Die Bobfahrer zu Staffel
Die Bobfahrer zu Staffel
Franz Koll
Viel war es nicht gewesen, was wir Anfang Februar 1945 aus den Trümmern des Bonner Hauses gezogen harten. Neben einigem noch halbwegs Brauchbarem waren es zwei blaue Bücher, die mir sehr am Herzen lagen. Mutter hatte sie von den Nazis ganz unerbeten als Anerkennung erhalten, da man ihr unterstellt hatte, sie habe ihren Sohn 1936 eigens dem Führer zur Olympiade geschenkt.
Andererseits: Auf dem Plattmann, jener unsäglichen Kiste mit zwei Kufen, einen ganzen Winter lang „Mottele“ hinunterzurutschen, war auch nicht das Wahre. Jemandem, der die blauen Bücher in- und auswendig kannte, stand der Sinn längst nach Höherem – allerdings auf ganz andere Weise, als es sich die Herausgeber ursprünglich vorgestellt haben mochten.
Olympia-Bilder als Anregung
Als wir dann zum Überleben nach Staffel kamen, nahm uns Tante Maria bereitwillig auf. Nur wegen der blauen Bücher kamen ihr Bedenken, denn außen trugen sie die sattsam bekannten Insignien, und innen gab es Fotos siegessicher blickender Herren in prächtiger Uniform. Ich versprach der lieben Tante also, die Bücher einstweilen zu beseitigen, wickelte sie in einen alten Kartoffelsack und verbarg sie in einem Kellerloch. Dort ruhten sie wohlverwahrt; weder Amerikaner noch Franzosen konnten den befürchteten Anstoß daran nehmen. Erst im folgenden Herbst kamen sie wieder zum Vorschein, als Onkel Alois die Kartoffelrutsche an das besagte Kellerloch legte.
Da war aber die unmittelbare Entdeckungsgefahr bereits vorüber, und ich konnte mich ungehindert der Betrachtung der Olympia-Bilder widmen. Bis in den Winter hinein verging kaum ein Tag, an dem ich nicht eines der Bücher aufschlug. Als dann der Schnee hoch lag und der Bach über Wochen zugefroren war, versuchte ich zuweilen, es den großen Vorbildern von Garmisch-Partenkirchen gleichzutun – mit höchst untauglichen Mitteln, wie sich in aller Regel alsbald herausstellte. So war meine Kunst auf schäbigen Wehrmachtsskiern, einem roten und einem 20 cm längeren blauen, nicht weit her.
Vom Plan zum Bau des Bob
Ein Foto ganz besonders ließ mich nicht mehr los. Vier auffällig kräftige Schweizer standen da um ein Gefährt, das dem Text zufolge Bob hieß. Ich las das Wort immer wieder und sprach es voller Bewunderung murmelnd vor mich hin:
„B-o-o-b“, mit lang gedehntem, geschlossenem o also, so wie „Lob“. Es kurz und offen zu sprechen, erschien mirabwegig, denn das wäre ja hinausgelaufen auf den Namensklang des amerikanischen Soldaten, der im Frühjahr an der Kapelle Wache geschoben hatte und Bob genannt wurde. Für mich war also das, womit die Schweizer siegreich durch die olympische Eisrinne gefegt waren, ganz eindeutig ein B-o-o-b. Und mit einem solchen B-o-o-b, so malte ich mir aus, wäre auch im winterlichen Staffel Spannendes anzustellen gewesen. Aber Staffel war nicht Garmisch; ich schlug mir’s also aus dem Kopf.
Erst zwei Winter später regte sich die B-o-o-b-Idee wieder, und diesmal reifte mein Entschluß zur Tat. Als nämlich Wingerde Matthes „an de Jemeen“ schellte, bat ich ums Wort, trat mutig in den Kreis der Umstehenden und trug klopfenden Herzens meinen B-o-o-b- Plan vor: Allenthalben verständnisloses Kopfschütteln. Es bestand also nicht das geringste Interesse, zumindest nicht auf Seiten der versammelten Erwachsenen. In den 40 Staffeler Häusern gab es aber eine gute Handvoll Jungen etwa meines Alters. Die suchte ich reihum auf, um sie für die B-o-o-b-Sache zu gewinnen. Einer winkte naserümpfend ab, ein anderer hätte außer beachtlichem Gewicht für den Schlitten weiter wenig mitgebracht. Denn zunächst schienen mir vor allem Gaben wie Unternehmungsgeist und Konstruktionssinn gefragt. Diesem Anspruch genügten schließlich, neben mir selbst natürlich, Hannes, Berthold und Helmut, bei dem wirauf der Scheunentenne ungestört werkeln durften. Wesentliche Bauteile waren die beiden Plattmänner von Helmut und mir, zwei kräftige Eichenklötze vom Brennholzstapel, ein reichlich zwei Meter langes Brett, zwei heugestopfte Säcke als Sitzpolster, eine lange Schraube und ein Kälberstrick. Daraus entstand an den Nachmittagen, während halb Staffel in „Mottele“ rodelte und sich offen über uns Spinner lustig machte, hinter verschlossener Tür unser B-o-o-b. Nicht ganz wohl war uns lediglich beim Anblick der mächtigen rostigen Schraube, die wir in der Dorfschmiede gefunden hatten und um die sich der vordere Plattmann beim Lenken drehen lassen sollte. Das obere Ende ragte bedrohlich nackt und hart aus dem Bohrloch über die Brettkante. Von der Funktionstüchtigkeit unserer Seilzugsteuerung nach Schweizer Art mittels Staffeler Kälberstricks waren wir fest überzeugt. Auf eine Bremsvorrichtung im eigentlichen Sinne glaubten wir verzichten zu können. Im unwahrscheinlichen Bedarfsfall wollten wir spontan unsere genagelten Absätze gebrauchen.
