„Schwarzer Tag“ für die Region – Die Berlin-Entscheidung des Deutschen Bundestages
»Schwarzer Tag« für die Region
– Die Berlin-Entscheidung des Deutschen Bundestages –
Detlev Kess
Bonn, 20. Juni 1991: Nach fast elfstündiger Debatte stimmen die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Bundestages über den Parlaments- und Regierungssitz des vereinten Deutschland ab. 21.47 Uhr: Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gibt das Ergebnis bekannt: 338 Stimmen für Berlin, 320 Stimmen für Bonn. Damit ist Bonn, das sich 40 Jahre als Bundeshauptstadt bewährt hat, der Verlierer. Nachdem bereits im Einigungsvertrag Berlin als neue Bundeshauptstadt festgeschrieben wurde, werden in den nächsten Jahren das Parlament und die Kernbereiche der Bundesregierung nach Berlin wechseln.
Die Reaktion im Kreis Ahrweiler, der Region Bonn und im gesamten Umland auf diese historische wie knappe Entscheidung: Betroffenheit, Bestürzung, Ratlosigkeit und Angst um die Zukunft. Spontane Reaktionen machen das deutlich. In Stellungnahmen von Politikern, Verbänden, den wirtschaftlich und persönlich Betroffenen wird Unverständnis deutlich, werden die Sorgen der Menschen artikuliert. Tausende sehen ihre Existenz gefährdet – die Beschäftigten bei Bundesbehörden und bei Verbänden ebenso wie viele Handwerker, Gastronomen, überhaupt der Fremdenverkehr als bedeutender Wirtschaftsfaktor im Kreis Ahrweiler. Bonn als Arbeit- und Auftraggeber – davon hat der Kreis Ahrweiler bisher erheblich profitiert. Andererseits konnte sich Bonn glücklich schätzen über den Kreis Ahrweiler als »grünen Vorgarten der Bundeshauptstadt«.
Ein eindruckvolles Votum für Bonn war die öffentliche Veranstaltung am 7. Juni auf dem Marktplatz Ahrweiler. Viele hundert Menschen bekundeten durch ihre Anwesenheit und per Unterschrift ihre Solidarität mit der Initiative „AW für Bonn“.
Der Weg von Bonn nach Berlin war für viele Menschen im Kreis Ahrweiler ein mit Hoffnungen, Gefühlen und letztlich unerfüllten Wünschen gepflasterter Weg. Sein Ausgangspunkt, die Grenzöffnung in der damaligen DDR im November 1989, wurde allenthalben als denkwürdiger Schritt zum vereinten Deutschland gefeiert. Daß daraus konkrete, regionale Sorgen entstehen könnten, wurde deutlich, als maßgebliche deutsche Politiker für Berlin als Bundeshauptstadt plädierten. Ihr historisches Argument: Der Beschluß des Deutschen Bundestages vom November 1949, den Sitz der leitenden Bundesorgane nach der Wiedervereinigung nach Berlin zu verlegen. Außerdem verwiesen sie darauf, daß es seither viele Bekundungen für Berlin gegeben hatte, die nunmehr umzusetzen seien.
Die Bonn-Befürworter hielten entgegen, daß diese Bekundungen der »Frontstadt« und dem Berlin des Kalten Krieges galten und eine solche Argumentation der veränderten Situation nicht mehr gerecht werde.
Das Wechselbad der Gefühle für die Menschen in der Bonner Region setzte angesichts der öffentlich geführten Diskussion schon frühzeitig ein. Über einen Planungs- und Baustop für Bonner Behörden wurde spekuliert, bis im Februar 1990 das Bundeskabinett beschloß, begonnene Bauvorhaben in Bonn zu Ende zu führen. Der ehemalige italienische Botschafter in Bonn sprach sich bereits im März 1990 für Bonn aus, in dem er eine »Drehscheibe für Deutschland« sah. In einer bundesweiten Umfrage ermittelten Meinungsforscher im April 1990 eine Mehrheit für Berlin, im Kreis Ahrweiler hingegen votierten alle politischen Parteien, der Kreistag Ahrweiler, die kommunalen Parlamente, Bürgermeister, Kreishandwerk, Mittelständler und die Planungsgemeinschaft Mittelrhein-Westerwald eindeutig für Bonn.
