„Jeessejretche“ – Eine Geschichte aus der Ahreifel
Das war vor vielen Jahrzehnten, so um die Mitte des vorvorigen Jahrhunderts, als die Eifel unberührt und wie vor der Welt und ihrem Getriebe verborgen unter dem dunklen Mantel ihrer Wälder dalag. Nur die Zeitung oder Hausierer und wandernde Gesellen brachten Kunde vom Geschehen da draußen in den großen Städten mit ihrer ruhelosen Geschäftigkeit.
Dann hörten Bauern, Hirten und Holzfäller von mächtigen Stahlwerken und Eisenschmieden an der Ruhr, von Dampfschiffen auf dem Rheinstrom, von der Eisenbahn, die inzwischen die mittelalterliche Kreisstadt erreichte.
Gedanken, Mühen und schwere Arbeit kreisten hier oben, auf windiger Höhe ums Vieh, um die kargen Äcker, das Wetter und die Ernte. Nach verregneten Jahren, in denen Dinkel, Gerste und Hafer wie plattgewalzt zu Boden lagen, hatte man den Mangel, das Darben, den krassen Hunger kennengelernt. Kein Wunder, dass da die Bauern missmutig wurden, dass viele die Hoffnung auf bessere Zeiten verloren und den Entschluss fassten, Häuschen und Vieh zu verkaufen und auszuwandern, fort übers große Meer nach Amerika, dem fernen Land der Freiheit und des Wohlstandes.
So war das auch damals im kleinen Dörfchen oberhalb des Tales, durch das sich das Flüss-chen an steilen Felsen vorbei hinabschlängelte bis zum mächtigen Rheinstrom. Am Ende des Dorfes, dort, wo schon der große Wald begann, lebte Päschers Michel mit seinen zwei Töchtern in einem baufälligen Gehöft. Er war ein Trinker, ein Liederjahn, der, wenns ganz schlimm kam mit Tilla, seiner Jüngsten auf Betteltour über die Höhendörfer und durch die Winzerorte im Tal zog. Als ihm jüngst das Wasser bis zum Hals stand, als Schmalhans Küchenmeister war und sich kein Heller mehr fand für Mehl und Brot, stellte der Michel bei der Gemeinde einenAntrag auf Unterstützung, um, wie er unbeholfen dem Schöffen darlegte, nicht Hungers sterben zu müssen. Bei den Bauern im Gemeinderat des Dorfes stieß diese Bitte auf wenig Gegenliebe; nach langem Hin und Her lehnte man den Antrag ab.
Nach der Sitzung, auf der es zuweilen lautstark herging, machte sich der Gemeindevorsteher, der Pätsels Klööß auf den Weg zum Michelchen, blieb am Eingang zur düsteren Küche stehen und las den gefassten Beschluss ohne lange Umstände in einem amtlichen Ton vor:
– verhandelt zu börresfeld am 12. Mai 1854 – Protokoll –
Heute hat sich der Gemeinderath versammelt, um wegen der Unterstützung des Michel Päscher, wohnhaft hierselbst einen Entschluß zu fassen. Nach reiflicher Überlegung wurde beschloßen, daß dem Päscher unmöglich eine Unterstützung von Seiten der Gemeinde – Kasse zutheil wird. Weil er mit 1 Thaler, 2 Sgr, 4 Pfennig in der Grundsteuer veranlagt ist, daß er seinen Acker öde liegen läßt und gar keinen Bedacht darauf genommen, von Jugend auf und sich selbst sein Elend zur Schuld rechnen muß.
Er ist zwar ein alter Mann und kann nicht mehr arbeiten und also auch einer Unterstützung bedürftig, das ist wahr. Aber er hat doch zwei Töchter bei sich im Hause, so können diese ja für ihn sorgen. Und er sorgt Tag Täglich selbst vor sich, er gehet mit dem Bethel-Sack und einer Tochter und ernähren sich damit. Sie Arbeiden weider nichts mehr außer dem Jretchen, wo die Ziegen hütet und sucht Kräuter für Tee.
Also brauchen sie auch keine weidere Unterstützung anzutragen.
Worüber diese Verhandlung aufgenommen wurde.
