„Wenn widde mol et Huhwasser kütt!“ – Hochwasserfluten gehören am schönen Rhein dazu
Ein Jahrhundert geht zu Ende – doch die „Jahrhundertfluten“ am Rhein werden bleiben – Und dies auch noch nach dem Jahr 2000. Garantiert! Indes, beginnen wir zunächst einmal mit einer Rückschau auf die zehnmal hundert Jahre unserer Zeitrechnung, die nunmehr hinter uns liegen.
Es ist zwar schon so unendlich lange her, dass man es heutzutage kaum noch glauben mag. Aber eine alte Chronik vermeldet es schwarz und weiß: Im Jahre des Herrn 1342 hatte sich der Vater Rhein so übermächtig aus seinem Bett gewälzt, dass seine überquellenden Fluten sogar am mitten in der Stadt gelegenen Hohen Dom zu Mainz hilfswilligen „Mannsleuten bis zum Gürtel reichten“. (Vgl. Bruno P. Kremer “Hochwasser am Rhein – Ursachen, Abläufe, Bewertungen“ in Blätter zur Rheinischen Heimatpflege, 33. Jahrgang – 1/96.)
Anno dazumal rieben sich dann auch weiter rheinabwärts die alten ‚Rittersleut’ auf ihren mittelrheinischen Höhenburgen verdutzt die Augen, als sie nach unten ins Flusstal schauten und die urgewaltige Kraft der dahinschießenden Flutwellen gewahrten, die alles mit sich rissen, was ihnen im Wege war.
Die Dorfflecken längs des Stroms, wie etwa Breisig, Remagen, Oberwinter, Rolandseck in unserer heimatlichen Region, waren damals im Mittelalter noch nicht gefährdet, denn statt Rheinanlieger gab es dort zu dieser Zeit nur sumpfige Brackwasserwiesen. Aber in den größeren Ortschaften oder Stadtsiedlungen, die wie Koblenz, Andernach, Bonn und Köln bereits über Hafenanlagen verfügten, bereitete der gute Vater Rhein den Handelsherrn, den Fischern und den Schiffern beträchtliche Unbill und großen Kummer.
Apropos Bonn – Wenn man heutzutage auf dem stets geschäftig so belebten Bonner Münsterplatz den einen oder anderen der Passanten fragen würde, ob er sich hier mitten im Stadtzentrum eine Überflutung durch Rheinhochwasser vorstellen könne, wäre allenfalls ein mitleidiges Lächeln ob solcher Spinnerei die Antwort. Doch weit gefehlt: Im Kreuzgang der Bonner Münster-Basilika ist heute noch eine eingemauerte Hochwassermarke zu besichtigen, die an eine im Jahre 1784 tatsächlich bis dorthin vorgedrungene katastrophale Rheinüberflutung erinnert. (Vgl. ebenfalls Bruno P. Kremer “Hochwasser am Rhein – Ursachen, Abläufe, Bewertungen“).
Hochwasser 1926: In Niederbreisig war auch das ehemalige Waisenhaus von den Fluten umspült.
Wer am großen Strom lebt – mit 1326 Kilometer Länge ist der Rhein hinter der Donau immerhin der weitläufigste und wasserreichste Fluss Mit-teleuropas – der weiß, dass dort Hochwasser ein unabwendbares Naturereignis ist. Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Da nützen heutzutage auch die vielfältigen wissenschaftlichen Ursachenforschungen und die immer wieder von Wasserwirtschaftlern und Fachbehörden diskutierten Schutz- und Vorsorgemaßnahmen nicht viel.
Das wissen die Rheinanlieger und deshalb beteiligen sie sich auch nicht so sehr an diesen theoretischen Diskussionen, sondern halten es ihrerseits mit jener urrheinischen Erkenntnis ihrer Vorfahren:
„Et kütt wie et kütt und wenn et Wasser widder mol kütt, dann kütt et eve. Wat wills de maache!“
Hochwasser 1983: Die Feuerwehr baut Stege für die Betroffenen in Remagen.
„Jahrhundertfluten“ – eine von den bedrängten Anwohnern erfundene Bezeichnung – hat es am großen Strom also immer schon und immer wieder gegeben und dies ohne berechenbare Systematik. Wann kommt wieder mal die ganz große Flut? Alle hundert Jahre? Alle fünfzig, zehn oder gar alle fünf Jahre? Der alte Vater Rhein kennt keine statistischen Zeitmaße und lässt sich in seinem unbändigen Willen, dann und wann gar mächtig aus dem Bett zu treten nicht beeinflussen.
