Geschichten um und mit Hochwürden
Geschichten um und mit Hochwürden
Friedhelm Schnitker
„Ohse Hehr“ und sein himmlischer Oberbefehlshaber
Der grausame, unmenschliche, totale Krieg hatte sich mit seinen blutigen Wirren fort von den fernen Fronten hin in die heimischen Lande, in die Städte und Dörfer der Heimat verlagert. Die alliierte Luftwaffe besaß die absolute Überlegenheit, und das tägliche Gedröhne der todbringenden Bombengeschwader wurde fast schon als übliches Alltagsgeräusch hingenommen.
Dennoch hatten diese Tage, wegen der beginnenden Auswahl strategisch minderwichtiger Ziele und wegen zahlreicher Fehlabwürfe, für viele Dörfer schicksalhafte Bedeutung.
Das Pfarrhaus unseres Dorfes, Hochwürdens „Behausung“, war im Laufe der Kriegswirren wegen seiner stabilen Kellergewölbe zur Zufluchtsstätte vieler schutzsuchender Bewohner geworden. Hochwürden betete heißen Herzens mit uns, flehte voller Vertrauen um den Schutz der Gottesmutter. Es entstand eine lebendige Atmosphäre urchristlichen Miteinanders, ein wachsendes Bewußtsein des Zusammenhalts in unserem Dorf.
Und doch, trotz allen inbrünstigen Flehens um himmlischen Schutz und Beistand, vertraute Hochwürden auch auf handfeste Vorsichtsmaßnahmen. So hatte er mit einigen Helfern aus der Gemeinde die Gewölbe noch zusätzlich abgestützt, doch schien ihm selbst diese Vorkehrung noch nicht ausreichend.
So hatten eifrige Dorfbewohner auf sein Bitten hin im nahen ,Bösen‘ eine gewaltige Fichte gefällt und sie vom Astwerk befreit. Nun stand, vom Aufwand her die geringste, von der Gefährlichkeit des Unternehmens her aber die größte Arbeit noch bevor, das Heimholen des riesig langen Stammes.
Hochwürden hatte sich von Jüpp, dem größten Bauern unseres Dorfes, Hansi ausgeliehen. Ein gewaltiger Trumm von Pferd, ein Koloß von Kaltblüter. Jüpp hatte die übrigen Pferde abgeben müssen, sie waren der Wehrmacht zur Verfügung zu stellen. Nur der geduldige Hansi war ihm geblieben. Mit ihm am Zügel und, trotz anfänglicher Ablehnung, mit uns fünf älteren Meßdienern als Helfer im Schlepptau zog Hochwürden über die weite Hochfläche oberhalb unseres Dorfes Richtung Wald.
Der gewaltige Stamm war bald gefunden, die Eisenkette fest verankert und Hansi eingespannt. Nun konnte es los gehen Richtung Dorf, aber welchen Weg wählen? Den kürzeren durch die enge Hohl mit tief ausgewaschenen Rinnen oder den weiteren, aber bequemeren über die Hochfläche?
Wirentschieden unsfürden bequemeren, doch – Bequemlichkeit wird manchmal bestraft. Wir kamen gut voran. Wir – in erster Linie Hansi. Von Hochwürden am Zügel geleitet zog er den riesigen Stamm geduldig hinter sich her. Ab und zu gönnten wir ihm eine Pause, denn allmählich wurde sein Fell naß vor Anstrengung. Auf seinen Flanken bildeten die braunen Haare kleine Wirbel.
Wir hatten schon ein gutes Stück Wegs zurückgelegt und befanden uns auf dem letzten Stück der Hochfläche, bereits in Sichtweite des Dorfes, als uns ein leichtes, singendes, summendes Geräusch aufhorchen ließ. „En Jäje! Do nenne!“, kreischte Pitte. Rasch verstärkte sich der Lärm, aus dem Summen wurde ein Pfeifen, ein Heulen. Die Maschine zog vom Taleingang her hoch und heulte auf die Hochfläche zu. „En de Gromberre“, schrie Hochwürden uns zu. Fünf Jungen hechteten in das Kartoffelfeld am Wegrand, duckten sich in die Furchen.
Das Gedröhne der heranrasenden Maschine ließ den Boden erzittern. Hans, das Gesicht auf den Boden gepreßt, hatte geistesgegenwärtig einen „Kartoffelschopp“ ausgerissen und damit sein Hinterteil getarnt, hatte doch seine Mutter ein Loch rechts hinten mit strahlend rotem Flickstoff ausgebessert. Hansi stand mitten auf dem lehmigen Weg, still und starr wie sein eigenes Denkmal, nur die sich heftig auf und ab hebenden und senkenden Flanken verrieten Leben in ihm. Daneben verharrte Hochwürden, Hansi am Zügel, seinen grauhaarigen Kopf gegen Hansis riesigen Schädel gepreßt.