Der Gemeindevorsteher“
Mit kurzem Gruß nahm der Vorsteher Abschied; er wollte kein Lamento anhören und sich nicht auf langen nutzlosen Diskurs einlassen.
„…dat Jritt“
Wer weiß, was aus dem heulendem Elend im Häuschen des Päscher Michel geworden wäre, wenn nicht das Gretchen, im Dorf nur „et Jeessejritt genannt fürs Nötigste gesorgt hätte. …„Wenn se datt Jritt nett hätten, wöhren se att länst verhungert“, sagte die Tant Bäb im Nachbardorf in einer Mischung aus Anerkennung für Gretchen und Missbilligung des Bruders, dieses Tagediebs und Bettlers.
Ja, die Jritt sorgte für die einzige, magere Kuh im Ställchen, beflanzte den Garten hinter der Scheuer und betreute mit schier übertriebenem Eifer vier Ziegen, die sie selbst großgezogen hatte und die mit einem wunderlichen Zutrauen an ihr hingen.
Im Laufe der Zeit war es Jritt gelungen, die zwei stärksten Tiere regelrecht zu dressieren. Mit Geduld und Geschick hatte sie es erreicht, die zwei Ziegen vor einen Leiterwagen zu spannen, den sie unverdrossen zogen; seltsamerweise aber nur dann, wenn ihre Betreuerin vor ihnen herging. Mit diesem Gespann fuhr Jritt durchs Dorf, vorbei an kopfschüttelnden Nachbarn, immer weiter steile Wege hinauf zum Buchenwald, dem „Steenedriesch“, um dort Laub, Moos, Farnkräuter als Streu zu sammeln.
Wie gut, dass sie die kleinlichen neuen Bestimmungen, der Königlich Preußischen Bezirksregierung zu Koblenz nicht kannte, in denen geschrieben stand:
„ Strafbestimmungen § 2 – Dem Holzdiebstahl wird gleichgeachtet der Diebstahl an Waldproducten anderer Art, insbesondere an Gras, Kräuter, Haide, Moos, Laub, anderem Streuwerk, an Kienäpfeln, Waldsämereien und Harz, welche sich in Forsten oder auf anderen hauptsächlich zur Holznutzung bestimmten Grundstücken befinden und nicht bereits eingesammelt sind.“
Zeichnung Johannes Friedrich Luxem
Ach, wie sollte die Jeessejritt das wissen, wie sollte sie diese Sprache verstehen? Wohl hatte der neue, schneidige Förster sie angehalten, sie lautstark in seiner fremdartigen preußischen Sprache verwarnt, hatte mit wichtiger Miene von Paragraphen, von Verboten geredet. Doch, all das konnte die eifrige Sammlerin, das Jritt, nicht verstehen. Sie überlegte: Sollte das wirklich ein Vergehen sein, dürres Laub und Moos hier oben im Steenedriesch zu suchen und heimzuholen in den dürftigen kleinen Stall? Was hielt ihr der Grüne in seiner Strafpredigt denn vor? Was redete der denn – so ganz von oben herab – von Gesetz und Paragraphen über den Diebstahl an wertvollen Waldprodukten und dass alles nun endlich Gesetz sei seit 1854? Nein, sowas auch! Jritt verstand die Welt nicht mehr. Das also sollte Diebstahl sein, wenn man für die Streu im Stall ein paar Säcke mit Gras, Laub und Moos füllte? – Welch ein Glück, dass der Gestrenge nicht bemerkt hatte, dass ihre gefräßige Ziegen die Rinde junger Buchentriebe gierig abgenagt hatten! –
Jedesmal, wenn Jritt mit ihrem Doppelspänner-Geißenwägelchen ins Steenedriesch zum Raffen und Sammeln karrte, regte sich in ihr eine erhöhte Wachsamkeit. Mit geschärftem Blick spähte sie ins Dickicht, hinweg über Kahlschlag und Lichtungen, ob da nicht eine ganz besondere grüne Farbe zu entdecken sei, eine Färbung, die etwas ausstrahlte von Obrigkeit und Gesetz und die sich auffallend von den vielen Grünschattierungen des Eifelwaldes unterschied.