Wer da schon das Pendel für Bonn ausschlagen sah, erlebte am 29. Juni 1990 eine herbe Enttäuschung.
»Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands«, klar und unmißverständlich bezog der erste Mann im Staate, Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Position für Berlin. Für die Bonn-Befürworter war das ein Rückschlag – ebenso wie die Festschreibung von Berlin als Bundeshauptstadt im Einigungsvertrag. Ein Hoffnungsschimmerden-noch: Immerhin war durch die Formulierung im Einigungsvertrag erstmals anerkannt worden, daß Hauptstadt einerseits sowie Parlamentsund Regierungssitz anderseits nicht identisch sein müssen. Und weiter ging es im Wechselspiel der Hoffnungen und Befürchtungen: Rheinland-Pfalz, die politischen Parteien ebenso wie der Landtag, schlugen sich auf die Bonner Seite, anerkannten damit die überragende Bedeutung des Parlaments- und Regierungssitzes auch für Rheinland-Pfalz und vor allem dessen nördlichen Bereich. Die Demoskopen wiederum waren sich nicht einig. Mal gab es – folgte man ihren Befragungen – Mehrheiten für Bonn, mal für Berlin. Je näher es der Bundestagsentscheidung zuging – diese war mittlerweile für den 20. Juni festgelegt worden, um noch vorder Sommerpause des Parlaments die teilweise erbitterte Diskussion zu einem Ende zu bringen -, umso verworrener wurden die Fronten, ließen sich klare Mehrheiten nichterkennen. So hatten im Bundestag die Bonn-Befürworter über 250 Unterschriften für einen Pro-Bonn-Gesetzentwurf gesammelt. Dem standen aber gewichtige Politikerstimmen für Berlin entgegen, an ihrer Spitze Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Berlin-Votum wenige Tage nach der für die CDU verlorenen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz im Kreis Ahrweiler mit Verbitterung aufgenommen wurde. Ebenfalls Berlin-Befürworter: Außenminister Hans-Dietrich Genscher (F.D.P.) sowie von der SPD deren Fraktionsvorsitzender im Bundestag Hans-Jochen Vogel und der Ehrenvorsitzende Willy Brandt, die beide ebenso wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits in Berlin als Regierende Bürgermeister amtiert hatten.
Für den KreisAhrweiler bildete der 7. Juni einen Höhepunkt in der Bonn-Diskussion. Während einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Ahrweiler Marktplatz sprachen die drei Bundestagsabgeordneten aus dem Kreis Ahrweiler, Karl Deres (CDU), Hans Wallow (SPD) und Dr. Dieter Thomae (F.D.P.), der Bevölkerung aus dem Herzen, als sie klar bekannten, ihre Stimme für Bonn geben zu wollen. Und Landrat Joachim Weiler zog Parallelen mit dem 3. Oktober, als ebenfalls viele Tausend Menschen den Ahrweiler Marktplatz bevölkerten. Damals stand die Freude über die endlich erreichte deutsche Einheit in den Gesichtern der Menschen geschrieben. Am 7. Juni war es hingegen die Sorge, wie es weitergeht, wie die berufliche und persönliche Zukunft aussehen mag, wenn sich der Bundestag für Berlin entscheidet. Dankbar aufgenommene Schützenhilfe kam übrigens aus dem thüringischen Partnerkreis Artern. Dort hatten sich Landrätin und Kreistagspräsident öffentlich für Bonn ausgesprochen, wie Landrat Weiler dankbar bemerkte.Resolution
des Kreistages Ahrweiler
vom 29. Juni 1990zur Beibehaltung der Stadt Bonn als Hauptstadt
und Regierungssitz in einem vereinigten Deutschland
Der Landkreis Ahrweiler als unmittelbarer Nachbar der Bundeshauptstadt Bonn ist ganz wesentlich von den Entwicklungen in Bonn abhängig. Rund 10.000 Arbeitskräfte aus dem Ahrkreis haben ihren Arbeitsplatz in Bonn oder der näheren Umgebung; die Wirtschaft im Kreis Ahrweiler ist in großem Maße auf das Auftragspotential aus dem Bonner Raum angewiesen. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Kreistag Ahrweiler mit großer Aufmerksamkeit die aktuelle Diskussion um die Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands. Er spricht sich für eine Beibehaltung der Funktionen von Hauptstadt und Regierungssitz in Bonn aus. Bonn steht für einen neuen Zeitabschnitt deutscher Geschichte, geprägt von Wiederaufbau und Wohlstand, demokratischem Selbstverständnis und föderaler Machtverteilung, internationaler Anerkennung und europäischer Integration. Zudem weist der Kreistag Ahrweiler auf seine vitalen Interessen zur Strukturentwicklung in einem strukturschwachen Gebiet hin. Bonn und sein Umfeld sind dafür ein ganz wesentlicher Faktor; eine Verlagerung der Hauptstadt und/oder des Regierungssitzes würde vielfältige Bemühungen hinfällig machen, Arbeitsplätze gefährden und einen tiefen Einschnitt in die Anstrengungen um eine Stärkung ländlicher Regionen bedeuten.
