Die Sage vom Fisch »Einaug«
Werner Schönhofen
Jedes Volk besitzt seine Literatur; aber auch jede Landschaft besitzt ihre eigene Dichtung. Zu dieser zählen auch die zahlreichen Sagen. Sie sind über die Jahrhunderte von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebenes literarisches Sondergut. Wurden sie ursprünglich erzählt, so sammelten die Dichter der Romantik (19. Jhdt.) sie. Das Wesensmerkmal der Sage liegt jedoch immer noch beim Erzählen; sie war einmal wirkliche »Spinnstubenliteratur«. Wir haben keine Spinnstuben heute mehr; die Sagen unserer Heimat sind jedoch des Überlieferns wert. Sie erzählen von seltsamen Geschehnissen, absonderlichen Menschen, nichtalltäglichen Dingen der Natur aber auch von den Großen der Menschheit und außerchristlichen Glaubensvorstellungen. Sie sind auch heute noch spannende Erzählung, obwohl wir wohl nicht mehr den Schauer empfinden werden, den frühere Generationen bei ihrem Hören empfanden. Die Sagen müssen wir als eine Deutungsmöglichkeit eines Geschehens etc. betrachten, die uns heutigen Menschen leider so oft verloren ging. In der Sage steckt die transzendentale Deutungsmöglichkeit unserers Seins von der so viele Menschen heute nichts wissen wollen. Für sie gilt nicht, was nicht zählbar und meßbar ist. Wie dumm!
Zeichnung: Deisel
So ist auch die folgende Sage vom Fisch »Einaug« nicht rational deutbar bis zur völligen Klarheit. Rationale Lösungsversuche bleiben nur mögliche Lösungen, letztlich nur Hypothesen. – Wir sollten sie weniger aufstellen, als uns vielmehr von der Sache und Sprache ansprechen lassen. An der »Bunten Kuh« fischte vor Jahren des Nachts einmal ein Bursche aus Walporzheim, hatte aber kein Glück und wollte schon wieder heimgehen, da biß gerade noch ein schöner Fisch an. Schnell hatte er ihn am Ufer und im Sacke und warf seinen Köder wieder aus, da hörte er eine Stimme: »Einaug, wo bist du?« Und aus seinem Sack antwortete es: »In Peterchens Sack.« Da ließ der Fischer entsetzt Angel und Sack fahren und rannte nach Hause. Aber seitdem zog es ihn immer wieder nach der Stelle hin; Fischen tat er nicht mehr. Ersaß am Ufer und lauschte, und die alten Leute erzählten, er habe die Sprache der Fische verstanden und zuletzt sei er von ihnen hinabgezogen worden. Denn eines Morgens fand man seine Mütze auf der Felsplatte; und er war auf immer verschwunden. Aber in stillen Mondnächten, wie bei stürmischem Wetter haben die Fischer gesehen, wie er mit Schilf und Wasserpflanzen geschmückt auf dem Wasser schwamm, Hunderte von Fischen um sich herum. Wenn sein Gesicht freundlich war, dann war alle Mühe für die Fischer umsonst; aber wenn er ernst und streng blickte, dann gingen viele Fisch ins Netz.