Diagnose Kirschen-Kleptomanie
Aus dem „Berufs“-Leben eines Eifeler Dorfmedikus
Friedhelm Schnitker
An den Hängen des kleinen Tales gedieh einst ein ansehnlicher Wein, jedoch hatten Reblaus und andere Schädlinge den Rebstöcken arg zugesetzt. Die Winzer, des ständigen Kampfes mit den Schadinsekten müde,. warfen die Rebstöcke aus und pflanzten an deren Stelle Obstbäume an, und gerade diese stehen im Mittelpunkt folgender Geschichte, die mir als Gewährsmann ein nicht unbeteiligter, lustig-listiger Eifeler Dorfmedikus erzählte.
Es war an einem Sommertag in jenen Jahren, als Autos mangels geeigneterem Treibstoff noch mit Holzvergaserantrieb fuhren.
Auf allen Fluren der dörflichen Gemarkung herrschte ein ständiger, mit List und Ausdauer geführter Kampf zwischen den Jungen des Ortes und Flurhüter Willem. In diesem Kampf galten eherne Gesetze. Die Jungen erkannten Willems an Ort und Stelle ausgeübte Justiz, sofern er sie erwischte, ohne Murren an, als Ausgleich dafür verriet er ihre Taten nie an Eltern oder gar dem Dorfschullehrer.
Die Eltern bemerkten nur an gewissen Tagen eine spürbare Unruhe beim Sitzen an den Jungen. Ihre Ermahnung „Sitz ruhig bei Tisch!“ konnte wenig fruchten, was ihnen unerklärlich war und sie oft an ihren erzieherischen Fähigkeiten zweifeln ließ, den Jungen aber sehr einleuchtete. Hatte doch Willem, indem seine Hände, Dreschflegeln nicht unähnlich, jenen eigentlich zum Sitzen bestimmten Körperteil behandelt hatten, ihnen einige Dinge handgreiflich begreiflich gemacht. Manchmal auch mußten sie eine Regelung ihrer Freizeit durch Willem in Kauf nehmen, der ihnen dann auftrug, Obstkörbchen zu säubern oder zu reparieren.
An diesem schönen Sommernachmittag waren Ritter, Jupp und Henns wieder einmal auf der Pirsch, diesmal galt ihr Unternehmen den dunkelroten Herzkirschen ihres Erzfeindes Willem. Sie schienen ihnen die besten zu sein, eine Annahme, in der sie durch die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen noch bestärkt wurden. Das Grundstück, auf dem die Bäume mit den lockenden Früchten standen, hatte Willem mit hohem Maschendraht eingezäunt. Außerdem umgab es ein natürlicher Wall, der aus einem Gestrüpp von Brombeersträuchern und Weißdornhecken bestand. Nur einige von Kaninchen und anderem Wild angelegte Wechselpfade durchzogen diesen Gestrüppwald. Zielstrebig überwanden jedoch Pitter, Jupp und Henns kriechend und kletternd alle Hindernisse, im Nu saßen sie auf den Bäumen und ernter ten nach soviel saurer Mühe die süßen Früchte. Nur Henns war, durch erlittenen Schaden klug geworden, als Wachtposten aufgestellt worden. War er nun nicht wachsam genug gewesen öder hatte Flurhüter Willem einmal mehr sein Können im Anschleichen unter Beweis gestellt? Plötzlich hörten Pitter und Jupp den Dritten im Bunde schreien: „De Willem kütt.“
Zum Glück saßen die beiden gerade auf einem Baum, der unmittelbar am Zaun stand. Pitter sprang als erster hinunter und landete sanft, aber zerstochen, jenseits des Zauns •‘ im Brombeergestrüpp. Der lange, dürre Jupp aber, der nie genug bekommen konnte und doch nie dicker wurde, hatte sich in sein aufgeknöpftes Hemd noch einen gehörigen Vorrat an Kirschen hineingestopft. So behindert landete er innerhalb des Zauns, dort drüben trabte schon Willem heran.
Was tun? „Waht, wenn ech dech kreien, ech ledern dech“ tönte es vom Willem her. Doch dieser Warnung hätte es gar nicht bedurft, ein kurzer Blick und Jüppchen schlängelte sich unter dem Maschendraht hindurch und kroch in das Gestrüpp, wo er durch einen Wechselpfad robbte. Nun ging die Hatz erst richtig los. Die drei liefen wie die Hasen, schlugen Haken, hinter ihnen keuchte der sie hetzende Willem. Endlich blieb er stehen, einen krummen Baumast in seiner Hand drohend hochgereckt, eine Pose, die ihm in Kreisen der Dorf Jugend den Namen „Reserve-Erzengel“ eingetragen hatte. Erschöpft von der Hetzjagd und verfolgt von den Schimpfwörtern Willems setzten Pitter, Jupp und Henns sich an den Rand der Landstraße weit außerhalb des Dorfes. Da hörten sie plötzlich Bremsen kreischen. Ein kleiner Lastwagen mit Holzvergaser hielt, Maurermeister Mattes aus dem Nachbarort deutete auf Jupp, packte den dürren Knaben trotz dessen heftigen Widerstandes und legte ihn auf die Ladefläche zwischen Steinen und Brennholz für den Holzkessel. Ritter und Henns sprangen ebenfalls auf, ohne genau zu wissen, was das bedeuten sollte, aber froh, nicht laufen zu brauchen, da sie noch unter den Folgen der ihnen durch Willem abverlangten Probe ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit litten.
In flotter Fahrt ging es los, in eine Staubwolke gehüllt hielt Mattes mitten im Dorf vor der Tür des Dorfarztes. Ritter, Henns und Jüppchen werden ins Sprechzimmer gedrängt. Da sehen die anderen es auch: Jupps Hemd ist dunkelrot gefärbt! Ein schrecklicher Verdacht kommt den beiden Freunden: der Sprung vom Baum — Blut!! Der Doktor tritt ans Fenster, blickt die Jungen an, dann Maurermeister Mattes, geht auf Jüppchen zu, öffnet dessen Hemd und lächelt. Doch dann wird sein Gesicht ernst, er blickt allen in die Augen, setzt einem nach dem anderen das Hörrohr auf die Brust — den Jungen mutet es aus begreiflichen Gründen wie eine Pistole an — und dann murmelt er einige Worte, die die Jungen nicht verstehen. Nur so etwas wie ‚klepto‘ glaubt Ritter verstanden zu haben. Mit ernstem Gesichtsausdruck gibt der Doktor den dreien bittere Tropfen zu schlucken, dann dürfen sie gehen.
Sie schleichen davon, besorgt und mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend. Bald aber wird es immer schlimmer, sie spüren es immer deutlicher und es dämmert ihnen endlich, als die letzten Sonnenstrahlen durch das kleine Herzchen in der Tür der Schultoilette auf dem Hof fallen: das Blut auf Jupps Hemd — blutroter Herzkirschensaft, des Doktors späte Rache für eine früher vorgenommene Kostprobe seiner Äpfel — ein rapide und nachhaltig wirkendes Abführmittel.
Der Doktor schaute zu mir herüber, hob seinen Pokal und sagte laut in die Runde: „Dei Onkel Tünn wor och at ens dobei!“ Die Knaben aber besaßen seither, talauf, talab, den Namen: „die Kirschenkleptomanen“.