Die Vesperbilder von Gelsdorf und Unterkrälingen
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Die Vesperbilder von Gelsdorf und Unterkrälingen
VON DR. HEINRICH APPEL
Foto: Kreisbildstelle
Vesperbild in Gelsdorf
Als Vesperbilder bezeichnet man in der Kunstgeschichte Darstellungen der Schmerzensmutter Maria, die den zerschundenen Leichnam ihres Sohnes, bevor er ins Grab gelegt wird, wie in seiner Kindheit auf ihren Schoß nimmt und sich der Trauer überläßt. Die Szene entspricht nicht einem biblischen Vorgang, der in den Evangelien berichtet wird, sondern einer Vision. In der „Maricnklagc“ oder „Pieta“ erlebt der Gläubige, der sich in den Vorgang versenkt, eindringlich das Ausmaß des Leidens, das durch den Tod am Kreuz über den Menschensohn und seine Mutter hereingebrochen ist. Als Andachtsbilder dienten die plastischen Bildwerke, ob groß oder klein, diesem Ziel, und da solche Übungen in die Abendstunden verlegt wurden, bürgerte sich die Bezeichnung „Vesperbilder“ für sie ein.
Ihre Verbreitung ist unübersehbar. Seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert hat auch das Rheinland seinen Anteil an der formalen Gestaltung geschnitzter und gemeißelter Vesperbilder aus Holz oder Stein. Nachdem das Thema in die Kunst eingeführt war, fehlte es nicht an Meistern und Bildhauerwerkstätten, die sich schöpferisch mit dem neuen Bildinhalt auseinandersetzten oder bestrebt waren, einen einmal geprägten Vesperbildtypus formal abzuwandeln, wenn nicht gar serienmäßig zu verbreiten, Die kunstgeschichtliche Forschung hat sich daran gewöhnt, die auf uns überkommenen Plastiken, die ja nur in äußerst seltenen Fällen einen Künstlernamen oder ein Entstehungsdatum urkundlich überliefern, in eine zeitliche Ordnung zu bringen und Gruppen miteinander verwandter Bildwerke heraus- und zusammenzustellen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß man heute trotz aller eingetretenen Verluste den künstlerischen Weg der Vesperbildgestaltung etwas besser Übersicht als in den Anfängen dieser Untersuchungen. Mithin läßt sich auch über die erhaltenen mittelalterlichen Vesperbilder des Kreises Ahrweiler, die der Titel unseres Beitrages erwähnt, etwas mehr aussagen, als dies noch vor Jahren möglich war.
Foto: Landeskonservator Rheinland
Vesperbild aus Mariawald
Die 90 cm hohe holzgeschnitzte Gruppe der Pfarrkirche St. Walburgis in Gelsdorf (Abb. 1) nimmt unter den Vesperbildern des Kreises zunächst dadurch eine Ausnahmestellung ein, daß Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, mitleidend neben Maria Platz genommen hat. Er, der sich schon unter dem Kreuz der ohnmächtig zusammenbrechenden Mutter angenommen hatte, schiebt behutsam seine Hand unter Kopf und Schultern des auf dem Schoß Mariens liegenden Toten, um dem leblosen Körper dort einen Halt zu geben. Auf diese Weise ist in Gelsdorf eine Figurengruppe von großer Innigkeit entstanden, die in der letzten Zeit noch dadurch gewonnen hat, daß sie ein Restaurator der staatlichen Denkmalpflege von der störenden Bemalung des 19. Jahrhunderts befreit und ihre ursprüngliche farbige Fassung freigelegt hat. Während sie bis zum Jahre 1967 in der Sakristei aufbewahrt wurde, hat sie seitdem am neuen Hochaltar eine würdigere Aufstellung gefunden.
Führt man gedanklich die um die Johannesfigur erweiterte Gruppe auf ihr eigentliches Thema, die Marienklage, zurück, so versuche man, auf die Art und Weise zu achten, wie der Bildhauer den formalen Gegensatz des nur notdürftig bekleideten, zum Skelett erstarrten Leichnams zur weichen Stoffülle des Mariengewandes herausgearbeitet hat. Maria ergreift mit der linken Hand den rechten Arm des Sohnes, damit er nicht, wie dies andere Pietagruppen tatsächlich zeigen, leblos herunterhängt. Gleichzeitig gewährt sie mit derselben Hand auch dem linken Arm Christi eine Auflage, so daß nun beide Arme parallel ausgerichtet sind, wodurch ein ausdrucksvoller Kontrast zur kurvenreichen, melodischen Faltenführung des Mariengewandes und zum welligen Saum ihres Kopftuches entsteht.
