Erhaltung und Gestaltung des Brauchtums
Erhaltung und Gestaltung des Brauchtums
VON PETER WEBER
In der Vergangenheit überwiegend und zu einem gewissen Teil auch noch in der Gegenwart zählte bzw. zählt das bäuerlich-dörfliche Brauchtum zu den mitgestaltenden Faktoren des Dorflebens. Die Entwicklung jedoch, ob im Rahmen des technischen Fortschritts oder der Verwaltungsreform, schafft in unseren Dörfern neue Situationen, die auch das Brauchtum in mannigfacher Weise berühren. Zunächst einmal wird die Frage „Wer wird sich um das Brauchtum kümmern?“ mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Hier bahnen sich Entwicklungen an, die man heute schon einkalkulieren sollte, um nach Möglichkeit das wertvolle Brauchtum für die Zukunft zu erhalten. Zwar sollte man nicht um jeden Preis alles Überkommene kritiklos übernehmen. Man sollte meines Erachtens prüfen, welchen Sinngehalt es hatte und ob dieser dem Menschen von heute noch irgendwie etwas bedeutet, oder ob man heute noch eine Beziehung in unserem Dorfleben dazu Herstellen kann. Hierzu sind Kenntnisse im allgemeinen und im besonderen des Brauchtums einer Landschaft oder eines Dorfes erforderlich. Eine weitere Frage ist: Wer soll und kann sich in dem Dorf von morgen um die Pflege des Brauchtums kümmern? Wer ist Träger, Gestalter oder Bewahrer dieses zu erhaltenden Brauchtums?
Nach einer Umfrage in 13 Dörfern der ehemaligen Verbandsgemeinde Antweiler in den Jahren 1957 und 1969/70 entschieden sich von 100 Befragten verschiedenen Geschlechts, Alters und verschiedener Berufszugehörigkeit die meisten für folgende Einrichtungen bzw. Träger: Gemeinde, Schule, Pfarrer, Lehrer, Kirche, Vereine und Kombinationen der vorgenannten. So die eindeutige Meinung der Befragten in den angegebenen Jahren. Es hat sich nichts geändert in den Vorstellungen der Bevölkerung innerhalb von 12 bis 13 Jahren, wenn es um diese
Frage geht Anders geworden ist allerdings die Situation des Dorfes und seine heutige Bedeu- . tung in Kirche, Schule und Gemeindeverwaltung.
Im Zuge der Umstrukturierung der Wirtschaft und des Rückgangs der Landwirtschaft geht der Anteil der Landwirte an der Einwohnerzahl ständig zurück. Es gibt kaum noch reine Bauerndörfer. Die Verwaltungsreform schafft neue Verwaltungsbezirke und räumliche Strukturen. Daraus ergeben sich auch Folgerungen für das Brauchtum. Technik und Fortschritt werden weiter zunehmen und das Dorfleben verändern. Was den Einfluß der Kirche anbelangt, steht eindeutig fest, daß er mehr und mehr verlagert wird.
Für die Schulen sieht es ähnlich aus. Im Züge der Entwicklung zur Gesamtschule wird mehr und mehr die Mittelpunktschule in den Vordergrund rücken. Es geht bei diesen Überlegungen allerdings nicht um das Für und Wider der schulischen Neuorientierung und -gliederung. Bei diesen Überlegungen geht es einzig und allein darum, wie der Einfluß der Dorfschule auf das Brauchtum des Dorfes und seine Gestaltung in Zukunft sein wird. Hinzu kommt die Lehrerfrage. Die Lehrerausbildung ist spezifizierter geworden, die Stellenbesetzung flexibler, und in vielen Dörfern ist bald kein Lehrer mehr zu Hause. Alle diese Veränderungen werden auch auf das Brauchtum ihre Auswirkungen haben. Deshalb kann man mit Recht fragen, was bleibt übrig von den Kräften, Einrichtungen u. a., die sich nach Aussage der Befragten maßgeblich um die Erhaltung und die Gestaltung des Brauchtums kümmern sollen?
Wie sieht es mit dem nächstgenannten Faktor aus, den Gemeinden?