Wie seltsam, wir hatten keine Angst, nur waren wir alle voller Anspannung. Da war die Maschine, heulend, jaulend, tosend, hinter uns, über uns, vor uns. Kein Feuerstoß hatte die todspeienden Kanonen verlassen. Aber die Maschine kam zurück; in weiter Schleife tauchte sie ab, um dann wieder über den Rand der Hochfläche aufzusteigen und auf uns loszudonnern. Trotz des Jaulens und Heulens vernahmen wir Hoch-würdens Stimme; aus dem Schatten unseres guten Hansi tönten die beschwörenden Worte empor: „Hilf, Maria, es ist Zeit; hilf, Mutter der Barmherzigkeit!“
Und wieder verschlang der tosende, rasende Lärm alle übrigen Geräusche. Und wieder – kein Geschoß, kein Feuerstoß! Mit hellem Singen verschwand die Maschine in der Ferne. Wie gelähmt verharrten wir alle, nur Hans kämpfte einen verzweifelten Kampf gegen eine Armee von feindlichen Saboteuren am deutschen Volksvermögen, eine Schar von „Gromberre“-Käfern einschließlich Larven zwickten und zwackten ihn, krochen auf seinem Körper. „Fott met üsch, ihr Saubieste!“, donnerte er los. Wir anderen kehrten langsam ins Leben zurück. Mit einem gemeinsamen Vater-Unser zogen wir Richtung Dorf. Dort angekommen schirrten wir Hansi aus. rieben und rubbelten ihn trocken, gaben ihm wohlverdientes Extrafressen. Am Sonntag saßen wir mit Hochwürden in der Sakristei. Wir konnten immer noch nicht begreifen, warum die Feinde, die Fremden nicht haßerfüllt geschossen hatten. Manchen von uns ließ dieses „Versehen“ der Piloten, die Gnade der Mächtigen gegenüber Ohnmächtigen bis in späte Jahre nachsinnen, über die Menschlichkeit von „Unmenschen“.
„Ohse Hehr“ aber versuchte sich mit einer viel naheliegenderen Erklärung, theologisch fundiert, für uns damalige junge „Bock“ auch faszinierender: „Schutzengelle! Di hann owe em Jäje de Hänn an de Knöpp on heh onne üwe ohs jehahle!“
Und er murmelte etwas von einem „himmlischen Oberbefehlshaber“, dem wir alle unterständen, ob Freund, ob Feind. Dies leuchtete uns Jungen, gewöhnt an militärische Begriffe, ein und wir legten den Vorfall unter „Abenteuer“ in unserer Erinnerung ab. Erst später, viel später, gestand uns Hochwürden, seinen nun erwachsen gewordenen Meßdienern, seine Angst und Sorge um uns und seine bitteren Vorwürfe an sich selbst, uns dieser Gefahr ausgesetzt zu haben. So war er eben, unser Hochwürden, „ohse Hehr, ohse lehwe Hehr“.
„Ohse Hehr“ und seine verschwundenen „Panduffelle“
Es war die Zeit kurz nach Ende des 2. Weltkrieges; Frieden herrschte endlich im Lande, aber noch ging es wirr zu. Der Krieg hatte Klöhs und seine Mutter in unser Dorf verschlagen, sie wohnten in einem kleinen Anbau ganz in der Nähe des Pfarrhauses.
Die Meßdienerstunde war vorbei und wir alle eilten nach Hause: eigentlich ganz entgegen unseren sonstigen Gewohnheiten, aber es war ja auch der Vorabend des Namensfestes des heiligen Nikolaus und niemand wollte sich ohne triftigen Grund elterlich peinigenden Fragen oder himmlisch zornigem Tadel aussetzen.
Bei seinen Gängen außerhalb des Hauses trug Hochwürden derbe, hohe Schuhe, deren Sohlen zur Schonung mit großköpfigen Schuhnägeln „gepflastert“ waren. Zu Hause aber war er es gewohnt, seine von den vielen Fußgängen geschundenen Füße in seine bequemen, ledernen Hausschuhe zu stecken. Ihre Größe hatte die Phantasie vieler im Ort beflügelt. Hermann, unser Dorfbäcker, sah in ihnen Ähnlichkeit mit seiner„Teichmohl“; Hochwürdens Organist und Küster Johannes nannte die Hausschuhe seines Chefs schlicht und musikalisch „Jeijekeste“ und Köbes, als Schreiner in unserem Dorf nur als „Holzwurm“ bekannt, verglich sie despektierlich, aber berufsangemessen mit „Kendesärch“.