Der Verbreitung dieser, für den Bildschnitzer und seine Werkstatt charakteristischen Motive, die sich im Kreis Ahrweiler außer in Gelsdorf nur noch in der kleineren Marienklage in Unterkrälingen (Abb. 3) wiederholen, ist der Schreiber dieses Beitrages nachgegangen. Er hatte vorher ein rheinisches Andachtsbild untersucht, das die geschilderten Züge ebenfalls enthält und die obengenannten beiden Bildwerke offenbar angeregt hat, wenn nicht beide sogar derselben Schnitzerwerkstatt entstammen. Es ist das 52 cm hohe Gnadenbild der Pfarrkirche in Heimbach (Abb. 2) im jetzigen Kreis Düren, das aus der hochgelegenen Zisterzienserabtei Mariawald stammt, deren Anlage heute dem Trappistenorden gehört. Im Zuge der Säkularisation wurde das Andachtsbild im Jahre 1804 in die genannte, im Rurtal gelegene Heimbacher Pfarrkirche übertragen, wo es, m einen spätgotischen Antwerpener Schnitzaltar hineingestellt und von einem zeitgemäßen architektonischen Rahmen umgeben, noch heute als Wallfahrtsbild verehrt wird.
Ein Vergleich des Heimbacher Vesperbildes mit dem von Gelsdorf (Abb. 1) zeigt die Stilverwandschaft der beiden Bildwerke mit überzeugender Deutlichkeit. Während die Marienfigur in Gelsdorf die durch des Jüngers Beistand freigewordene rechte Hand klagend auf ihre Brust legt, stützt sie in Heimbach gerade mit dieser Hand Schulter und Haupt ihres gemarterten Sohnes.
Die Geschichte des Heimbach-Mariawalder Gnadenbildes läßt sich gut verfolgen. Man weiß, daß das Vesperbild älter ist als die erwähnte Abtei, die im Jahre 1486 gegründet wurde. Wie dies auch für andere Wallfahrtsstätten zutrifft, bot erst das Vorhandensein eines wundertätigen Bildwerks die Veranlassung zum Bau einer Kirche und eines Klosters. Es würde zu weit führen, die der Zisterziensergründung von Mariawald vorangegangenen örtlichen Ereignisse in ihren Einzelheiten zu schildern. Bemerkenswert ist, daß das hölzerne Bildwerk von einem Heimbacher Bürger in Köln erworben wurde und daß aus stilkritischen Gründen eine Entstehungszeit um 1440/50 angenommen werden muß.
Foto: Kreisbildstelle
Vesperbild in Unterkrälingen
Die Verbreitung solcher volkstümlichen Vesperbilder, die vielleicht durch den Ruhm des Gnadenbildes; von Heimbach-Mariawald eine Steigerung erfuhr, läßt sich im Raum südwestlich und südöstlich von Köln sowohl links- wie rechtsrheinisch verfolgen, also ebenso im Eifelraum wie im WesterwaId. Ich nenne die in meinen früheren Beiträgen abgebildeten Beispiele von Zülpich und Sinzenich im Kreis Euskirchen, von Süchterscheid im Siegkreis und von Neustadt im Kreis Neuwied. Vom Gelsdorfer Vesperbild unterscheidet sich die Neustädter Gruppe dadurch, daß zur Hegleitfigur des Johannes noch zwei weitere Personen, zwei heilige Marien, hinzugekommen sind, so daß hier eine vierköpfige Gruppe von Sitzfiguren den horizontal ausgestreckten Christusleichnam beweint. Die Übereinstimmungen in Tracht und Faltenstil mit Heimbach sind auch in diesem Bildwerk offensichtlich.
Als der Verfasser im vergangenen Jahre zum erstenmal die kleine Kapelle in Unterkrälingen in der Pfarrei Vischel unweit von Kreuzberg betrat, fand er zu seiner Verwunderung auf einer Konsole an der Nordwand die hier abgebildete 80 cm hohe holzgeschnitzte Pieta (Abb. 3), die in ihrer Anlage ebenfalls dem beschriebenen Heimbacher Typus entspricht.
