Der schwierige Weg zur evangelischen Heimvolksschule in Vettelhoven (1948 – 1973)
Lehrer Günter Lahm hat 1952 an den Anfang seiner „Notizen für eine Chronik der einklassigen Volksschule in Vettelhoven“1)den Satz gestellt: „Gründung und Einrichtung des Dr. Schneller’schen Kinderheimes in Vettelhoven im Jahre 1948″. Was hier so lapidar festgestellt wurde, beinhaltet bereits eine ganze Geschichte. Die Leitung des in Köln befindlichen Schneller’schen Waisenhauses hatte beschlossen, unmittelbar nach der Währungsreform das 1890 erbaute Schloss Vettelhoven2) von der Familie de Weerth zu kaufen. Schloss Vettelhoven gehörte damit zu den Schneller’schen Anstalten, die in Deutschland und international als evangelisches Sozialwerk tätig waren. Im Jahr 1860 war diese Einrichtung von dem schwäbischen evangelischen Theologen Johann Ludwig Schneller3) gegründet worden.
Von Köln nach Vettelhoven
Die Nachkriegsjahre ließen es angesichts der vielen Familien, die oftmals unverschuldet in Schwierigkeiten geraten waren und deshalb mit den eigenen auffälligen oder verhaltensgestörten Kindern nicht mehr zurechkamen, der Leitung des Waisenhauses ratsam erscheinen, fernab von der Großstadt Köln in dörflicher Umgebung im Schloss zu Vettelhoven für solche Kinder eine neue Lebensmöglichkeit zu eröffnen. In Diakon Friedrich Hammer fand man einen Heimleiter, der bereit war, mit einigen Mitarbeitern diese nicht leichte Aufgabe zu übernehmen. Nach notwendigen Renovierungen und einer entsprechenden Einrichtung für die zu erwartenden Kinder zogen am 14. März 1949 mit der Eröffnung des Heims über 100 Kölner Jungen und Mädchen nach Vettelhoven4). Etwas mehr als die Hälfte dieser Kinder war im schulfähigen Alter. Das bedeutete, dass sie vom Schloss aus jeden Morgen zur nahe gelegenen einklassigen, katholischen Volksschule zu gehen hatten, um dort am Unterricht teilzunehmen. Damit aber war plötzlich ein Konflikt in das Dorf Vettelhoven und seine Schule gebracht, den es bis dahin nicht gegeben hatte, und der augenscheinlich von der Leitung des Kölner Waisenhauses nicht bedacht worden war.
Denn der in Vettelhoven tätige Hauptlehrer Schiffer, der in seiner Schule über dem einzigen im Erdgeschoss befindlichen Klassenraum in der ers-ten Etage mit seiner Familie in der Lehrerdienstwohnung lebte, sah sich Anfang des Jahres 1950 nicht mehr wie bisher 45, sondern plötzlich 107 Schülern und Schülerinnen gegenüber. Die bis dahin bei allen Schülern gleiche Konfession gab es nun nicht mehr, weil alle Heimkinder evangelisch waren.
Heute im Zeitalter der christlichen Gemeinschaftsschule, in der neben christlichen Kindern ebenso konfessionslose wie auch Schüler anderer Religionen unterrichtet werden, kann kaum noch nachempfunden werden, was gerade auch diese konfessionelle Überfremdung nicht nur für die Schule, sondern auch für die Eltern und ganz Vettelhoven bedeutet hat. Aus räumlichen und pädagogischen Gründen war es klar, dass diese Kinder nicht in einer Klasse unterrichtet werden konnten. Es musste deshalb Schichtunterricht eingeführt werden, der so organisiert wurde, dass wochenweise alternierend die Hälfte der Schüler am Vormittag und die andere Hälfte am Nachmittag zur Schule gehen musste. In der bereits erwähnten Chronik von Lehrer Lahm findet sich zu dieser Situation der Satz: „Das Dorf versucht, die Aufnahme eines geordneten Unterrichts der Heimkinder an der katholischen Schule zu verhindern“. Das bezog sich nicht nur auf Proteste der Eltern, sondern auch auf Anfragen der Gemeindeverwaltung bei der Schulbehörde in Ahrweiler. Denn weil selbstverständlich für alle Kinder in Vettelhoven Schulpflicht bestand, hatten sowohl die Heimkinder als auch die Kinder des Dorfes je nach Stundenplan entweder vormittags oder nachmittags den Unterricht zu besuchen. Das aber war von dem bisher nur für die einklassige, katholische Volksschule zuständigen Lehrer nur kurzfristig zu bewältigen. Denn wie sollte er unter diesen Umständen für alle Schüler des ersten bis achten Schuljahrs einen inhaltlich befriedigenden und geregelten Unterricht erteilen?
