Verkehrte Welt
Rübezahls letzter Brief
an seinen in Bad Neuenahr
unter der Anschrift Hans Spiegeltill
aus Braunschweig
kurenden Freund Eulenspiegel
Theodor Seidenfaden
Mein lieber Till,
wenn Dich einmal, was unsere Ewigen verhüten mögen, mein Schicksal trifft —, das des Vertriebenen, weil die Polen, die ich ob ihrem Chopin liebe, mich in meinem Schlesien, dem mir eigenen Riesengebirge, nicht mehr dulden mögen — wirst Du verstehen, daß ich von einer „Verkehrten Welt“ sprechen muß.
Du weißt, daß es schon seit ungefähr achthundert Jahren in dem gesegneten Lande, dem ich einverwoben bin, meinen Namen als ein Dorf gibt und mit ihm nicht etwa ein Rübenschwanz als das untere Ende der Rübe, sondern das gemeint ist, was sich Nebelkappe nennt. Als solche, als Nebelkappe — kostbar ist mir das bildliche Wort —, war ich Jahrhundert um Jahrhundert der Wetterherr des Riesengebirges und oft Kobold und Spötter, immer aber bereit, Menschen des Sinnes zu helfen: solchen, die nicht als Zweckbesessene herumlaufen und lärmen. Daß mich der gute Musäus aus Jena, der am 28. Oktober 1787 zu Weimar, wo er Pagenhofmeister, dann Professor des Gymnasiums gewesen war, in den fünf Bänden seiner „Volksmärchen der Deutschen“, oft ironisierend, wie Wieland es tat, der Hofrat von Weimar, der freundlich mit Goethe, Herder und Schiller verkehrte
— stets aber anmutig und geistreich behandelte, tut mir wohl gegenüber den Schwatzsüchtigen der Stunde, die von uns’allen — von uns, den „Übersinnlichen“ nichts mehr wissen wollen. Darum freue ich mich, Dir in die Kur schreiben zu dürfen, die man Dir als dem Dichter des Buches „Till Eulenspiegel im Ahrtal“1) zubilligte. So kann ich Dir sagen, daß noch im Jahre 1926 Will Erich Peuckert, auch ihn zu nennen, in seinen volkheitlich verwurzelten Büchern meiner gedenkt. Doch — was soll das?
Der Peucker meinte damals schon: ich sei geflohen: ausgewandert über England, um einem von mir geahnten Unheil zu entfliehen. Er irrte.
Ich, der ich — immer noch meine Marielieg liebe, die niemand kennt, hause mit ihr, verborgen, im Schwarzenberg, den auch Du nicht ahnst, von dem heute niemand mehr weiß: in dem Stollen der „Bergmölins“ und schreibe Dir, indes sie, nach altem Brauche eines der schieiernden Sommergewänder tragend, wie ich es liebe, neben mir am Steintische sitzt und der Nachtlampe öl zugießt, wenn es not tut.
Die Nacht der Sommersonnenwende ist da, die mir die schönste des Jahres bleibt — den politischen Verrücktheiten zum Trotz — auf einen Bogen Papier, dem am Kopf der Name des Magisters Prätorius steht, der sich bereits vor Jahrhunderten das Hirn darüber zerbrach, woher wohl mein Name stamme. Ich schrieb es Dir eben, füge jetzt jedoch hinzu, in ihm klinge offenbar das althochdeutsche Wort „hriobo“ nach, der Rauhe. Es wird sicher Deine Neuenahrer Gäste, die Dich ja in Wirklichkeit so wenig, kennen wie mich, auflauschen lassen.
„Der Rauhe“ blieb ich, weshalb ich mich, auch jetzt nicht, scheue so zu sprechen, wie es heute im Osten Deutschlands niemand wagt: ich — als ein Feind und Verfolgter der aufgeklärten Politiker und Professoren, der — das verrate ich Dir —, „auch jetzt“ noch auf den Bäumen zwischen Riesen- und Fichtelgebirge sitzt und hohnlacht, wenn sie in ihren pferdlosen Wagen vorüberflitzen.
„Sagen“ lassen sich nicht wie Salz oder Geräte weiter verhandeln: sie hängen an unausrottbaren Wurzeln. Es ist ein Glück,
daß ich seit Jahrhunderten jenen Gestaltwandel leben kann, der dem Übersinnlichen eignet, gleich bei welchen Völkern: ich demnach bis zur Stunde als Mönch erscheine, als Bergmann, oft gar als ein Roß, selten als Kröte — und darum das Verborgenste im menschlichen Geiste weiß: daß ich von den Stillen im Lande, das nun nicht mehr deutsch sein soll, als Schatzhüter verehrt werde.
Bevor ich eben zu schreiben begann, las ich meiner Gefährtin vor, was ein eben erschienenes Heft der Vierteljahresschrift „Deutsche Ostkunde“ — sie erscheint bereits 22 Jahre hindurch —, in dem Aufsatze des Oberstudienrates Guido Karutz — er ist Rheinländer —, über Eichendorffs Anschauungen vom Wesen der Poesie schreibt. Es berührt mich tief, weil ich in Eichendorff den Dichter schätze, der im Künftigen das Übersinnliche erwartet, von dem ich eben sprach: jenes Übersinnliche, dem Du wie ich und unsere europäischen Gefährten das Dasein verdanken.