Foto: Landeskonservator Rheinland
Vesperbild in der Pfarrkirche Sinzenich
Erst später merkte er, daß er mit seiner „Entdeckung“ nicht allein stand. Es war ihm gänzlich entfallen, daß ihm schon im Jahre 1964 Professor Dr. Joseph Ruthen in Kirchsahr nach der Lektüre seiner Beiträge im Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege, ein Farbfoto der Krälinger Pieta überlassen hatte, wofür ihm auch an dieser Stelle noch einmal gedankt sei. Zwar hat die Marienklage in Krälingen nicht die formale Geschlossenheit des Heimbacher Wallfahrtsbildes, doch zeigt ein Vergleich der für die Komposition entscheidenden Formen, daß die wesentlichen Züge des Gnadenbildes in der Nordeifel im Bildwerk des Kreises Ahrweiler wiederkehren, wenn sie auch verschliffener, glatter und infolge der dicken farbigen Fassung weniger ausdrucksstark in Erscheinung treten.
Vergleicht man mit der Gruppe in Krälingen wiederum eine weitere Variante in der Pfarrkirche St. Kunibert in Sinzenich (Abb. 4), so ergeben sich auch hier auffallende Gemeinsamkeiten. Zwar werden die Wellenlinien des Kopftuches Mariens in Krälingen teilweise vom Mantel der Schmerzensmutter verdeckt, was in Sinzenich nicht der Fall ist. Blickt man jedoch von hier aus wieder auf Heimbach zurück, so findet man auch dort das teilweise vom Mantel überschnittene Kopftuch wieder. Wenn außerdem das Heimbacher Bildwerk noch ein Brust- oder Halstuch erkennen läßt, das unter dem Kinn zusammengebunden ist, so wiederholt sich auch dieses Einzelmotiv in ähnlicher Weise in den Andachtsbildern von Zülpich und Neustadt (Kr. Neuwied). Auch der Zweifler wird den engen Stilzusammenhang der hier erwähnten Varianten einer auf eine bestimmte Landschaft, zurückgeführten Andachtsbildprägung nicht übersehen können. Man kann eine solche Untersuchung von Einzelmotiven, wie sie hier versucht wird, pedantisch und kleinlich nennen. Dem schöpferischen Vorgang wird sie gewiß nicht gerecht, doch läßt sie erkennen, wie es wohl lim die Mitte des 15. Jahrhunderts in einer rheinischen Bildhauerwerkstatt, die geschnitzte Andachtsbilder zu liefern hatte, zugegangen ist. Man begegnet in dem geschilderten Umkreis keiner geistlosen Serienherstellung einmal geprägter Typen. Dem verantwortlichen Meister war immer noch die Möglichkeit gegeben, kleine, nicht immer entscheidende formale Veränderungen durch Abwandlungen in Tracht oder Zahl der Begleitfiguren vorzunehmen, wie sie den jeweiligen Wünschen der Auftraggeber entsprachen. Für die Kunstgeschichte werden solche Feststellungen erst dann wichtig, wenn es gelingt, den kulturgeographischen Weg zu ermitteln, den gewisse Formbildungen im Mittelalter genommen haben, als es noch kein Urheberschutzrecht im heutigen Sinne gab. Die Wanderwege von Meistern und Gesellen mit eigenem oder unterwegs aufgenommenem Formengut waren ausgedehnter, als man es heute für denkbar hält. Auch der Import und Export von Kunstwerken zeigte bereits damals nicht zu unterschätzende Ausmaße.
Es ist daher kaum verwunderlich, daß der hier in seiner Besonderheit geschilderte Vesperbildtypus seinen Ursprung nicht im Rheinland, sondern in Schwaben hat, was sich an Hand erhaltener schwäbischer Beispiele gut belegen läßt. Wenn seine Nachwirkungen im Rheinland zeitlich nicht weit über die Mitte des 15. Jahrhunderts hinausreichten, so liegt dies daran, daß die um 1460/70 einsetzende niederländisch und süddeutsch beeinflußte Formensprache spätgotischer Plastik neue Formvorstellungen an die Stelle der alten setzte, ein Wechsel, der sich immer vollzieht, solange Kunst geschaffen wird.
Literatur
- J. Gebhardt, H. Neu, E. Renaurd u. E. Verbeck: Die Kunstdenkmäler des Kreis Ahrweiler. Düsseldorf; 1938, S. 252/253, 369.
- H. Appel: Die Vesperbilder von Heimbach und Drove. Jahrbuch d. Rhein. Denkmalpflege Dd. XXIII, Kevdaer I960. S. 259/71 mit Nachtrag im Jahrb. d. Rh. Denkmalpfl., Bd. XXIV, Kevelaer 1962, S. 181/84.
- Mariawald. Geschichte eines Klosters. (Herausgegeben von der Abtei.) Heimbach 1962, S. 15/54.