Abfahrt des Viererbob vor großem Publikum
Ende Januar, samstags vor Lüftildiskirmes, war es soweit: Zu viert zogen wir den Eigenbau-B-o-o-b in der Abenddämmerung heimlich und unbemerkt, wie wir annahmen, „op de Schleef“, um einen ersten Versuch unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu wagen. Wie auf einen geheimnisvollen Wink jedoch verließen alle Rodler „Mottele“ und begaben sich zur „Schleef“. Dort bildeten sie ein für Staffeler Verhältnisse ansehnliches Spalier. Auch eine Menge Erwachsener fand sich ein. Selbst Frühne Weilern, der größte Spötter im Dort, stand da und blickte ungewöhnlich ernst und gespannt drein.
Eifelwinter am Steinerberg in den 50er Jahren.
Wir vier stapften den steilen Hohlweg hinan, machten dabei kurze Trarnpelschritte, um hernach bei der Abfahrt eine geeignete Spur zu haben und betrachteten die bobtechnisch heiklen Stellen der knapp 200 m langen Strecke. Ein Zurück gab es nun nicht mehr, wenn wir uns auch hin und wieder verstohlen ansehen und am liebsten unter einem Vorwand kehrtgemacht hätten. Am Startpunkt angelangt, gaben wir uns Mühe, ruhig und sicher zu wirken. Die ersten Sterne traten funkelnd vor den schwarzblauen Himmelsvorhang. Feierliche Stille lag über dem Schneehang. Nur das Mondgesicht schien leicht amüsiert an diesem Abend über die vier Wichtigtuer und ihre letzten Vorbereitungen zur Abfahrt. Wir sprachen nun kaum noch. Nur Berthold bewegten weiterreichende Gedanken. Hastig schlug er ein Kreuz und röchelte: „Heiich Lüftildis, bitte für ons!“ Mich brachte das ziemlich aus der Fassung; heiser kommandierte ich: „Nix wie eraaf!“
Helmut schwang sich als erster an seinen Platz, wickelte die Enden der Lenkseile um die Hände, riß nervös daran und setzte die Füße auf die abstehenden Lattenstutzen. Berthold und Hannes kauerten sich hinter Helmut auf das Heusackpolster. Ganz vorsichtig stieg ich als letzter auf. „Ferdech?“ fragte ich nach vorne. Angespanntes Kopfnicken. Ich schlug den Bremsstein vor der rechten hinteren Kufe weg; der B-o-o-b setzte sich rumpelnd in Bewegung und gewann zügig an Fahrt. Die beiden vor mir wurden fast zu Nichtsen, so sehr krochen sie in sich. Eisig schnitt mir der Fahrtwind ins Gesicht. Hannes geriet unabsichtlich mit dem linken Fuß in den Schnee. Der stob mir derart in die Augen, daß ich Strecke und Zuschauer kaum mehr wahrnahm. Ich preßte die Lider zusammen und klammerte mich an das Sitzbrettende. Unsere Hoffnung ruhte nun ganz auf der einfachen Lenkmechanik unserer B-o-o-bs und auf Helmut, der sie bediente.
Der Schlitten schoß nun nach atemberaubender Beschleunigung auf die Zielkurve zu. Für einen Augenblick war ich versucht, die Absätze mit aller Kraft bremsend in den Schnee zu stemmen, als wir auch schon in abenteuerlicher Schräglage die Böschung des Querweges entlangdonnerten. Dort war es holprig, und der Schnee lag tief und ungespurt. Wegen seiner geringen Plattmannbodenfreiheit fuhr sich der Bob sogleich fest und kam abrupt zum Stehen. Wir vier rutschten über das vordere Schlittenende mit der herausragenden Schraube und landeten in einer nahen Schlehenhecke.
Die Zuschauer liefen hinzu, verhielten sich aber wohltuend mitfühlend. Niemand lachte schadenfroh, während wir aus dem dornigen Gestrüpp krochen und den Schnee von den Kleidern klopften. Uns war nichts weiter geschehen; nur Helmuts linkes Hosenbein hatte einen Schlitz bis zur Hüfte, und darunter blutete es aus einer ziemlich langen Rißwunde.
Die Blamage
Näher ging uns die Blamage, die wir an diesem sternklaren Winterabend „op de Schleef“ vor den Augen von ganz Staffel erlitten hatten. Schweigend und niedergeschlagen zogen Hannes und ich den Schlitten aus dem Schnee, setzten den verletzten Helmut darauf und machten uns auf den Heimweg. Berthold ging nebenher und stützte den auch seelisch arg mitgenommenen Lenker unseres B-o-o-bs.
Zu Hause bei Helmut kümmerten wir uns zunächst um dessen Wunde und schoben dann den Schlitten der uns im Vergleich zu den erfolgreichen Schweizern so wenig Ehre eingetragen hatten, in die Scheune, wo wir ihn mit so viel Begeisterung gebaut hatten. Dort verhüllten wir ihn mit einer Plane und ließen vorerst offen, ob wir es den Staffelern bei einem weiteren Versuch nicht doch noch zeigen sollten.
Dem Vernehmen nach blieb es aber bei der bislang einzigen Fahrt eines Viererbobs „op de Schleef“ zu Staffel.
Winterwald an der Hohen Acht, 1968