Wenn es blitzt und donnert
Toni Eich
„Wissense, wat Se sin? Mit Fl… fängk et an!“ Pause! — Alltäglich-schreckliches war geschehen. Aus der Bubenschar war eine ‚Papierkugel‘, von den perforierten Rändern eines Zeichenblocks handgefertigt, zur Erhöhung der Einschlagwirkung im Munde zu einem pfeilgeschwinden Geschoß zurecht gekaut und endlich geschleudert mittels eines römischen Wurfgeschützes‘, gegen den Gymnasial-Oberlehrer Zettelmayer geflogen. Sie hatte sich im Faltengekräusel seiner gerafften, brillantumfunkelten Seidenkrawatte verirrt. Und nun stand da der „Zett“ in einer Haltung von bajuwarischer Wuchtigkeit, die hingegen von einem wohlgeschneiderten Gehrock, geziert mit einem gesteiften ‚Vatermörder‘ und eben der gerafften Krawatte, zu der Statur eines ‚feinen Här‘ gemildert wurde. Der Zeigefinger seiner massigen Hand stellte wie.ein Menetekel über dem gesenkten Lockenkopf des ‚Kanoniers‘ an, der, puterrot angelaufen, das Herz in seinen Ohrmuscheln bumsen hörte. Es war der Chronist, der, nun schon graubärtig, heute noch den ungeheuren Blickstrahl aus den umbuschten Augenpaaren zu spüren glaubt. „Se, sin doch sonst ne nette Kerl.“
Ein gütiges Lächeln aus seinem Antlitz ließ allen Ernst der Szene verströmen. Selbst wenn es mitunter unglücklicherweise zu einem .Kopfschuß‘ kam, war zwar eine Eintragung ins Klassenbuch fällig, die meist am Ende der Stunde von ihm wieder annulliert wurde; wenn es sein mußte mit Hilfe eines Tintenkleckses. Wahrscheinlich nicht zur Freude des Ordinarius! — Ach, war das ein Lehrer, unser „Zett“, auch „Euklid“ genannt, denn sein Lieblingsfach, neben Erd- und Naturkunde, war das Kopfrechnen. Er besaß fürwahr damals die Fähigkeiten der heutigen Computer. „Wat nützt Euch de höhere Mathematik, wenn Ihr nit kopfrechnen könnt! Seht emal, wie dat eso flupp‘!“ Flüppen war sein Stan-dardverbum. Und bei ihm fluppte wirklich alles. „Wenn ’ne Mann seit Christi Jeburt jeden Tag ene Pfennich jespart hält‘, wieviel Gröschelcher hätt‘ der heut‘?“ – „Geht nicht, Herr Oberlehrer?“ So die Buben. „Wieso nit?“ — „Der Mann kann doch keine 1900 Jahre alt werden!“ „Da habt ihr enmal recht! Aber, wenn et de liebe Jott selber jetan^ hätt’…? Meint Ihr net auch, der könnt‘ kein Gröschelcher mache‘? Fragt enmal de Relijionslehreri“ Unser „Zett“ vollführte wahre Rechenkünste im Kopf. Einer öffentlichen Schaustellung war er abhold. —
So ‚fluppte‘ alles wie am Schnürchen bei ihm. „Ich ben ene Kölsche! Mein Urjroßvater war ene Bierbrauer aus Bayern, da stamme‘ mer her; ich bin keine Bayer mehr; dem jefiel dat kölsche Bier so jut, wie mir auch. Dat is wat Leckeres! Dat dürft Ihr ruhig trinken!“ Kölsch war seine Lebens- und Eigenart und „Kölsch“ sein Lieblingsgetränk. „Jeh’mer bald nochemal en de .Schreckenskammer‘? (vor dem Kriege urtümliche kölsche Wirtschaft, von Examenskandidaten gern frequentiert — deshalb wohl der Name .Schreckenskammer‘) Da schmeckt et Kölsch am besten!“ — Soweit unser „Zett“.