Seit nunmehr 179 Jahren gibt es die regelmäßigen amtlichen Wasserstandsbeobachtungen am Rhein und wenn wir aufgrund dieser Notierungen nach seitdem eingetretenen Rekord-Hochwässern forschen, finden wir in der Statistik am Mittelrhein folgende Jahresdaten: 1824 und schon ein Jahr später, 1825, erneut. Das gleiche Ungemach erlebten die Rheinanwohner 1844, 1845 und 1882. Dann legte unser ansonsten so romantisch verklärter und viel besungener Geselle mal wieder eine längere Pause ein. Erst im Jahre 1918 stieg er wieder übermächtig aus seinem Bett, um in der Folge in den Jahren 1920, 1925, 1926, 1982 und 1983 erneut zuzuschlagen. Und wiederum zog sich unser unberechenbarer Geselle in den folgenden Jahren so weit zurück, dass mancher gar glauben mochte, er habe sich nun wohl auf ein künftig einigermaßen manierliches Verhalten besonnen. Nach der großen Flut vom April 1983 wurde im Spätsommer 1983 mit einem Tiefstpegelstand von 76 Zentimeter (Pegel Andernach) sogar ein extremes Niedrigwasser verzeichnet. (Normal-Pegelstand üblicher Weise um drei Meter.)
Dann aber kam der Dezember 1993 und unser Vater Rhein schlug wieder mit unbändiger Schnelle und Gewalt zu. Auch die erfahrenen Meterologen vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach hatten trotz argwöhnischer Beobachtung der umfangreichen Tiefdruckgebiete, die mit stürmischer Westdrift vom Atlantik herandrängten, deren rapides Tempo und ihr enormes Niederschlagspotential unterschätzt. In den Tagen zwischen dem 8. und dem 18. Dezember ergossen sich derartige Regenmassen auf das Land zwischen Mosel, Saar und Nahe, wie auch rechtsrheinisch im Bereich von Schwarzwald, Taunus und Westerwald, dass bereits in kurzer Zeit die übliche mittlere Niederschlagsmenge von Dezember-Monaten um ein Vielfaches überschritten wurde. Es war also diesmal nicht, wie schon so oft vorher, eine plötzliche Schneeschmelze in den Alpen, die Vater Rhein zum nachhaltigen Überschwappen brachte, sondern es war der Regen. – Ohne Pause Regen und immer wieder Regen!
Die Remagener Rheinuferpromenade beim Hochwasser 1993.
Der Wehrleiter der freiwilligen Feuerwehr der Stadt Remagen, Eduard Krahe, hat nach der gewaltigen Sintflut vom Dezember 1993, die Remagen nebst seinen Stadtteilen Oberwinter, Rolandseck und Rolandswerth die höchste Überflutung seit 68 Jahren brachte, eine exakte Dokumentation jener dramatischen Tage verfaßt. Nur um die Jahreswende 1925/26 hatte das Wasser in Remagen noch achtzehn Zentimeter höher gestanden, als es diesmal mit einem Höchstand von über neun Metern den Rheinanlieger-Bereich überflutete. Man muss hier zum Vergleich dagegen stellen, dass die normale Wasserhöhe im Rheinbett bei Remagen bei rund 2,50 Metern liegt.
Aber nun: Am 23. Dezember 1993 meldete der Pegel Koblenz mittags um 13 Uhr einen Wasserstand von 9,52 Meter (!)
Der Autor zitiert mit freundlicher Erlaubnis des Wehrleiters Eduard Krahe auszugsweise aus dem Einsatztagebuch der F.F. Stadt Remagen (Wasserwehr):
Sonntag, 19. 12. 1993:
„Heftige Regenfälle führen in den Einzugsgebieten von Rhein und Mosel zu Überflutungen auch bei kleinen Nebenflüssen und Bächen. Die Ahr führt bereits Hochwasser. Die Böden sind durch die seit längerem anhaltende Schlechtwetterlage gesättigt und können kein Wasser mehr aufnehmen.
Montag, 20. 12.:
Um 10 Uhr werden am Pegel Koblenz 5,25 Meter gemessen. Der Rhein steigt (abwärts Koblenz) um 2 bis 5 Zentimeter pro Stunde.
Dienstag, 21. 12.:
Das Wasser steigt jetzt um 8 bis 10 Zentimeter pro Stunde. Um 17 Uhr ist bereits ein Pegelstand von 7,35 Meter erreicht.
Mittwoch, 22. 12.:
Die Hochwassermarke von 8,76 Meter (gleich dem Höchststand von 1983) wurde um 9 Uhr überschritten. Für die Remagener Feuerwehr beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Die Einsatzkräfte sind rund um die Uhr im Einsatz.
Donnerstag, 23. 12.:
In der vergangenen Nacht wurde überall in der Stadt Remagen gegen die Wasserfluten gekämpft. Bis zur totalen Erschöpfung der Einsatzkräfte, ohne Schlaf oder Ruhepausen ging es im Einsatzdienst weiter.
Gegen 10 Uhr morgens ist die Höchstmarke 9,52 Meter erreicht. In den Nachmittagsstunden ist dann die Scheitelwelle in Remagen durch. Das Hochwasser geht mit 1 bis 2 Zentimetern pro Stunde langsam zurück.
Freitag, 24. 12. (Heiligabend):
Die Trinkwasserversorgung von Remagen und Kripp ist gefährdet. Aber das Wasser weicht weiter, wenn auch nur sehr langsam, zurück.
