Das französische Zentralabitur nach dem Zweiten Weltkrieg – Erinnerungen einer Schülerin vom Calvarienberg
Die französische Besatzungsmacht führte ab 1947 in ihrer Besatzungszone eine zentrale Abiturprüfung ein. Dabei trat als tiefgreifende Neuerung ein Punktesystem an die Stelle der bisherigen Noten. Die Prüfungsthemen in den einzelnen Fächern galten verbindlich für alle Schulen der französischen Besatzungszone. Vor allem die mündliche Prüfung sollte nicht mehr an den einzelnen Schulen wie bisher stattfinden, sondern in einem Prüfungszentrum, zu dem sich die Schülerinnen und Schüler begeben mußten, um von fremden Lehrern geprüft zu werden.
1948 traf die Abiturienten die ganze Härte der französischen Bestimmungen. Fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Oberprimen fiel durch die Prüfung. Zu den Nachteilen, welche die damalige Jugend in der frühen Nachkriegszeit auf sich nehmen mußte, kam dies noch erschwerend hinzu.Der Beginn des Schulwesens in der Nachkriegszeit
Am 1. Oktober 1945 begann nach einem schulfreien Jahr an allen Schularten wieder der Unterricht. Im Sommer 1944 waren die Schulen geschlossen worden, da der zunehmende Luftkrieg und die Endphase des Zweiten Weltkrieges keinen geregelten Unterricht mehr zuließen. Zusätzlich war wegen häufiger Fliegerangriffe das Leben der Fahrschüler gefährdet, da Bomben gezielt auf Bahnhöfe und Züge abgeworfen wurden.
Wie man sich vorstellen kann, mußte im Herbst 1945 zunächst überall improvisiert werden. Es fehlte an allem. Lehrbücher aus der nationalsozialistischen Zeit durften zum größten Teil nicht mehr benutzt werden. Neue Bücher gab es vorerst nicht. Hefte, Schreibmaterial und Anschauungsmittel waren äußerst knapp. Man konnte froh sein, wenn Kreide für den Tafelanschrieb vorhanden war.
Erschwerend kam hinzu, daß auch Nahrung und Kleidung nur mit viel Mühe beschafft werden konnten. Die Versorgungslage in der Nachkriegszeit war äußerst schlecht, da alle Vorräte aufgebraucht waren. Von dem, was einem auf Lebensmittelkarten zustand, konnte niemand existieren. Daher mußte jeder eigene Anstrengungen unternehmen, das hieß „hamstern“ oder „maggeln“, soweit man Tauschobjekte einsetzen konnte. Wer einen eigenen Garten besaß oder einen Landwirt in der Familie hatte, konnte sich glücklich schätzen.
Ich erinnere mich, daß wir noch einige Monate vor dem Abitur 1948 für unsere Wirtin in Ahrwei-ler auf der Grafschaft unterwegs waren, um Farben und Malerartikel aus Altbeständen gegen Nahrungsmittel vom Bauernhof einzutauschen. Die Ausbeute eines Nachmittags stellte unsere Wirtin nicht immer zufrieden, obwohl sie sich große Mühe gab, vier Pennäler durchzufüttern.
Auch fehlendes Heizmaterial bereitete für die Durchführung des Unterrichtes große Schwierigkeiten. Daher saßen wir in der kalten Jahreszeit meist im Mantel – sofern wir noch einen besaßen – im Klassenraum. Zeitweise konnten die Schwestern auf dem Calvarienberg Holz verheizen, das wir Schülerinnen freiwillig in den Wäldern gesammelt bzw. abgeholzt haften. Da dies streng verboten war, legte man von der Schule aus Wert darauf, daß unsere Aktionen aus eigenen Antrieb erfolgten und nicht mit der Schule abgestimmt waren.
Einige Klassenkameradinnen brachten von zu Hause Briketts mit, so daß wir wenigstens ab und zu ein wenig Wärme genießen konnten. Im strengen Winter 1946/47 bekamen wir einige Monate Kohleferien, denn das Thermometer zeigte häufig 20 Grad unter dem Gefrierpunkt an. Außerdem fiel die Kohlenversorgung aus. Die meisten Lehrer gaben uns ein Bündel von Hausaufgaben auf, damit wir später nicht zuviel nachholen mußten.
Gruppe der „ Externen„, 1947.
