und Ton, auf der Bühne und im Orchester. Von dem bezwingenden Einfluß Richard Wagners, dem er 1865 nach München folgte, auf dessen Vorschlag er einige Jahre später — freilich nur ungern — einen Ruf als Lehrer der Harmonielehre und Poetik an die Königliche Musikschule annahm, machte er sich mehr und mehr frei. Seiner nicht heroisch, sondern lyrisch geprägten Musikalität verdanken wir eine Reihe von Liederzyklen, darunter die zarten „Brautlieder“, die stimmungsvollen „Weihnachtslieder“ und die lebensfrohen „Rheinischen Lieder“. Auch als Verfasser von zwei Gedichtbänden und als Übersetzer des polnischen Nationaldichters Adam Mickewicz bewies Cornelius seine Doppelbegabung.
Volle sieben Wochen verbrachte der Komponist in Bad Neuenahr; noch die letzte Ausgabe der Kurliste vom Oktober vermerkt seine Anwesenheit. Täglich konnte man dem Mann mit dem feingezeichneten Kopf mehr eines Gelehrten als eines Künstlers im Kurpark begegnen; mancher verehrende Blick und achtungsvolle Gruß wurde ihm zuteil.
Die Kur in Bad Neuenahr hatte sich auf die jahrelang verschleppte Zuckerkrankheit zwar günstig ausgewirkt, jedoch starb Peter Cornelius überraschend am 26. Oktober 1874 in Mainz, wo er auf dem Friedhof neben dem Vater seiner Frau Bertha Jung zur Ruhe gebettet wurde. Allzufrüh verließ der erst Neunundfünfzigjährige diese Welt. Seine Liedschöpfungen und der köstliche „Barbier von Bagdad“ halten seinen Namen bei allen Liebhabern guter Musik in lebendiger Erinnerung.