Samstag, 25. 12. und Sonntag, 26. 12. (l. und 2. Weihnachtstag):
Straßenzüge werden gereinigt und Keller ausgepumpt. Öleinsätze häufen sich. Das ganze Ausmaß der Schäden wird sichtbar.
Mittwoch, 29. 12.:
Eine zweite Hochwasserwelle ist im Anmarsch und erreicht nach Neujahr einen Stand von 7,39 Meter.“
Heiligabend und die Weihnachtstage über in einer ringsum umspülten Wasserburg an der Remagener Rheinpromenade. Der Autor, vor gut fünfzehn Jahren der landschaftlichen Schönheit am großen Strom wegen nach Remagen direkt an den Rhein gezogen, erinnert sich noch gut an jenes außergewöhnliche Weihnachtsfest des Jahres 1993. Zwei Tage und Nächte über waren die Bewohner der Häuser Rheinpromenade 46 und 47 eingeschlossen, konnten – da auch die Notstege inzwischen überflutet waren – nicht mehr nach draußen. Fast zwei Meter hoch gurgelte Vater Rhein im Erdgeschoss.
Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man dann oben im dritten Stock auf dem Balkon steht und auf die schmutzige braune Brühe blickt, die unten das Haus mal träge, mal wirbelnd, umspült.
Na ja, dritter Stock, zehnmeterfünfzig über Straßenprofil. Da kann in der Wohnung nichts passieren. Aber die bedauernswerten Mitbewohner im ersten Geschoss! Mit dem Zollstock in der Hand hockte der Nachbar dort auf seinem Balkon und maß immer wieder die Wasserhöhe. Er hat Glück gehabt. Noch zehn Zentimeter mehr und die Brühe wäre ihm über den Balkon in seine Wohnung geschwappt.
Aber auch eine beklagenswerte Randerscheinung muß in diesem Rückblick noch erwähnt werden. Beschränkt sich in unserer sensationsgierigen Gesellschaft von heute das „Mitgefühl“ der Nichtbetroffenen wirklich nur noch auf Neugierde und Gafflust? So ist es wohl. Denn wie wäre sonst das Phänomen des Hochwasser-Tourismus zu erklären, der wie andererorts auch in Remagen die Schaulustigen gleich scharenweise in die Sichtweite der vom Hochwasser Betroffenen trieb.
„Nicht gaffen, sondern mithelfen!“ fühlte sich am zweiten Weihnachtstag der Autor verärgert veranlasst, einer jener Gaffergruppen zuzurufen. Ein Einziger (!) unter jenen hat es sich tatsächlich zu Herzen genommen. Kaum zu glauben, aber eine halbe Stunde später erschien er im Bundeswehr-Tarnanzug und Gummistiefeln, um bei den ersten Säuberungs- und Aufräumungsarbeiten tatkräftig mitzuhelfen. Einer von vielen, aber immerhin!
Auch Wehrleiter Krahe hatte in seinem Bericht Grund, vielfach mangelnde Hilfsbereitschaft von Mitbügern, und nicht nur das, sondern auch massive Kritik an der unermüdlichen Arbeit seiner ehrenamtlich tätigen Einsatzkräfte zu beklagen. Und auch unter den Betroffenen selbst, so muß ebenfalls vermerkt werden, gab es „Witzbolde“, um es gelinde auszudrücken.
So heißt es in dem Bericht des Rema (Zitat) „Der Erwartungsdruck aus der Bevölkerung war außergewöhnlich groß. Es kam zu einer ganzen Reihe böswilliger und zeitaufwendiger Alarmierungen und Anfragen. So forderten einige Bürger die Feuerwehr sogar auf, für sie Zigaretten (!) zu holen; andere verlangten, bei ihnen sofort das Wasser auszupumpen. Sie seien schließlich Steuerzahler und die Feuerwehr müsse sofort kommen.“
Nun, so denkt der Autor, um eingesessene Rheinländer, die wissen, dass Vater Rhein eben nicht immer nur der gutmütige Geselle im Schunkeltakt ist, und die wie ihre Väter und Vorväter, gelernt haben, auch mit seinem dann und wann überschäumenden Temperament zu leben, kann es sich bei solchen Zeitgenossen wohl nicht gehandelt haben.
Mit dem Wasser leben! Beschließen wir also unsere „Jahrhundert-Wasserschau“ mit einem letztendlichen Blick auf die aktuellen Daten. Im November 1998 und dann wieder im Februar 1999 hat sich Vater Rhein wiederum hochgereckt, in beiden Fällen allerdings, den Regen- und Schneegöttern sei es gedankt, nur mit warnenden Drohgebärden. „Aufgepasst – da bin ich wieder und nach wie vor übervoll an ungezügeltem und von Zeit zu Zeit auch kräftig überschäumendem Temperament!“
Und so werden die Rheinanwohner in unserer Heimatregion zwischen Brohl und Rolandswerth ebenso wie auch anderwärts am großen Strom die eine Gewissheit in jedem Falle mitzunehmen haben ins neue Jahrtausend, die Gewissheit, die da lautet:
Et nächste Huhwasser kütt bestimmp!