Das verschwundene Christkind
Das verschwundene Christkind
Johannes Fr. Luxem
Die Höhle
Hinter dem Föhrenwald, am Ende einer Schlucht, versteckt hinter undurchdringlichen Schlehdornhecken lag der verlassene Steinbruch. Seit vielen Jahren unbenutzt, wurde der schmale Zufahrtsweg überwuchert von Ginsterbüschen, Wacholder und Wildrosensträuchern, waren die felsigen Steilhänge bedeckt von Flechten und tiefgrünem Sternmoos. Auf dem Boden des Steinbruchs hatte sich mit den Jahren Wasser angesammelt, der kleine Weiher war von Binsen und hohen Farnen umsäumt. Im Sommer blühten am Felsrand Waldweidenröschen, Digitalis und Jakobskreuzkraut. Eidechsen und Nattern sonnten sich auf steiler Schutthalde zwischen Mieren, Hundskamille und Holundersträuchern, Dohlen hausten in den Höhlen an unzugänglichen Stellen des brüchigen Gesteins. Niemanden aus dem Eifeldorf zog es an diesen verlassenen Ort. Gemieden wurde die Stelle, seit vor einem Menschenalter hier zwei junge Männer verschüttet wurden. Verrufen blieb der Steinbruch seitdem: etwas Geheimnisvolles haftete ihm an. Nicht einmal die Mutigsten aus der Knabenschar, die Dort und Wälder oft mit Lärm erfüllten, wagten sich dorthin. Lieber durchstreiften sie die schmalen Wiesentäler, fingen Forellen und Krebse, spielten mit Eichenlohknüppeln Muck, während sie das Vieh hüteten. Nur zwei von ihnen, Brüder, auf seltsame Weise unzertrennlich, waren eines Tages, getrieben von Tatendrang und Neugier, durch Dornengestrüpp, Brennesseln und stachlige Schlehdornhecken vorgedrungen in die verlassene Wildnis: Ställebackes Hann und Hubert. Auf einem ihrer Streifzüge hatten sie den Steinbruch gefunden, ihn mühsam erforscht und eine Entdekkung gemacht: eine enge, langgestreckte stollenartige Höhle an der Ostseite. So verborgen lag ihr Eingang, daß er beinahe unauffindbar blieb.
Von da ab schlichen die beiden oft zu ihrem Versteck, ihrer düsteren Zufluchtsstätte, bauten sie aus mit Bank und Tisch, schworen sich feierlich bei flackerndem Kerzenlicht, den Ort geheimzuhalten, ihn niemals jemanden zu verraten. Alles, was für sie brauchbar schien, was nicht niet- und nagelfest war, schleppten die beiden mühselig auf steilem Pfad in die Höhle. Und in diesem Sammeltrieb, der alles Interessante erfaßte, liegt zugleich der Kern unserer Geschichte verborgen.
Es muß eine Schwanthalerkrippe sein !
Hundertmal hatte der Pfarrer des Dorfes, literaturbeflissen, kunstsinnig und Krippenliebhaber, diesen Satz gerufen, wenn es darum ging, das Geld für solch kostspielige Anschaffung zusammenzubringen. Eine Schande für Kirche und Ort – so der Pfarrer – ist sie, die alte Krippe mit ihren Gipsfiguren, verstümmelt, angeschlagen, farblos, da muß endlich eine neue Krippe her, etwas Besonderes, ja Einmaliges zur Freude und Erbauung für jung und alt.
Bildmaterial. Bücher. Prospekte und Beschreibungen legte der Emsige dem Kirchenvorstand vor, spannte geschickt und unermüdlich Bürgermeister, Lehrer, Förster und Händler ein für die Erfüllung seines Herzenswunsches. Kein Wunder, wenn sich bei ihm in langen Jahren der Einsamkeit im Ahreifeldorf eine Art liebenswerter Manie gebildet hatte, jene Obsession, dem Dorf eine Barockkrippe, eine aufwendige Schwanthalerreplik zu beschaffen. Ein vollendetes Kunstwerk des berühmten bayrischen Holzbildhauers Franz Xaver Schwanthaler, das als kostbare, getreue, polychrome Nachbildung für viel Geld zu erwerben war. Eine Krippe mit all jenem verspielten Beiwerk, das, so der Pfarrer, auch zur Anbetung des Kindes gehörte, ähnlich den Santons der Provence oderden berühmten neapolitanischen Krippen. Eine ausgedehnte , bemooste Stellfläche mit Hügeln, Wäldchen, Häusern, Bachlauf, Brunnen und Marktplatz sollte es werden, belebt von einer bunten Figurenschar. Da tummelten sich neben den Hirten mit Schafen und Hunden Marktfrauen, Bäuerinnen, Händler mit Käfigen, in denen fremde, schillernde Vögel hockten. Sogar zwei Fischer waren darunter, die dem Kind ihren Fang in einem ovalen Weidenkörbchen darbrachten. Das mußten sie nun allezugeben, die Mitglieder von Kirchenvorstand und Gemeinderat: eine solche Prachtkrippe hatte noch niemand gesehen. Weit und breit in Eifel und Ahrtal bis hinab zum Rheinstrom würde es dergleichen nicht geben.