Doch außer dem, was Karutz schreibt, trat mir bei dem Namen des Dichters das Gewaltige ins Erinnern, das sich im Schicksale der europäischen Mitte die „ostdeutsche Bewegung“ nennt, und es war mir, als ob ich wieder, wie ehemals, Volkssagen hörte, in denen Tote auf Gräbern tanzen, wie auch Du sie in Deinem Ahr-Buche aufleben läßt. Du weißt, daß die Eichendorffs ursprünglich dem bayerischen Volksstamme zugehörten — ihm war die Aufgabe gestellt, zwischen Abend-und Morgenland zu vermitteln —, daß sie, die Eichendorffs, damals, es mag im 13. Jahrhundert gewesen sein, in das Land auswanderten, das sich Brandenburg nennt, sie dort siedelten, ihre Nachfahren aber zu dem Landstreifen wechselten, der sich bis in das gegenwärtige Jahrhundert Oberschlesien nennt.
Wie oft ist Landschaft nur Erbe von Völkergedanken verschollener Stämme, so daß es in dem Wogenden von Flut und Ebbe zwischen Westen und Osten, zwischen Osten und Westen auch dem geschärftesten Forscherauge unmöglich ist, Fluch und Segen, zu scheiden, unbedingt klar zu sehen, wie der Osten um die Elbe immer wieder seelischgeistige Anreger für Jahrhunderte gebar. Nichts von dem läßt sich beweisen, was die Politiker, die Erblindeten der Stunde, meinen, die das absonderliche Mytische und so geheimnisvoll Wirksame, das Dich und mich, meine Marielieg ins Leben rief und die „Textler“ der Stunde verhöhnen, weil sie Sterbendes vertreten wollen, das sie in Nacktheit und Zote beschmutzen, denen nichts mehr heilig ist, die eben das „Texten“ einer überreifen, einer „Sterbezeit“ sind, wie auch Du sie — herrlich — in Deinem Ahr-Buche aufleben läßt.
Stelle Dir nur vor, wie lange schon Goten und Langobarden, die unselig früh, wenn ich mich recht erinnere, den Gedanken eines großen Donaureiches dachten, von den „Fluten“ weggespült oder unter fremden Völkern verschollen sind!
Till: unser junger Morgen lag im tiefön Rot trächtiger Mythen, und in dem zu Recht gelobten Eichendorff ist, so glaube ich, die Kraft Quelle des Schaffens, die Dich wie mich und nun auch die Marielieg ins Leben rief.
Erinnere Dich: während der sogenannten „Aufklärung“ — gemeint ist jene von England ausgehende Bewegung des 18. Jahrhunderts, die nach dem sogenannten Siege der mathematischen Naturwissenschaften über das, was sich Scholastik nennt es quält mich, von den mir so fremden Dingen schreiben zu müssen — triumphierte und das Abkehren von allem Überlieferten forderte, wie es der mir verhaßte Christian Friedrich Nicolai tat, der Berliner, der, gegen Goethe hetzend, die klägliche Satind „Die Freuden des jungen ‚ Werther“ schrieb, von seiner Spreestadt aus nicht nur gegen Goethe sondern auch gegen Schiller, Fichte und die beiden Schlegel hetzte, da der zwölfjährige Eichendorff sommers in einer Baumkrone des Parkes von Schloß Lubkowitz saß, dem Besitze der Ahnen, und laut und froh aus alten Büchern die deutschen Märchen und das las, was man von Dir und von mir — nur uns zu nennen — erzählte.
Du weißt, daß dieser Junge in Heidelberg studierte, als Lützower am Befreiungs-Kriege gegen Napoleon, einem der wahnwitzigen Machtherrn, teilnahm — er, der Dichter des deutschen Waldes, der deutschen Wanderlust, der wahren Lebensfreude, der gläubigen Sehnsucht — lange zu Berlin, dem „Stadt-Lineal an der Spree“, in dem nach 1815 gegründeten Kultusministerium tätig war — aber später in mein Land, meine Heimat — nach Neiße zurückfand, von wo aus er nach 1857 ins Ewige schied.
Ob auch nach dem Tode seines Vaters 1818 der Familienbesitz durch die Ungunst des Politischen verloren ging: seine Dichtung, vor allem seine Lyrik, lebt, jenes Einmalige, das leben wird, so lange es eine deutsche Sprache gibt. Es ist das Geheimnisvolle, das ihm aus dem Verbinden seiner Väter mit Frauen des slavischen Adels den Ton schenkte, der ein deutsches Sinnbild der Gegenwart für das ist, was sich das Einende mit dem Osten nennen darf.
Du weißt, wenn Du Dich seiner Tragödie „Die letzten Ritter von Marienburg“ erinnerst, wie ihn, der den Schalk (und darum mich) liebte — die echte Heiterkeit — das tragische Schicksal des Deutschen Ordens quälte.
In dem aber, was uns „der andere Ton“ seiner Lyrik vermachte — ich wiederhole und Marielieg nickt zustimmend, während ich schreibe — lebt ein Sinnbild des Künftigen, das aus dem „Verkehrten“ des Gegenwärtigen hinaufführen wird in das „Gemeinsame“, wie es der ostdeutschen Bewegung entspricht. Jakob Böhme, Hermann Stehr und Joseph Wittig — nur sie meiner Landsleute zu nennen, die zu den „Bedeutenden“ rechnen — loben mein Wort und lassen Dich grüßen, bittend, zu helfen, daß neben Dir, dem deutschen Europäer, der schlesische Narr in mir dem Ganzen erzählt, das nicht Bundes-Republik sondern Deutschland heißen muß.
Sage es, „wenn Du kannst, auch den Dir sicher lauschenden Gästen deines vornehmen Bades.
Ich grüße Dich herzlich und wünsche Dir das Genießen des Erholens, dessen Du bedarfst, im Zeitalter des Lügens das bleiben zu können, was Du bist.
Manchmal möchte ich — das verschweige ich nicht —, wieder das sein, was ich einmal war. der Dreschflegel, der einem widrigen Ernter auf meine — das heißt auf des Dreschflegels Art — Ordnung beibrachte.
Mit solchem Wunsche bleibe ich Dein alter
Rübezahl