Im Fach Deutsch, das auf dem Calvarienberg einen besonderen Stellenwert besaß, sollten wir mehrere Kurzgeschichten, Novellen und Romane lesen, u. a. den „Simplicissimus“. Es war sehr schwer, auf dem Land an diese Bücher heranzukommen. Doch es gelang mir und meinen Mitschülerinnen, die meisten davon auszuleihen. Als wir später Bericht erstatteten, bemerkte unsere Deutschlehrerin: „Ihr habt das ganze Werk gelesen? – Das ist ja schrecklich!“ Sie hatte nur die Kurzfassung gemeint und fürchtete nun um unser seelisches Gleichgewicht. Denn der Simplicissimus hatte ja ein sehr bewegtes Leben.
Es gab allerdings auch erfreuliche Ereignisse in dieser Zeit. Im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen spielte sich auf kulturellem Gebiet eine Menge ab. Da wir einen großen Nachholbedarf hatten, machten wir reichlich Gebrauch von den vielseitigen Angeboten. Die Nähe zu Bad Neuenahr machte es möglich. Im Winzerverein oder im Kurhaus wurden viele Schauspiele aufgeführt. Allerdings mußte jeder Theaterbesucher außer der Eintrittskarte jeweils zwei Briketts mitbringen, um den Raum heizen zu können.
Meine Mitschülerinnen und ich erinnern uns an unvergessene und herrlicheAufführungen. Dazu zählten u. a. „Macbeth“ und „Was ihr wollt“ von W. Shakespeare, „Der seidene Schuh von Paul Claudel“, „Des Meeres und der Liebe Wellen“ von Franz Grillparzer sowie die Operette „Friederike“.
Da es damals fast nur „autofreie Zonen“ gab, zogen wir nach der Aufführung in langen Reihen per Arm über die Straßen nach Ahrweiler zurück. Bei strenger Kälte kamen wir ziemlich durchgefroren zu Hause oder in unserem Quartier an. Aber später boten sich nie wieder solche preiswerten Theaterabende.
Häufig mußte auf der Bühne improvisiert werden. Aber die Schauspieler und Sänger begeisterten uns durch ihre ungeheure Motivation. Ihre Freude, endlich wieder auftreten zu können, spornte sie wohl zu besonderen Leistungen an. Aber sie trafen ja auch auf ein dankbares Publikum.
Auch Tanzkurse – Tanzkränzchen genannt -wurden eifrig besucht und bereiteten Pennälern Abwechslung und Freude. Die Gebühr von 40 Reichsmark konnten jedoch nicht alle aufbringen. Meistens waren auch die Fahrschüler leider davon ausgeschlossen.Die damaligen Verkehrsverhältnisse
Die Fahrschülerinnen des Oberlyzeums auf dem Calvarienberg und anderer weiterführender Schulen im Kreis hatten noch zusätzliche Hürden zu überwinden. Zunächst verkehrten die Züge sehr unregelmäßig. Viele Eisenbahnbrükken und Gleisanlagen waren ja durch Bombenangriffe zerstört, so daß anfangs zwischendurch Fußmärsche stattfinden mußten.
In der Nähe von Hönningen, Altenahr und vor allem sehr lange vor dem Ort Marienthai, stiegen die Bahnreisenden aus und gingen zu Fuß. Der Zug fuhr langsam weiter. Später konnte man wieder zusteigen.
Von der oberen Ahr, z. B. von Antweiler aus, wäre es unmöglich gewesen, jeden Tag den Zug von Dümpelfeld nach Ahrweiler zu erreichen. Denn der einzige Zug für den Schul- und Berufsverkehr fuhr bereits gegen fünf Uhr morgens von Adenau ab. Man hätte also jeden Morgen zwischen 5 und 5.15 Uhr am Umsteigebanhof Dümpelfeld sein müssen. Das ließ sich nicht ermöglichen, denn die Eisenbahnbrücke in Fuchshofen war zerstört. Von Antweiler aus brachten Pferdewagen die Reisenden nach Fuchshofen, und vom Tunnel ab konnten dann die Züge in Richtung Adenau fahren, aber zu einem späteren Zeitpunkt.
Die Fahrschüler von der Strecke Jünkerath-Dümpelfeld mußten sich daher in Ahrweiler oder Umgebung eine Bleibe suchen. Wegen der bereits geschilderten schlechten Versorgungslage war es in dieser Zeit sehr schwierig, ein Quartier zu finden. Außerdem hatte Ahrweiler durch Bombenangriffe sehr gelitten. Trotzdem ließen sich mehrere Familien in Ahrweiler auf einen Versuch dieser Art ein.