Weil dieser Konflikt auf der dörflichen Ebenen nicht gelöst werden konnte, musste die Kreisverwaltung in Ahrweiler handeln, um es in Vettelhoven nicht zu einem Schulstreik kommen zu lassen. Schulrat Thunert entschied angesichts der unhaltbaren Situation schnell. Der Akademiestudent5) Plachner wurde noch vor seinem 1. Staatsexamen beauftragt, in Vettelhoven täglich nachmittags die Unterstufenkinder zu unterrichten, während Hauptlehrer Schiffer am Vormittag die Oberstufe betreute. Damit aber war der Konflikt nur organisatorisch entschärft. Denn in beiden Gruppen saßen in der nach wie vor katholischen Volksschule Schüler beider Konfessionen, was weder von der Schulgesetzgebung her zu rechtfertigen war, noch von den katholischen Eltern aus Vettelhoven akzeptiert wurde. Da es aber keine räumliche Alternative zur Vettelhovener Schule gab, und die Leitung des Kinderheims keinerlei Versuche für eine Abhilfe unternahm, musste der als so bedrängend empfundene Zustand mit wechselnden Lehrern durchgehalten werden. Das sah in der Praxis so aus, dass der zugewiesene Student sofort nach seiner Prüfung die Schule verließ, um an anderer Stelle in Rheinland-Pfalz eine seiner Ausbildung entsprechende leichtere schulische Aufgabe zu übernehmen. Dieser Wechsel wiederholte sich in den nächsten zwei Jahren permanent:Auf den Studenten Plachner folgte der Student Graf, nach ihm Günter Lahm, der allerdings bis zum November 1952 warten musste, bis er in eine andere Planstelle versetzt wurde.
Das Schnellersche Kinderheim auf einer Postkarte, um 1960
Natürlich war die unmögliche schulische Versorgung an der Vettelhovener Schule bei der Kreisverwaltung bekannt. Besonders die gesetzeswidrige simulante Unterrichtssituation in der katholischen Schule bereitete dem Schulrat Probleme. Er entschied daher, dass der zugewiesene evangelische Student Lahm alle schulpflichtigen evangelischen Kinder in einer Klasse zusammenfasste und abwechselnd mit der katholischen Klasse von Lehrer Schiffer vormittags und nachmittags zu unterrichten habe. Damit war ein entscheidener Schritt zur Entspannung derLage getan. Zum ersten Mal wurde im Dorf von dieser Klasse des Herrn Lahm als einer „evangelischen Volksschule“ gesprochen, obwohl weder die Kreisverwaltung den Status dieser Schule ausgesprochen hatte noch die Gemeinde Vettelhoven oder dasLand Nordrhein-Westfalen, aus dem alle Heimkinder stammten, bereit waren, die Sachkosten für den Unterricht zu tragen.
Die eigentliche Herausforderung für Günter Lahm aber bestand darin, dass er mit „seiner“ Klasse täglich vor neue pädagogische Probleme gestellt wurde, die sich aus den durch ihre besonderen Lebensläufe belasteten Kinder ergab. In seinen „Notizen“ zitiert er den Ahrweiler Schulrat Thunert: „Die Klasse ist verlottert. Die Kinder prügeln sich während des Unterrichts, toben über Tische, Bänke und Fensterbänke, rempeln den Lehrer auf dem Schulhof an und knipsen ihm die Asche von der Zigarette. Täglich verspäten sich bis zu einem Dutzend Kinder beim Unterrichtsbeginn, Schulaufgaben werden nur von einem halben Dutzend Kinder angefertigt. Tagelang liegen Schulranzen unter den Büschen im Park des Heims“. Außerdem ist auch der Schulrat der Meinung, dass 60 Prozent der Kinder hilfsschulbedürftig seien. Aber die Schulverwaltung sieht nur die Möglichkeit, diese pädagogischen Notsituation durch eine veränderte Organisationsform zu verbessern. Deshalb hebt Schulrat Thunert am 17.10.1951 in einem ausführlichen Brief an den Lehreramtsanwärter Lahm besonders hervor: „Mein Ziel ist und bleibt, die Heimschule im Heim unterzubringen, damit die Kinder vormittags ihren Unterricht haben wie alle anderen Schulkinder und damit die Schwierigkeiten mit der Gemeinde Vettelhoven einmal behoben werden“.6)