Und eben diese bequemen Hausschuhe fehlten am Vorabend des Nikolaustages bei Hochwürdens Rückkehr von einem Krankenbesuch. Alles Suchen war vergebens. Pauline, seine sonst allwissende und daher allgewaltige Haushälterin, war vergebens befragt worden. Sein getreuer Fido und der nachtumtriebige Saulus, aus dem nie ein braver und gesitteter Paulus geworden war, Hund und Katze als Mitglieder der pfarrhäuslichen Wohngemeinschaft, hatten den inquisitorischen Blicken ihres Herrn offenen Auges und schläfrigen Blickes standgehalten. Kurz und knapp lautete daher die Feststellung des um seine abendliche Entspannung gebrachten Pfarrherrn: „Paulin, ming Panduffelle sen fott!“ Zunächst übellaunig, dann mißmutig, letztendlich, wenn auch nicht gottergeben, so doch ruhiger gestimmt hatte sich Hochwürden in sein Studierzimmer zurückgezogen. Er hatte sich eine Zigarre gegriffen, war gerade im Begriff, sie sich anzuzünden, als die Glocke an der Pfarrhaustür bimmelte, nein, sie bimmelte nicht, sie läutete Sturm. Hochwürden hörte Pauline zur Tür eilen, erst Gewisper, dann Geflüster, dann Stimmengewirr. Schon keimten in ihm neue kriminalistische Überlegungen auf. Sein Spürsinn regte sich, während sich die um Inhalt und Worte seiner morgigen Predigt bemühenden und bemühten Gedanken legten. Während er noch unentschlossen dastand und mit sich rang, ob er seiner lasterhaften Neugierde nachgeben oder zwar angemessene, im Augenblick aber geheuchelte Zurückhaltung zeigen sollte, wurde die Tür seines Zimmers aufgerissen, eine vermummte Gestalt, an deren Hände riesige Hausschuhe schlotterten, stolperte herein, gefolgt von, nein, nicht dem Dorfgendarm, sondern Pauline. Aber ehe die Haushälterin noch zu erklärenden Worten ansetzen konnte, nahm der späte Besucher Kopftuch, Schal und Strickjacke ab und da stand – Kläuschens Mutter.
Zeichnungen: Uli Görtz
Sie schilderte, wie sie vor dem Bett ihres Sohnes die seiner Schuhgröße so gar nicht entsprechenden Hausschuhe entdeckt habe und, kindliche Gedankengänge nachvollziehend – je größer die Schuhe, umso mehr Plätzchen – und Zusammenhänge ahnend, diese nun dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringe.
Und nun startete „ohse Hehr“ seine nikoläusische Rettungsaktion. Nüsse, Äpfel, Plätzchen, Printen, Honig, ein Glas von Paulinchens selbstgemachter herrlicher Marmelade, einige Heiligenbildchen – eigentlich als Fleißkärtchen für den Religionsunterricht gedacht -, all diese Köstlichkeiten, für die damalige Zeit, wanderten in einen großen Leinenbeutel und dieser fand seinen Weg in Kläuschens Mutterzitternde Hände. Ach ja, da gab es noch ein Schreiben, in dem der heilige Nikolaus unter anderem die Meßdienerdienste seines kleinen irdischen Namensvetters im allgemeinen und dessen Kenntnisse der lateinischen Meßgebete im besonderen, wenn auch zuweilen zu sehr gehaspelt, lobte. Nachdem Hochwürden die Beteiligten mit erhobener Stimme zu strikter Verschwiegenheit ermahnt und mit eher leisen Worten seinen himmlischen Vorgesetzten und dessen getreuen Gefolgsmann, den heiligen Nikolaus, um Verständnis gebeten hatte, trennte sich die Schar der nikoläusischen Verschwörer.
Hier endet die Geschichte um Hochwürdens „Panduffelle“, wenn, ja wenn da nicht am nächsten Tag das jubelnde und jungenhaft laute Bekenntnis von Klein-Klöhs gewesen wäre. Frohlockend verkündete er unserer Meßdienerschar – dem zweifelnden Hans, dem ungläubigen Jupp, dem staunenden Pitte, und diesem hier und jenem dort: „Düss naach woe de hellije Niklohs heh. Däe kütt jo von drüwe, von de annere Seit vom Reng. Äe woe heh on hätt mie schwäe fill braach. Och en brehf, dann könnt ie lese, ech hann en debei. Der weiß alles, och dat mie en de mess rompele.“
So schnell hat wohl selten ein Heiliger die Schar seiner irdischen Verehrer an Zahl mehren können wie der heilige Bischof aus dem Osten, „von de annere Rengseit“.
Und daß dieser ehrwürdige Bischof gar noch Kenntnis von unserer „Rompeles“-Taktik hatte -wohlgesetzte lateinische Worte zu Anfang und Ende der Gebete, dazwischen sinnlose, aber dafür vernehmbar gemurmelte Lautfolgen – und dies dann auch noch per fristgerechtem Schreiben uns wissen ließ!
Wer konnte aber auch etwas ahnen von Hochwürdens nikoläusischer Verschwörung um Plätzchen, Printen und „Panduffelle“.