Ab und zu hielt sie inne für ein Stoßgebet zum Erzengel Raphael, der mutig einst den bösen Geist, ihn selbst, den Gottseibeiuns, ergriff und ihn band. So groß waren Jritts Furcht und ihr Ingrimm vor dem bösen Mann im grünen Rock, dass der Schluss ihres Stoßgebetes in eine regelrechte Drohung ausartete: „ Nu maach bloos, dat der Käerl mir heut möt menge Jeeße net över de Wäähsch lööft!“
Und noch während sie so schlimme Worte sprach, zog die Jritt aus einem Lumpensäckchen die Häw, das scharfe alte Haumesser, schnitt rasch von jungen Birken Äste, Zweige ab, schnürte sie zu Bündeln zusammen, legte sie in die Karre und deckte sorgsam Säcke darüber, die sie mit Moos, Seggen, Blättern und Farnwedeln prall gefüllt hatte.
Unter lautem Zurufen kutschierte sie das wacklige Ziegengefährt in einen Hohlweg am verlassenen Basaltsteinbruch, der von mannshohen Ginstersträuchern fast zugewachsen war. Sie schnitt in diesem Versteck die schönsten Ginstersprossen ab.
Dabei murmelte sie ingrimmig vor sich hin:„Watt ech he maache, datt kann jeder sehn, he hätt mir de Käerl möt dem jröne Jöppche nix ze sahre!“
Aus dem Reisig fertigte sie abends daheim im Stüffje Besen an, viele Besen, die sie später in der kleinen Stadt da unten am Fluss verkaufen wollte. Noch etwas stellte die Jritt her, etwas, dass sie mit großer Sorgfalt behandelte, um es im Städtchen an den Mann zu bringen. Das war ein Elixier aus Kamillen für Menschen, die an Entzündungen litten, für alle, die ein gutes krampflösendes Mittel benötigten, Kranke mit quälenden Magengeschwüren. Wirkungsvoll waren Tinktur und Tee für schlechtheilende Wunden, für Fisteln und bösartige Halsentzündungen. Eine unermüdliche Sammlerin war die Jritt; sie kannte die Stellen genau, an denen die duftenden Heilpflanzen wuchsen. Oft kehrte sie in der Dunkelheit müde heim, mit den prall gefüllten Leinensäckchen, bündelte die gesammelte Kamille, hing sie in der Scheune zum Trocknen auf.
Von ihrer Tante, der Kräuterbäb, hatte Jritt vieles über die Aufbereitung und Verwendung von Heilkräutern gelernt. Aus der wirkstoffreichen Kamille stellte sie mit Geschick eine Tinktur nach Rezeptur der Tante her. In einer Schachtel verwahrte sie ein vergilbtes Stück Papier mit den korrekten Anweisungen der Kundigen.
Da stand geschrieben:
„Nimm zwei Esslöffel mit gekochtem Wasser, mische dasselbe mit einer halben Tasse gebrannten Kornschnaps. Nimm auf 1 Theil der gekleinerten trockenen Kamille fünf Theile Branntewein. Gieß das in eine Flasche, diese muhs dicht verschlossen sein. Stell das an ein Ortjen, wo nicht Sonne hinkommt in der Kammer. Alle Täg muhst die Flasche schüttelen, so stehen lassen bis 14 Täg. Dann gieß alles durch ein Leintuch und was überig ist gut pressen. Nach dem Absatz nochmals alles durch ein Tuch gießen. Jetzt die Tinktura in ein sauber Fläschgen einfüllen, dieses gut verschließen. Die Kranken sollens nehmen zwei- oder dreimal des Tags und immer dreihsig Tropfen in ein Schnapsgläsgen voll Wasser oder nur auf ein Klümpgen Zucker.“
Sorgsam befolgte die Nichte diese Anweisungen der Tant Bäb. Ihren Fleiß konnte man messen an den vielen Fläschchen, die oben auf dem Schapp in der Stuff in langer Reihe standen: Jritts ganzer Stolz.