Der Kreistag Ahrweiler fordert die Landesregierung Rheinland-Pfalz auf, sich im Interesse der Menschen im nördlichen Rheinland-Pfalz eindeutig und entschieden für Bonn als Hauptstadt und Regierungssitz einzusetzen. Selbst wenn die Entscheidung erst in einigen Jahren fällt, ist es doch die Pflicht des Landes, die Interessen der Menschen unserer Region schon jetzt wahrzunehmen. Das Beziehen einer klaren Position in dieser Frage ist für Rheinland-Pfalz dringend geboten; denn die Stadt Bonn grenzt an unser Land dicht an und Bonn ist damit für Rheinland-Pfalz auch eine „Hauptstadt mit kurzen Wegen“ dorthin.
Der Kreistag Ahrweiler appelliert ferner an die Bundesregierung und die Fraktionen des Bundestages, bei der Entscheidung für die Hauptstadt und den Regierungssitz eines vereinigten Deutschlands die Interessen der Menschen im Umfeld von Bonn zu berücksichtigen und ihnen hinreichend Rechnung zu tragen. Von einer Verlagerung wären viele tausend Menschen betroffen – Auftragnehmer, Arbeitnehmer und deren Familienmitglieder.
Der Kreistag hält es deshalb für erforderlich, in eine eventuelle Enquete-Kommission über die Hauptstadtfrage in jedem Fall über Bonn hinaus die Folgen für das Umland gleichermaßen miteinzubeziehen.
Der Kreistag begrüßt die von Landral Joachim Weiler schon vor geraumer Zeit mit der Stadt Bonn aufgenommenen Gespräche in der Hauptsiadtfrage und bittet ihn, diese Kontakte intensiv und kontinuierlich fortzuführen.
»AW für Bonn« – das war ein deutliches Votum aus dem KreisAhrweiler. Es wurde durch annähernd 17 000 innerhalb weniger Tage gesammelter Unterschriften untermauert, die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth kurz vor der Bundestagsentscheidung überreicht wurden. Trotz vielfältiger Aktivitäten, trotz parteiübergreifendem Einvernehmen: Es nützte nichts, die knappe Mehrheit des Bundestages entschied sich für Berlin und bescherte dem Landkreis Ahrweiler einen „schwarzen Tag in der 175-jährigen Kreisgeschichte“, wie Landrat Weiler die Bundestagsentscheidung vom 20. Juni kommentierte.
Daß der Blick zurück, Klagen und Lamentieren nicht weiterhilft, ist für den Kreis Ahrweiler ausgemachte Sache. Jetzt gilt es, sich auf eigene Stärken zu besinnen und die Bonn-Versprechen im Berlin-Beschluß einzufordern. Die erste Nagelprobe dafür war der Beschluß des Bundesrates vom 5. Juli 1991, der Bundestagsempfehlung zu folgen und seinen Sitz in Bonn zu belassen. Diese Entscheidung gibt Auftrieb, ebenso wie das tatkräftige Wirken im Blick voraus, das in einem Forderungskatalog Anfang Juli 1991 treffend umschrieben wurde und als Leitlinie dient: „Trotzdem – AW hat Zukunft«.