Naturkunde war im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm eine Kunde aus der Natur. •— „Zett“ schreitet gemächlich durch die Reihen der Schulbänke, legt sorgsam seine immer pralle Ledertasche, Baujahr 1910, und durch viele
farblich unterschiedliche Riester zu einem surrealistischen Klatschbild geworden, auf das Katheder. „Morjen meine Herrn!“ — „Morgen Herr Oberlehrer!“ — „Wat es dat so dunkel hier, macht dat Lieh‘ mal an!“ — „Es gibt ein Gewitter, Herr Oberlehrer!“ — „En Jewitter? Jut! dann nehmen mer heut‘ mal dat Jewitter durch! Hefte eraus! und paßt mal jut auf!“ Ein giftig-greller Blitz überhellte das Licht im Klassenzimmer, ein zischender Donner mit stampfendem Gepolter fuhr hinterdrein. „Da hat et einjeschlagen! Ihr braucht kein’Angst ze haben, früher hatt‘ ich se auch, jerade beim Donner. Mein‘ Mutter sei ich hatt‘ immer jesacht: da schimpft dr liebe Jott!“ — Kein Gelächter aus dem Bubenhaufen! — Da liegt nun das alte Naturkundeheft, blaßblau verwittert, vor dem Chronisten, mit dem verzierten Schildchen: Naturkunde von…, Obersekunda A 1928. Und hier der Aufsatz „Wie entsteht ein Gewitter“:
Gewitter entstehen meist im Sommer, und zwar durch den Zusammenprall von aufgewirbelten Luftmassen von verschiedener Temperatur und unterschiedlichem Feuchtigkeitsgehalt. Wärme und Feuchtigkeit gehören also zur Bildung eines Gewitters. Wenn eine dieser Voraussetzungen fehlt, gibt es keine Gewitter. Man unterscheidet Wärme- und Frontgewitter. Im Sommer gibt es Wärmegewitter. Die Luft auf der Erde ist erwärmt. Der aufsteigende warme Luftstrom kühlt sich in der Höhe ab, wobei der in der Luft enthaltene Wasserdunst sich zu Tröpfchen (Kondensierung) ausbildet, die in dem Luftwirbel wieder zerstäubt werden. Die mit der Luftströmung von der Erde aufsteigenden Dunsttröpfchen werden durch die Reibung elektrisch geladen. In der Höhe wird diese elektrische Ladung im Hexenkessel der Luftwirbel zerteilt. Es entstehen zwei „Parteien“: die größeren Tröpfchen sind plötzlich positiv geladen, während die kleinen Dunstpartikelchen negativ geladen sind. Zwischen diesen .feindlichen‘ Lagern entsteht eine große Spannung, die, wenn sie übergroß wird, zu einer Entladung führt, und die dann in Form eines überspringenden elektrischen Funkens ausgelöst wird. Das ist der Blitz. Er erhitzt die Luft zur Weißglut, sie explodiert mit lautem Knall. Dieser Knall mit seinem polternden Getöse ist der Donner.
Da gibt es noch die Frontgewitter, die ähnlich entstehen wie die Wärmegewitter. Sie leiten ihren Namen von einer Kaltfront her, die im Wettergeschehen plötzlich auftritt, wodurch die auf der Erde lagernde Warmluft zum Aufsteigen gezwungen wird. Und dann vollzieht sich alles wie beim Wärmegewitter.
Welch ungeheure Naturgewalt steckt doch in einem einzigen Blitz? Im Durchschnitt beträgt die Spannung um die 100 Millionen Volt und seine Stromstärke bis zu 100000 Ampere.
Hier eine Reminisenz an „Zett“: „So ne Blitz erjibt eine Billion Watt, oder zehn Milliarden Kilowatt. Mit enem einzigen Blitz kann mer 45 Millionen Glühbirnen zu je 25 Watt en janzes Jahr lang Tag und Nacht brennen lasseh. Dat kost‘ nix! Da könnt‘ mer Jeld sparen!’Ihr braucht jar kein .Klassenkass för de Kommers. Dat jäb‘ allerlei Kölsch.“ Und weiter entrollte „Zett“ seine Kopf rechenkünste: „Wenn en Kilowatt 1,36 Pferdestärke sin, so hat ene Blitz 13,6 Milliarden PS. Wenn mer alle Pferde von dr Welt zusammennahm‘, so erjäb‘ dat nur ein Bruchteil/von dieser Kraft. Dat hab ich all‘ im Kopf jerechnet, seht, wie dat so flupp“. Hier lachte die Bubenschar wieder, derweil draußen noch das Wetter paukte.
Wer naturkundig ist, kann schon am Morgen vorhersagen, ob am Nachmittag ein Gewitter aufzieht. Wenn der Morgennebel webt, der einem warmen Sommertag vorausgeht, ist mit einer erhöhten Gewitterneigung zu rechnen. Der Nebel stellt Feuchtigkeit dar, die durch die Erwärmung in die Höhe gewirbelt wird und schon türmen sich am Himmel die wulstigen weißen Wolkenberge auf. Schwüle und feuchte Hitze steigern sich, und nun hebt ein ungestümer Wind an, der die Wolken, ihre weiße Pracht gegen ein mißfarbenes Gewand vertauschend, zusammenballt. Unförmige Regentropfen klatschen hernieder. Ein Blitz, ein Donnerschlag — das Gewitter ist da! Zeigen die Bäuche der Gewitterwolken grau-gelbe Strähnen, so ist mit Hagel zu rechnen; zeigen sie tropfenförmige Ausbuchtungen, sogenannte Wolkensäcke, so gibt’s kein Gewitter. Gewitter sind zu jeder Tagesund Nachtzeit zu erwarten. Meist treten sie am Nachmittag oder in der Nacht auf. Sie folgen vornehmlich den Gebirgszügen oder in den Niederungen den Wasserläufen. Drum sind Berggipfel und Wasserläufe blitzanfällig. Gewitterfronten können bis zu 80 km und mehr in ihrer Ausdehnung erreichen, dagegen sind Wärmegewitter lokal begrenzt.