An Sonntagen kam es vor, dass Jritt die zänkische Schwester und den quängelnden Vater verließ und mit ihren Ziegen zum verlassenen Steinbruch am Ende einer Schlucht ging. Längst war der Boden dort überwuchert von Brombeer- und Schwarzdornhecken, Weidengestrüpp und Krüppelbirken. Im grellen Sonnenschein glitzerte das Katzengold aus dunkler Lava; aus den eckigen Basaltsäulen erklangen eigenartige, helle Töne. „Dat senn die Steenedrieschmännche“ sagte sich Jritt und sie erinnerte sich an eine Sage, die der Dorflehrer in dumpfer Schulstube einst vorlas. Wenn es regnete, veränderte das Gestein seine Färbung, es verdüsterte sich. Ein Schleier, märchenhaftes neues Gewand, ein Gewebe aus blinkender Nässe breitete sich aus und bedeckte das poröse Gestein. Für Jritt war es ein verzauberter Zufluchtsort. Hier konnte sie sich hinsetzen und einmal die Hände in den Schoß legen. Ihre Ziegen fanden reichlich Futter, es war ein Schlaraffenland für die nimmersatten Weißröcke. An diesem Ort galt kein Verbot, gab es keine unverständlichen Gesetze, die den Armen das Leben schwer machten. Paragraphen, die sogar das Laubsammeln und Gräserrupfen unter Strafe stellten. Es war ihr verschwiegener Ort, der Erinnerungen weckte. Hier traf sich Jritt vor vielen Jahren heimlich mit dem flotten Wällersche Jüppchen, dem Fallot, Herumtreiber, der dann eines Tages auf und davon war, weg in die große Stadt am Strom, fort auf Nimmerwiedersehen. Hart war das Herz der Jritt geworden damals, festgefügt ihr Wollen und Tun. Doch, wenn sie an ihn denken musste, den umschwärmten Bruder Leichtfuß, dann verspürte sie einen Stich, dann blutete die alte Wunde.
Seit damals war der Steinbruch für Jritt ein verzauberter Ort. Unter einer verschlossenen Glocke flimmerte die Hitze über Felsbrocken und Hohlweg. Wie eine mächtige, unsichtbare Faust presste sie betäubende Duftwolken aus tausend Blüten von Kamille, Färberginster, Hufeisenklee, Minze, Johanniskraut und ließ einen schwindelig werden. Jritt glaubte fest daran, dass sich hier in Sommernächten die Steenedrieschmännchen, Geister und Hexen trafen, dass sie aus Höhlen und Erdgängen kamen und rauschende Feste feierten. Sie schlief ein im Schatten der Weiden und noch in ihren Träumen erblickte sie ihn, den Mann im grünen Rock. Er hob drohend den Arm und in der Hand hielt er das dicke schwarze Buch mit den vielen Gesetzen und Verboten.
Zeichnung Johannes Friedrich Luxem
„…auf dem Markt“
Man sollte es nicht glauben, aber eines schönen Tages spannte Jritt ihre Ziegen an, strähnte und bürstete sie, färbte in einem Anflug seltsamen Humors Klauen und Hörner sorgfältig mit schwarzem Ruß. Dann belud sie ihre Karre mit Leinensäckchen voller Kamille, wickelte die Fläschchen mit der Heiltinktur in Stroh ein, packte einen Brotlaib mit Zwiebeln in ein Tuch und stellte ein Eimerchen mit Brombeeren daneben. Dann zog sie ihren Sonntagsstaat an und machte sich in aller Frühe auf den Weg ins Tal, zum Fluss, in die kleine Stadt.
„So was muss man gesehen haben, Sapperlot!“, rief der Amtssekretär auf der Bürgermeisterei, als er durchs Fenster schaute und das seltsame Gespann erblickte. Es verschlug ihm die Sprache: Zwei Ziegenböcke mit pechschwarzen Hörnern, ein Leiterwägelchen und daneben ein Eifler Bauernmädchen im Sonntagsstaat. Im türmereichen und mauerbewehrten Rotweinstädtchen war man manches gewohnt, große Schützenfeste, Kirmestage mit Gauklerspektakel, Jahrmärkte – aber so etwas – so der Sekretarius – ja, das war exorbitant, ein Ziegenbockgespann auf dem Marktplatz des ehrwürdigen Städtchens!