Im Rückblick muß ich sagen, daß es auch diesen Familien zu verdanken ist, daß wir unsere Ausbildung fortsetzen konnten.
Denn das Internat auf dem Calvarienberg war von auswärtigen Schülerinnen schon überfüllt. Am Samstag kehrten wir Wochenendfahrschüler jeweils nach Hause zurück, um Nahrungsmittel „zu fassen“ und frische Wäsche mitzunehmen. Da im ersten Jahr noch keine Anschlußzüge verkehrten, mußte man von Dümpelfeld aus zu Fuß gehen. Der Fußmarsch bin Antweiler dauerte jeweils zweieinhalb Stunden. Am späten Sonntagnachmittag ging es wieder zurück mit einigen Nahrungsmitteln und dem frischen Wäschebündel.
Einige Male konnten wir uns ein altes Fahrrad ausleihen und fuhren dann erst morgens nach Dümpelfeld. Auch das war eine schwierige Prozedur. Denn wegen der Zerstörung einiger Straßenbrücken mußten wir holprige Gehsteige benutzen und das Fahrrad tragen bzw. schieben. Die Räder hatten außerdem kein Licht. Daher vergewisserten wir uns durch Zurufe, ob andere Radfahrer noch vor oder hinter uns waren.
In den ersten vier Monaten wurden wir als Fahrgäste der Ahrtalbahn in überfüllten Viehwagen transportiert, später in Waggons, deren Fenster zerstört bzw. notdürftig mit Brettern vernagelt waren, ohne Licht und Heizung. Trotzdem konnte man froh sein, überhaupt wegzukommen. Später besserten sich die Zustände etwas.
Damals waren wir jung und haben diese Strapazen auf uns genommen. Denn der Krieg war zu Ende, und das bedeutete, ohne Angst leben zu können. Die Notsituation der ersten Nachkriegsjahre hielt jedoch manche Schüler davon ab, weiterführende Schulen zu besuchen.
Im Sommer 1944 hatten meine Mitschülerinnen und ich das Progymnasium in Adenau absolviert und verbrachten danach noch einige Wochen bis zum kriegsbedingten Schulschluß auf dem Calvarienberg. Man kann sich vorstellen, daß nach allem was geschehen war, im Oktober 1945 vielen die Motivation fehlte, die Schulausbildung fortzusetzen.Das Abitur 1948
Unsere Klasse, die Obersekunda, im Oberlyzeum auf dem Calvarienberg zählte im Herbst 1945 36 Schülerinnen. Etwa die Hälfte davon waren Interne. Ein Teil orientierte sich anderweitig oder brach die Ausbildung vorzeitig ab. Daher bestand unsere Oberprima im Frühjahr 1948 nur noch aus 20 Schülerinnen.
Wir hatten uns auf das Abitur gut vorbereitet.
Schülerinnen des Internats, 1947
Trotzdem stellte sich die bange Frage ein: Wie würde die französische Militärregierung dieses Mal verfahren? Es sickerten keine erfreulichen Nachrichten durch. Ein zentrales Abitur ist nur sinnvoll, wenn einheitliche Lehrpläne, entsprechende Lehrbücher und gleiche Voraussetzungen erfüllt sind.
So bangten wir der Woche entgegen, in der die schriftliche Prüfung stattfinden sollte und zwar vom 8.-11.Juni 1948.
An unserer Schule wurden vier Klausuren geschrieben.
1. Im Fach Deutsch standen drei Themen zur Auswahl:
a) Vom Fluch und vom Segen der Armut,
b) Vor- und Nachteile der Demokratie,
c) Am Übermaß zerbricht der Mensch, dargestellt an einem Beispiel aus der Literatur.
Diese Themen waren für alle Schülerinnen akzeptabel.
2. Im Fach Französisch verlangte man, eine arabisches Märchen wiederzugeben. Für die meisten Schüler waren die Märchen aus Tausendundeine Nacht „spanische Dörfer“. Einige bekannte deutsche Märchen kannten wohl alle und hätten sie notfalls in einer Fremdsprache wiedergeben können. „All Baba und die 40 Räuber“ oder „Aladin und die Wunderlampe“ haben mich und sicher auch andere Abiturienten gerettet.