Der Donner äußerst sich verschiedenartig. Vernimmt man einen explosionsartigen Knall, so hat sich eine Entladung von der Wolke zur Erde vollzogen, hört man dagegen ein stampfendes Grollen, dann erfolgt die Entladung von Wolke zu Wolke. Der Blitz sucht immer den nächsten Weg zum Gegenpol; einmal ist es die entgegengesetzt geladene Wolke, ein andermal die Erde.
Der Blitz folgt immer den besten Leitern wie Metall und Gewässern. Erzhaltige Bergkegel oder gar unterirdische Wasserläufe sind immer gewitteranziehend. Die Menschen schützen sich vor dem Blitzschlag mit Hilfe des Blitzableiters, den Benjamin. Franklin im Jahre 1752 erfand, indem er einen Drachen mit Platinspitze aufsteigen ließ und damit für den Blitz eine fast .geradlinige Ableitung herstellte. Nach diesem System sind auch heute noch die Blitzableiter konstruiert. An der höchsten Stelle von Gebäuden werden verzinkte Eisenstangen — heute sind es vielfach flache verzinkte Eisenbänder, die an den Enden leicht angehoben werden —, angebracht, die untereinander verbunden sind. Ein absteigendes Drahtseil führt den Blitz zu einer in der Erde vergrabenen Kupferplatte.
Man kann die Entfernung eines Gewitters ziemlich genau bestimmen. Obwohl Blitz und Donner gleichzeitig entstehen, nimmt man den Blitz auf Grund der Lichtgeschwindigkeit von 300 000 Kilometern pro Sekunde eher wahr als den Donner, der später zu vernehmen ist, denn die Schallgeschwindigkeit beträgt nur 330 Meter pro Sekunde. Wenn man nun vom Zeitpunkt der Wahrnehmung des Blitzes „21, 22, 23″, usw. zählt und die ermittelten Sekunden nach dem gehörten Donner mit 330 multipliziert, hat man die Entfernung des Gewitters.
Wieder „Zett“: „Dat kann mer all im Kopf rechnen, ,flupp‘ — ich hab1 et: 6 Sekunden nach dem Blitz bis zum Donner mal 330: Dat Jewitter is fot! Ihr könnt wieder frech werden!“
Wie oft hat der Chronist als Wanderer die einfach-wahren Belehrungen des Gymnasial-Oberlehrers Zettelmayer in der praktischen Wirksamkeit erprobt. Er kannte zur Bubenzeit noch nicht jene inhaltschweren Worte eines Hans Carossa, dfe dieser Jahre später im Hinblick auf Mozart artikulierte, daß nämlich höchste Seelenfülle, wenn sie sich irdisch verkörpert, wehrlos bleiben müsse. Als er sie erstmalig las, dachte er an Mozart schlechthin, aber auch an den geliebten Lehrer alter Schule, die wir heute so vermissen. Er war ein seelenvoller Mensch, ganz einfach, eine Seele von Mensch. Nie strafte er körperlich spürbar, dafür mehr von der gewaltlosen Seele her, und das schmerzte. Und wenn die „Abiturientia 1931″ sich um Jahre trifft, dann steht„Zett“ immer im Mittelpunkt. — Eine Fliegerbombe löschte in seinem Köln sein Leben aus. Der „Zett“ kann und darf nimmer sterben —, so dachten wir Buben damals. „Blitz und Donner mal sowieso, flupp, wie datjeht!“
Eines werden die Naturwissenschaftler an den heutigen Schulen wohl noch lernen müssen: die überragenden wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Seele zu durchwirken. Denn nur so kann der lichte Funken des Begrei-fens den wahren Wert der Wissenschaft erhellen, wie ein Blitz, der Erschauern läßt, aus der Urweite des Himmels, mit der die Seele ach so verwandt ist. Unser „Zett“ —, der konnte es!
Und noch etwas sei nachgetragen, wahrlich nicht das Unwichtigste, zum lauten Geschäft der Gewitter: Das gläubige Volk verehrt einen Heiligen, dem es wundertätigen Schutz vor Blitzschlag nachsagt: St. Donatus, den Blitz in Händen haltend, so heißt er. In vielen Kirchen der rheinischen Lande, namentlich in der Eifel, ist er anzutreffen, manchmal etwas achtlos beiseitestehend, aber nicht minder verehrt. Seine Gebeine ruhen in Münstereifel. „Heiliger Donatus, schütze uns!“ — so weht es durch den Kirchenraum und auch draußen über die Felder, wenn Prozessionen ziehen zu sommerlicher Zeit, da die Wetter, Mensch und Tier ängstigend, umgehen. „
Und „Zett“: „Dat is ene jroße Mann im Himmel, zu dem soll mer beten, wenn et blitz‘ und donnert. Da könnt Ihr lachen… Ihr!!“ — Der Bannstrahl seines Blickes wetterte blitzig über den Bubenhaufen…