Man betrachtete lange die im Katalog dargestellten Krippenfiguren, das Beiwerk, las die Beschreibung und den in gotischer Steilschrift gedruckten Spruch, den ein Engel auf flatterndem Schriftband hielt: »Juhe, Viktori, der Engel singt’s Glori«, man stimmte endlich zu und die Bestellung ward aufgegeben.
Der Pfarrer hatte in seinem Eifer die Bewohner des Ortes gleichsam angesteckt und niemand, so meinte er zu Recht, würde je dieses Fest vergessen, an dem er zum ersten Male die hell beleuchtete Krippenanlage betrachtete.
Das hatte niemand erwartet, solche Pracht, solch bewegte Form von Leben der Figuren, bunter Vielfalt, und darüber, auf einer Anhöhe aus geschichtetem Schiefergestein, der Mittelpunkt, der Stall. Da knieten Maria und Josef, umgeben von pausbäckigen Engeln und in der Krippe strahlend, wie erfüllt von geheimnisvollem inneren Leuchten – das Christkind.
Andächtig wurden alle, die davor standen. Gar-nicht trennen von der ungewohnten Pracht und Herrlichkeit konnten sich die Dorfkinder. Es waren Festtage, die Kirche und Ort einen nie dagewesenen fremden Glanz bescherten.
Verschwunden
Wie es überhaupt geschehen konnte und warum eigentlich blieb im Verborgenen. Keiner wußte es, nur vage Vermutungen halfen weiter, begreifen konnte es niemand, als die ungeheuerliche Nachricht das Dort traf wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel: Über Nacht waren zwei Hirten, drei Schäfchen und das strahlende barocke Christkind verschwunden.
Bächenjritt, die Mesnerin, entdeckte den Frevel als erste im Frühdämmerlicht, drei Tage nach dem Hochfest. Schreiend rannte sie hinüber ins Pastorat, und wie ein Lauffeuer ging es durchs Dorf: das Christkind ist verschwunden, zwei Hirten und drei Schafe dazu.
Erste Untersuchungen durch Pfarrer, Lehrer und Kirchenvorstand erbrachten nichts. Es gab keine Spuren, keinen Hinweis, keine verständlichen Gründe, und besonnen warnte der Pfarrer vor falschen Verdächtigungen. Bärresse Jusep, der vor Jahren in China als Soldat des Expeditionscorps den Boxeraufstand erlebt hatte und sich insgeheim seinen Kaiserschnurrbart färbte, schlug Hausdurchsuchungen vor. Zweimal tagte der Kirchenvorstand ohne greifbare Ergebnisse – doch das Christkind samt Begleitung blieb verschwunden.
Der Dortlehrer schwieg zu alledem. Im Geiste ging er seine Kinderschar durch, stellte Mutmaßungen an, suchte Vergleiche, forschte nach möglichen Ursachen, Fakten, die ihn weiterbringen könnten – vergeblich!
Am schwersten aber hatte es der Pfarrer. Ja, er tat einen wahrhaften Canossagang, als er das gipserne Christkind der alten, auf dem Pfarrhausspeicher verstauten Krippe holte, es mit sehr gemischten Gefühlen säuberte und polierte und es – heimlich, versteht sich – im strohgedeckten Stall an die leere Stelle setzte. Im Zwielicht des Abends, so erzählte er später, habe er den Eindruck gehabt, als träfen ihn aus dunklem Augenpaar vorwurfsvolle Blicke.
Spuren im Schnee
Am Tage darauf begann es zu schneien, und bald lagen Bergkegel, dichte Tannenwälder, das enge Tal und die Felder der Bauern unter dem weißgrauen Mantel. Das Dorf wurde eingehüllt in eine dichte, schützende Decke; emsig schaufelten die Bauern die Zugänge zu Ställen und Scheunen frei. Im altgewohnten Hand- und Spanndienst wurden meterhohe Schneeverwehungen »op der Nück«, dem Weg zum Nachbarort, freigeräumt.