Ansicht von Schloss Vettelhoven im Jahre 2000
Nachdem im Dezember Regierungsschulrat Daum bei Herrn Lahm einen Besuch gemacht hatte, verwirklichte Schulrat Thunert seinen so präzise formulierten Wunsch, indem er sofort nach den Weihnachtsferien im Januar 1952 mit Regierungsrat Dr. Baermann im Schneller’schen Kinderheim einen Besuch machte. Das Ergebnis entsprach seinen Vorstellungen: DieHeimleitung war bereit, im Schloss einen dem Speisesaal gegenüberliegenden großen Saal der Klasse von Lehrer Lahm leihweise zu überlassen. Allerdings sollte dieser Saal außerhalb des Unterrichts weiterhin vom Heim als Aufenthaltsraum für die Mädchen und sonntags als Gottesdienstraum der evangelischen Kirchengemeinde Bad Neuenahr7)benutzt werden. Unmittelbar nach dieser Zusage erhielt Günter Lahm denBefehl – genauso steht es in den Notizen – „am folgenden Tag den Unterricht im neuen Schulsaal aufzunehmen. Auf seine Bitte um einen praktischen Rat zur Durchführung des Unterrichts, erhält er die Antwort: Stellen Sie sich vor, Sie seien in der Wüste Sahara, so müss-ten Sie dort ja auch unterrichten“.
Die Heimvolksschule entsteht
Am anderen Tag war für die katholische Volksschule alles wieder so wie vor der Ankunft der evangelischen Kinder:Lehrer Schiffer hatte nur noch seine Schülerinnen und Schüler bei geordnetem Vormittagsunterricht.
Ganz anders aber sah es in der vom Schulrat geforderten „Heimschule“ im Schloss aus. Dort gab es keine Wandtafel, kein Pult für denLehrer, wie es damals in jeder Schule üblich war, kein Schulschrank und auch keine Lehrmittel für die Kinder. Alle Jungen und Mädchen saßen an viel zu hohen Tischen auf ebenfalls zu hohen Stühlen. Um den Kindern den Nachmittagsunterricht zu ersparen und damit dem Leben im Kinderheim entgegenzukommen, wurde der Unterricht so organisiert, dass das 4. bis 8. Schuljahr von 8 – 11 Uhr, und die Kinder der 1. bis 3. Klasse von 11 – 13 Uhr unterrichtet wurden. Alle für den Schulbetrieb Beteiligten waren sich darüber im Klaren, dass diese Regelung eine erhebliche Reduzierung des Unterrichts darstellte. Aber das wurde wegen der Beseitigung der bestehenden Konflikte in Kauf genommen. Als dann von der katholischen Volksschule eine bereits ausrangierte Tafel in die „Heimschule“ gebracht wurde, konnte wenigstens damit einigermaßen unterrichtet werden. Da die Frage der Trägerschaft nach wie vor ungeklärt war, schaltete sich der Superintendent des Kirchenkreises Koblenz, Kirchenrat Karl Ernst Sachsse, ein und bewirkte bei der Bezirksregierung, dass für diese Heimschule ein Zuschuss von 1.500,– DM bereitgestellt wurde, um so einen ersten Grundstock für die notwendigen Möblierung zu bekommen. Erst jetzt konnte die Normalität in den Schulalltag einziehen. Die aber dauerte für den so strapazierten GünterLahm in Vettelhoven nur noch kurze Zeit, weil er dem Rat des Schulrates folgte, daran zu denken, mit dieser Stelle nicht verheiratet zu sein. Am 1.11.1952 wurde er an die evangelische Volksschule in Belgweiler im Kreis Simmern versetzt.
„Der Nachfolger ist da. Und – wie es nicht anders zu erwarten war – er ist ein Lehramtsanwärter, frisch von der Akademie, ein Anfänger ohne Erfahrung, quasi zwangseingewiesen in diese „schwierigste Stelle“ des Kreises Ahrweiler“. Mit diesen Worten setzte der außerplanmäßige Junglehrer Hans Hermann die von seinem Vorgänger begonnenen Aufzeichnungen fort. Aber noch im gleichen Monat kam es für ihn zu einer Entlastung. Denn das Kreisschulamt richtete für die Kinder des Schneller’schen Kinderheims eine Hilfsschulklasse ein. Der nun mögliche volle Unterricht wurde so organisiert, dass die dafür qualifizierte Lehrerin Irmgard Hildenbrand in einem zweiten durch das Heim zur Verfügnung gestellten Saal 16 Kinder unterrichtete, während für den Kollegen noch 42 Kinder übrig blieben.