Die Gemeinden werden zusammengelegt und manches Dorf wird „mitverwaltet“. Also fehlt, so fern es sie gab oder geben könnte, die mit-gestaltende Kraft der Gemeindeverwaltung. Außerdem bin ich der Meinung, daß eine Gemeindeverwaltung mehr beratend und finanziell das dörfliche Brauchtum unterstützen sollte. Es kommt natürlich, wie bei Pfarrern, Lehrern, Bürgermeistern, Ratsmitgliedern u. a. immer wieder auf die Persönlichkeit, ihre Neigungen und Fähigkeiten an. Es kann also in Ausnahmefällen sehr wohl der Fall sein, daß solche Personen entscheidend, im positiven wie im negativen Sinne, auf diesem Gebiet ihren Einfluß geltend machen.
Was übrigbleibt von den genannten Kräften, sind die dörflichen Vereine. Sie wenden auch, bei allen Änderungen und Entwicklungstendenzen, in Zukunft ihre Rolle im Dorfe spielen. Und ich möchte sagen, daß gerade ihre Bedeutung auf diesem Sektor weiter wachsen wird. Hier sollte man von allen Seiten und der Aufgabe wegen, die Vorsitzenden und Vorstände anregen, auf dem Gebiete des Brauchtums heute und morgen eine führende Rolle zu übernehmen. Das setzt meines Erachtens voraus, daß man für die Schulung, den Einblick in die Heimatgeschichte und das Brauchtum Sorge trägt. Das Gleiche gilt übrigens auch für die gesamte Bevölkerung. Auf diesem Gebiete ist noch manches zu tun, und das Interesse ist gar nicht gering, was diesem Medium entgegengebracht wird. Man kann sehr wohl diese Dinge in ein Bildungsprogramm, eine Vortragsreihe oder als Sonderveranstaltung in das kulturelle Programm eines Jahres und Dorfes unterbringen. Deshalb müssen die Vereine in dieser Richtung unterstützt und gefördert werden. Wer wird sonst in Zukunft Träger und Erhalter, Gestalter und zeitgemäßer Interpret des uns überlieferten Brauchtums sein? Betrachten wir die Fremdenverkehrsorte. Hier wird der Gaste wegen mit allen Mitteln Brauchtum zu erhalten und zu gestalten versucht. Wenn Initiative vorhanden ist, dann kann also eine Wiederbelebung und Erhaltung möglich sein.
Gar mancher fragt sich allerdings heute, ob es noch einen Sinn hat, rückwärts zu schauen und „den alten Kram“ zu erhalten und zu gestalten. In der Zeit der Mondflüge und Computer ist diese Frage sicherlich berechtigt. Damit kann man den Kampf um die Zukunft nicht gewinnen. Physik, Chemie und Raumfahrt beherrschen die Szene. Doch fragt man sich, wer hat uns denn geformt und geprägt, warum sind Dörfer und Menschen in den Landschaften zur gleichen Zeit so verschieden? Diese Vergangenheit, deren Kinder wir in gewissem Sinne sind, hat uns mitgeformt und mitgeprägt, wir haben Teil an ihr. Allein deshalb sollte man sie nicht achtlos beiseite schieben. Wie arm wären wir, würden wir nicht mehr die Beziehung der Dinge zueinander erkennen und berücksichtigen. Wie trostlos wäre es, gäbe es nur mathematische Formeln ohne Gefühl und reine Sachlichkeit. Wir erleben doch schon heute, wie im technischen Zeitalter die Technik mit Riesenarmen nach uns greift. Wenn wir das Vergangene restlos zurücklassen, werden wir ärmer sein — und einsamer. Wir sollen uns eingebettet fühlen in eine große Ordnung und Entwicklung, die auch Glaube, Sitte, Brauch, Tradition und, so meine ich, den Herrgott einschließt. Nur so wird der Mensch auf die Dauer vor sich und in der Gemeinschaft bestehen.
Ich will zweifellos dem Brauchtumsrummel nicht das Wort reden. Aber sinnvolles Brauchtum in neuen, zeitgemäßen Formen zu erhalten, sollte ein Anliegen aller Dorfbewohner und der maßgebenden Persönlichkeiten in der Verwaltung unseres Landes sein.