Doch das ließ unsere Bauersfrau kalt. Hier, in dieser Stunde zeigte sich neben der Courage Jritts ein gerütteltes Maß ihrer Eifeler Art: eine gewisse List und Bauernschläue.
Es war nicht so, wie man es erwartet hatte, dass Jritt mit einer Schelle gebimmelt hätte oder dass sie wie die Hausierer von Haus zu Haus gezogen wäre, ihre Waren anzubieten.
Sie hatte – vom lieben Gott mit einer gehörigen Portion Mut und Eigenwillen ausgestattet – nicht vor, im Städtchen die Hausiererin zu spielen. Nein, auf dem Markt, am Portal der ehrwürdigen gotischen Hallenkirche blieb sie mit Karren und Ziegen stehen. Zu ihr, die ja Gutes anzubieten hatte, sollten sie kommen, die eingebildeten Stadtmenschen. Sie, die über die schlichten – und wie sie spöttisch meinten – etwas schwerfälligen und einfältigen Eifler die Nase rümpften und sich mit Verzällchen über deren vermeintliche Unbeholfenheit vergnügten.
Da stand sie also, die Jritt, neben ihrem eigenartigen Gefährt und wartete geduldig ab, beobachtete mit flinken Augen, denen nichts entging, alles, was sich auf dem Markt abspielte.
Sie bestaunte die schönen Bürgerhäuser, das prächtige Rathaus, die Mauern, hinter denen sich steile Rebhänge, von Wald bekrönt erstreckten. „Wenn ich alles verkoof hann hollen ich mir für de Kirmesdag zwei Fläschelche vom ruhde Wein möt noh Huus“, dachte Jritt.
Die Gassenbuben umstanden neugierig das Ziegenwägelchen, versuchten, dreister werdend die Tiere zu kitzeln, riefen im Singsangton freche Sprüche: „Efeljees, Efeljees, stinkt on will keene Buerekäs.“ Doch das Spiel blieb nur von kurzer Dauer. Jritt verlor die Geduld, griff nach ihrem Knotenstock und verscheuchte die aufdringlichen Belagerer.
Und es geschah, was Jritt erwartet hatte; nach und nach kamen Bürgerfrauen näher, fragten, hielten ein Schwätzchen, staunten. Nach längerem Prüfen und Überlegen überwanden sie Unschlüssigkeit und Misstrauen. Sie kauften Kamillentee, Brombeeren, Reiserbesen und die kleinen Flaschen mit der Heiltinktur. Wer hätte das gedacht, im Verlaufe des Nachmittags wurde die Karre leer, war alles verkauft. Und als gegen Abend Frauen fragten:„Wann kommen sie wieder ins Städtchen?“, wusste unsere schlaue Besenbinderin und Sammlerin, dass sich Mühen und Courage gelohnt hatten.
In einem verborgenen Winkel zählte Jritt die Einnahmen; es wurde ihr heiß und kalt – soviel Geld hatte sie in ihrem Leben noch nicht besessen.- Sie vergaß nicht, die Kirche zu betreten und vor der Statue der Madonna eine Kerze in Freude und Dankbarkeit zu opfern.
Die Turmuhr der alten Kirche tat fünf Schläge, langsam, dumpf; es klang wie eine Mahnung. Jritt erschrak. Zu lange hatte sie bei einer Tasse köstlichen Bohnenkaffees in der warmen Küche des vornehmen Bürgerhauses gesessen, zu der sie freundlich eingeladen worden war. So viel hatte sie lange nicht mehr erzählt, sie, die sonst so schweigsam blieb. Doch ein Glas des ungewohnten Rotweins löste ihr die Zunge und sie sprach vom kleinen Eifeldorf, dem Äckerchen, ihren Ziegen und der kargen Wirtschaft im Gehöft des Vaters. „Mein Gott“, dachte sie“, jetzt hann ech de Zeit verschwätzt, jetzt äwwer nix wie fort, heem, sonst wierd et noch dunkel onnerwägs!“
In Hast und Eile verließ sie Marktplatz und Städtchen, zog ihre Ziegen voller Ungeduld weiter durchs Stadttor fort ins enge Flusstal westwärts, der schräg stehenden Sonne entgegen.
