Vagabund an der Leine

Vagabund an der Leine

VON TONI EICH

Der bekannte österreichische Dichter K. H. Waggerl vollendet am 10. Dezember 1972 in Wagrain sein 75, Lebensjahr. — Er ist der letzte noch lebende Autor der „Insel“, deren gestrenger Chef, Anton Kippenberg, seit der Jahrhundertwende bis zur Vertreibung des Verlags aus Leipzig mit seinem untrüglichen literarischen Instinkt, — dabei die höchsten künstlerischen Ansprüche an jedes Werk stellend —, so viele Talente und Begabungen aufzuspüren verstand. Zu ihnen gehörte auch K. H. Waggerl, dessen Erstling „Brot“ im Jahre 1930 die Bewunderung dieses einzigartigen Verlegers fand. Er sagte damals dem jungen Autor voraus, daß er zwar nicht so berühmt wie Carossa werde, dafür aber volkstümlich. Nun hat das Werk Waggerls in vier Jahrzehnten, eine Gesamtauflage von über vier Millionen erreicht. Diesen Erfolg eines beharrlichen Wirkens, bar aller Förderung und Propaganda, hatte selbst der Spürsinn eines Anton Kippenberg kaum erwartet: Waggerl wurde dennoch berühmt!

Als der Chronist vor gut dreieinhalb Jahrzehnten dem beschaulich-heiteren Dichter: die Natur, die ländliche Welt und das in ihnen webende Leben auf dem Hintergrund seiner salzburgischen Heimat deutend, begegnete, empfand er die Gültigkeit der verheißungsvollen Worte, die der Dichter-Arzt Hans Carossa dem jungen Waggerl in den Jahren der Drangsal ermunternd zugesprochen hatte, daß er nämlich die Gabe besäße, Menschen anzusprechen.

K. H. Waggerl bei der Ehrung zum 70. Geburtstag in „Wagrain
Privatfoto

 Diese Worte seines großen Freundes gingen ihm ein, und K. H, Waggerl hat diese Gabe mit einer seltenen Innigkeit bis auf den heutigen Tag bewahrt. Tröstlich schwingt seine Dichtung ins Herz und ins Gemüt der Menschen in dieser ruhelosen Zeit. Wie nachdenklich und heiter zugleich vermag er mit seiner seelenvollen Sprache Mensch und Dinge und alles Leben in der Natur eigenwertig darzustellen. Zart wie das Gespinst seiner Scherenschnitte, duftig wie seine Aquarelle und grazil wie seine Handschrift mutet sein Sprachstil an, — so als wäre dem Stummsein der Natur und der Verschwiegenheit alles Kreatürlichen eine sanft klingende Stimme verliehen. Doch dieser Stil ist beileibe nicht ein Ausdruck von Schwäche, sondern der einer beharrlichen Innigkeit, deren Echtheit und Stärke sich weniger im Elementaren als in der beziehungsreichen Wiedergabe des Alltäglich-Unbedeutenden erweist. Sein Werk ist sparsam. Es entspricht ganz seiner Bescheidenheit, seinem Wissen um Maß und Wirksamkeit. — Da steht das Dorf urtümlich im Mittelpunkt. Es wird zur Welt, die sinnvoll, begreiflich und überschaubar ist. Der festgefügte Ablauf der Gezeiten des Jahres, das ewige Walten der Natur, das Überkommene in Gestalt religiöser Gläubigkeit und sinnreichen Brauchtums, geben dem Dorf das Beständige. Es wird zum Hort für den Menschen, zur Heimat. Die sinnbetonte Arbeit bringt Frucht: Eigentum, das den Geschlechtern Heimstatt und Zuflucht gewährt. Die Gesamtheit dieser ländlichen Welt bildet den Stoff, den Waggerl mit seiner lyrisch-warmen Sprache auf die hohe. Ebene kunstvoller Poesie erhebt. Göttliches und Menschliches, Natur und Dinge durchleuchtet er mit hintergründiger Nachdenklichkeit, umspielt von dem weisen Humor eines liebenden Herzens.

„Ich bin ein Vagabund an der Leine, immer unterwegs und doch mit einem dauerhaften Faden an meine Heimat geknüpft“, so sagt er über sich selbst. Und was die Heimat anbelangt: „Denn die Heimat ist das Bleibende, das Sichere, sie ist die Erbgnade für unser unseliges Geschlecht.“ Den Ewigkeitswert der göttlichen Natur umschreibt er gedankenvoll: „Städte wurden aufgebaut und erstickten wieder im Schutt, glänzende Reiche wurden gegründet, auch sie vergingen, Kaiser und Könige. Aber wenn der HERR wiederkäme, so fände er noch immer einen warmen Wiesengrund für die Nacht, eine Quelle unter Büschen, wenn ihn dürstete, oder einen vertrauten Baum auf dem Hügel, in dessen Schatten er sitzen und die Menschen seligsprechen könnte.“

Derlei Aussagen mögen hinreichen, im Rahmen dieser Heimatschrift das Werk des Dichters, wenn er auch nicht unserer Heimat zugehörig ist, zu würdigen. Denn er ist einer der letzten Poeten in dieser so närrischen Zeit, der noch Tröstliches zu sagen weiß.