Diesen Weg ging der Lehrer mit seinem Freund aus der großen Stadt, einem Schriftsteller, der Kinderbücher schrieb und Verständnis besaß für die Weltsicht, die Abenteuerlust, die Träume und Wünsche der Jugend. Eine Viertelstunde hinter dem Dorf entdeckten beide eine eigenartige Spur im Schnee: seitwärts der Straße waren die Abdrücke von derbem Schuhwerk, von genagelten Schuhen zu erkennen, Spuren, die hangabwärts kerzengerade hinführten zum verlassenen Steinbruch. Neugierde, Spannung, vielleicht eine Art verborgener und schwer erklärbarer Vorahnung überfiel die Freunde. Sie folgten den Fußstapfen zum Waldrand, weiter abwärts durch Strauchwerk und Gestrüpp bis hin zum Trümmergelände des verrufenen Ortes. Mühselig stapften sie überden Schutthang. klammerten sich an Zweigwerk und Geäst, fanden schließlich den Eingang zu einerHöhle, aus der Licht schwach in die Dämmerung drang.
Und in der Höhle, beleuchtet von Kerzenstummeln, stand ein Stall aus Wurzelwerk, Fichtengeäst, Schilf, und darin, sorgsam auf Sternmoos gebettet, lag das Christkind, neben ihm zwei Hirten, knieend, anbetend und dahinterdie Schafe im Heu.
Davor aber saßen auf hölzernem Bänkchen Hann und Hubert und sangen lauthals alle Weihnachtslieder, die sie kannten.
Wie ein Wunder
Später suchte der Schriftsteller Begründungen in gewagten Hypothesen, sprach von Atavismus, Rückfällen in frühmenschliche Verhaltenszwänge, dachte an die Höhlen der Dordo-gneundanAltamira. Doch wie so oft bei solchen Versuchen – nichts stimmte, außer dem tiefverwurzelten Bedürfnis der Buben, sich eine verborgene Höhle zu schaffen als Schatzkammer und geheime Stätte der Zuflucht.
Die Geschichte wäre kaum erwähnenswert, wenn nicht nach der zufälligen Entdeckung des Verstecks sich etwas völlig Unerwartetes zugetragen hätte. In Anbetracht der guten alten Zeit und herrschender strengerAnsichten über Missetaten und Zumessung von Strafen, von starren Prinzipien, Auge um Auge, Zahn um Zahn, von Rohrstock und Strafgericht, könnte man das, was nun geschah, ein wirkliches Wunder nennen. Es war geradezu unglaublich, was sich damals im schneeverhangenen einsamen Eifeldorf zutrug.
Alles verlief rasch, ohne unnötiges Aufsehen, ohne Geschrei und Verhandlung und – es gibt solche Wunder – ohne Strafe für die Frevler.
Eine halbe Nacht allerdings saßen die Freunde im Pastorat und es soll dort zuweilen lautstark zugegangen sein, erzählte man später. Doch wir wissen, daß ein guter Jahrgang desAhrroten sich besänftigend auszuwirken vermag auf aufgewühlte Gemüter. So kam schließlich ein Pakt zustande zwischen den Entdeckern und dem Krippenliebhaber, den ganzen Vorfall klug zu verschweigen:
Nach Mitternacht fanden sie zu dritt den Weg in die Dorfkirche, brachten das wiedergefundene Christkind, Hirten und Schafe zurück an Ort und Stelle und erlebten jenes seltene Glücksgefühl, das ein Geschenk ist von oben, das erhebt und lange nachwirkt: eine tiefe, überwältigende Freude.
Da wir ohnehin von Schafen sprachen: ungeschoren kamen die beiden Höhlenbewohner davon. Unerklärlich blieb für alle im Dorf die wunderbare, schnelle Rückkehr des Christkindes; lange indessen herrschte noch der allgemeine Aufruhr der Gemüter.
Da alles Nachgrübeln, das Raten, die Vermutungen letztlich ohne Antwort blieben, beruhigte man sich und schwieg. Und als der schreckliche Erste Weltkrieg, der ein Jahr später begann, endlich zu Ende ging, als Kummer und Not Einzug hielten in vielen Familien, ward die Geschichte vom verschwundenen Christkind bald vergessen.
Epilog
Was aus den Helden unserer Geschichte geworden ist – es bleibt unbekannt. Zu rasch verwischen sich Spuren mit den Jahren, zu schnell wird das Stundenglas der Zeit umgekippt, verblassen Erinnerungen, vergilben die Bilder. Es ist die große Sanduhr der mächtigen Zeit, die, Wolkengebilde mit bizarren Formen, in der Winternacht über dem Eifeldorf schwebte wie ein Werkstück des Schöpfers aus unbekannter Materie. Durch die Engstelle des riesigen Stundenglases verrinnen auch die Quarzitkristalle unserer Zeit, langsam, stetig.