Die geregelte Trägerschaft
Damit war eine Ausgangssituation geschaffen, die von der Schulverwaltung kontinuierlich weiter ausgebaut wurde. So kam es schon bald dazu, dass die in unserem heutigen Sprachgebrauch „evangelische Sonderschule“ paritätisch weitergeführt wurde, was bedeutete, dass sie von evangelischen und katholischen Schülern besucht werden konnte. Und auch die Trägerschaft wurde geklärt. Nach langen Verhandlungen erklärte sich das Schneller’sche Waisenhaus in Köln bereit, der Gründung einer privaten, evangelischen Heimvolksschule zuzustimmen. Anders als sein Vorgänger ist Lehrer Herrmann nicht so schnell wie möglich in eine andere Stelle gewechselt, sondern bis 1965 an dieser Schule tätig gewesen.
Ihm folgte unmittelbar Lehrer Wilfried Kaelicke, der bei seinem Dienstantritt sowohl mit 10 Stunden die Vakanz in der Sonderschule zu übernehmen hatte, als auch in seiner „normalen“ Klasse 22 Stunden unterrichtete. 2 Jahre später wurde diese Sonderschule aufgelöst. Herr Kaelicke war damit einziger Lehrer in der nach wie vor bestehenden evangelischen Heimvolksschule bis 1972. In diesem Jahr wurde ihm auf seinen Antrag hin gestattet, zur Realschule in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu wechseln. Seine Frau Giseltrud Kaelicke hat dann im folgenden Schuljahr als katholische Lehrerin seine Stelle übernommen und dort mit ständig wachsendem ökumenischen Verständnis in Übereinstimmung in der nach wie vor evangelischen Schule bis zur Schließung des Schneller’schen Kinderheim im August 1973 unterichtet.8)
Rückblickend scheint das alles eine längst vergessene Episode zu sein. Aber das, was damals in Vettelhoven durchlebt und auch durchlitten wurde, spiegelt sowohl ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte als auch die ersten Anfänge auf demWeg zur christlichen Gemeinschaftsschule, von der wir heute wie selbstverständlich in Rheinland-Pfalz nicht nur sprechen, sondern mit der wir auch dankbar leben.
Anmerkungen:
- Diese und alle anderen in diesem Beitrag genannten Unterlagen zur Evangelischen Heimvolksschule in Vettelhoven befinden sich im Besitz von Herrn Wilfried Kaelicke, der als letzter Lehrer nach der Auflösung dieser Privatschule im Jahre 1972 dankenswerterweise den Aktenbestand gerettet und gesichert hat.
- Vgl. zur Geschichte dieses Schlosses:Matthias Röcke:Burgen und Schlösser an Rhein und Ahr. Are Verlag, Bad Neuenahr 1991, S. 98 – 100 und Ottmar Prothmann: Die Gemeinde Grafschaft in alten Bildern. Veröffentlichungen zur Geschichte der Gemeinde Grafschaft. Band 1. Meinerzhagen 1985 S. 139-141
- Vgl. Evangelisches Kirchenlexikon. Göttingen 1961. Registerband Spalte 789
- Vgl. dazu Prothmann, Ottmar:Kirche und Pfarrei „St. Martin“ Holzweiler. Veröffentlichungen zur Geschichte der Gemeinde Grafschaft. Band 4. Holzweiler 2000, S. 72f.
- Die Lehrerausbildung erfolgte damals an pädagogischen Akademien. Daher der Ausdruck ‘Akademiestudent’.
- Dieser Brief befindet sich in den genannten Akten von Herrn W. Kaelicke
- Vgl. dazu:Hans Warnecke:Geschichte der Evangelischen Gemeinde Bad Neuenahr, ARE Verlag Bad Neuenahr 1993, S. 53, wo der damalige evangelische Pfarrer Oskar Börner aus Bad Neuenahr zitiert wird:„Für die Hausgemeinde und die Evangelischen der Umgebung, vor allem die in der Grafschaft zerstreuten Flüchtlinge, wird der Gottesdienst im ‘Schloss’ zum Sammel- und Mittelpunkt.“
- Persönliche Auskunft von Frau G. Kaelicke.