3. Im Fach Englisch mußte man sich über die politischen Verhältnisse im damaligen Arabien äußern. Es dürfte schon schwer sein, in seiner Muttersprache dazu Stellung zu nehmen, erst recht in einer Fremdsprache.
4. Im Fach Mathematik waren die Aufgaben für uns zum Teil unlösbar oder nur für mathematische „Asse“ möglich. Soweit wir uns zurückerinnern können, handelte es sich um vier Aufgaben, u. a. aus der Sphärischen Trigonometrie und der Integralrechnung. Dieser Lehrstoff ist an vielen Schulen damals nur teilweise behandelt worden. Unsere privaten Arbeitsgemeinschaften in Mathematik, in denen wir häufig die halbe Nacht durcharbeiteten, hatten uns auch nichts genützt.
Nach dieser schriftlichen Prüfung, die für uns eine Katastrophe war, fieberten wir dem Tag entgegen, an dem wir die Ergebnisse erfahren sollten. Mit versteinertem Gesicht holte uns eine Schwester aus dem Klassenraum ab und brachte uns zur Leiterin der Schule, Mutter Leona. Sie empfing uns mit ernster Miene und verlas nach einer kurzen Erklärung die Namen derer, die das Ziel nicht erreicht hatten. Wir hielten uns an den Händen und konnten nicht fassen, was geschehen war. Auch diejenigen, die 40 Punkte (Mindestpunktzahl) und mehr erreicht hatten, freuten sich trotzdem nicht. Zu sehr war unsere Klassengemeinschaft getroffen. Von 20 Oberprimanerinnen fielen neun durch. Ähnliche Ergebnisse waren an fast allen Schulen des Landes zu verzeichnen.
Viele Zeitungskommentatoren befaßten sich mit dem traurigen Ergebnis und vor allem mit den z. T. schwierigen Themen.
Auf Druck der Öffentlichkeit durften später diejenigen, deren Mindespunktzahl 32 war und die noch den Mut und die Kraft besaßen, im Oktober 1948 einen zweiten Versuch zur Reifeprüfung starten.Mündliche Prüfung
Die anderen mußten sich nun bald mit der mündlichen Prüfung beschäftigen. Wirsollten in acht Fächern geprüft werden und zwar von Lehrern, die uns völlig unbekannt waren. So sah es die neue Regelung vor. Außerdem war die Prüfung öffentlich. Jedermann konnte zuschauen. Es ist nicht gerade motivierend, wenn während einer Prüfung auch noch „Zaungäste“ vorhanden sind. Die mündliche Prüfung fand in Andernach am 20. Juli 1948 statt.
Mittlerweile war auch politisch und wirtschaftlich einiges geschehen. Am 20. Juni 1948 wurde die neue Währung eingeführt. Jeder Deutsche erhielt 40,- DM, die man als Kopfquote bezeichnete. Von diesem Geld, unserem gesamten Kapital, mußten wir Abiturienten 20,-DM als Prüfungsgebühr abführen. Vom restlichen Geld bezahlten wir die Fahrt nach Andernach und wahrscheinlich noch etwas für das leibliche Wohl. Übrig blieb noch Kleingeld, um zu Hause anzurufen, ob es geklappt hatte.
Es war ein sehr anstrengender Prüfungstag. Wir erhielten jeweils kurze Vorbereitungszeiten für die einzelnen Fächer. Insgesamt waren es acht. Aus dieser Marathon-Prüfung versuchte nun jeder, das Beste zu machen. Natürlich mußten noch die Resultate abgewartet werden. Von unserer Schule konnten alle 11 Schülerinnen ihr Abitur „mit nach Hause nehmen“.
Gefeiert haben wir nicht, obwohl wir wirklich Grund dazu gehabt hätten. Die Solidarität mit unseren Mitschülerinnen, die sich genau so angestrengt hatten, war zu groß.
Auch im Jahr 1949 fand die mündliche Prüfung noch in Andernach statt; aber sonst verlief das Abitur in etwa wieder in gewohnter Weise. Die Reifeprüfungsordnung aus dem Jahre 1951 enthielt dann wieder die Bestimmung zur vollständigen Durchführung der Reifeprüfung an der jeweiligen Ausbildungsschule. Nach den drei Jahren, die neben erfreulichen Ereignissen ein steiniger Weg waren, begannen die meisten von uns mit der beruflichen Ausbildung. Trotz allem, was wir an Schwerem erlebt hatten, trugen wir den Glauben an eine bessere Zukunft in uns, die wir mitgestalten durften.