Auch die Ziegen wurden von der Eile ihrer Herrin angesteckt. Sie trabten so hastig dahin, dass Jritt kaum Schritt halten konnte. „Nu macht doch jett langsamer, ihr Böck!“, rief sie außer Atem, „ihr kummt noch fröh jenooch heem en et Ställche.“
Jritt überlegte: Im Winzerdörfchen am Fluss würde sie kurze Rast machen, dann eine Abkürzung bergauf nehmen, auf schmalen Steig durch die Wälder.
Schnee
Es war kalt geworden, die Frau fror. „Et leiht Schniie en de Lofft“ dachte sie erschrocken; sie sollte Recht behalten.- Erst fielen wenige große Flocken; wie weiße Schmetterlinge taumelten sie hin und her, sanken zu Boden, schmolzen. „Nee esu jet“, dachte Jritt erschrocken“, esu fröh hätt jo noch nie jeschneit, datt öss äwwer en schlemme Saach.“
Bergauf ging der Steig, vorbei an steilen Felswänden, hinter denen düster und majestätisch der Wald stand. Einen solchen Sonnenuntergang hatte die emsige Besenbinderin ihr Lebtag lang noch nicht gesehen! Hinter einer mächtigen drohenden Wolkenwand glänzte das Gestirn mit gleißenden Strahlen, die aus rotvioletter Glut durch die Lücken des Gewölks brachen.
Je höher Jritt mit ihrem Ziegenwägelchen kam, desto stärker spürte sie eine beißende Kälte und dann, völlig unerwartet brach mit Urgewalten ein Schneesturm über sie herein. Mächtige Windböen jagten durchs enge Seitentälchen, brachen sich an den Felskanten, heulten durch das Dickicht der Fichten. Immer dichter wurde das Schneegestöber; bald türmten sich an den Hängen Schneeverwehungen. Mühsam wurde das Weiterkommen, häufiger blieben die gehörnten Zugtiere Jritts stehen. Da half kein lautes Antreiben, die Ziegen schafften es nicht mehr, den Leiterwagen bergan durch den Schnee zu ziehen.
„Ech mohs eweilen heem, nixt wie heem“, rief die Jritt lauthals ins Unwetter hinein, wie, um sich Mut zu machen.“ Mir möhßen weiderkomme, nur weider, sonst passiert noch jet Schlemmes!“
In Ihrer Not fasste sie resolut einen Entschluss, schirrte die Ziegen los, packte zwei leere Säcke, ließ das Wägelchen im Schnee stehen, stapfte mühsam weiter bergan. Eine Weile ging das gut, doch nach atemberaubenden Bemühungen merkte sie, dass die Kräfte nachließen; sie blieb stehen und überlegte eine Weile. Sie zerrte die Tiere seitwärts an einem Felsen vorbei ins Walddickicht und suchte eine geeignete Stelle zur Rast. Hier wollte sie abwarten, bis der tobende Schneesturm vorüber wäre. In aller Hast brach sie Zweige ab, errichtete einen dürftigen Windschutz, hockte sich auf Laub und Tannenreisig, deckte sich – die Ziegen zur Seite – mit den Säcken zu. Angstvoll lauschte sie in das Toben der Elemente, schwächer wurde die Hoffnung, dass der Sturm bald ein Ende nähme. Plötzlich begriff sie die Gefahr, der sie hier oben hilflos ausgeliefert war. Nur langsam, quälend verging die Zeit. Jritt kauerte sich zusammen, eng an ihre Tiere gepresst. Sie begann in ihrer Not zu beten, rief die vierzehn heiligen Nothelfer an, deren Statuen an einer Wand der Dorfkapelle auf kleinen Konsolen standen.
Zeichnung Johannes Friedrich Luxem
Es war Nacht geworden; eine undurchdringliche, schwarze Finsternis ringsum. In schleppender Langsamkeit verfloss die Zeit. Jritt spürte die Kälte, die ihr die Glieder zu lähmen begann. Sie zitterte am ganzen Körper. Ununterbrochen fiel der Schnee. Eiskristalle trafen das Gesicht wie Peitschenhiebe, schmerzend wie Nadelstiche. Endlich ließ die urtümliche Gewalt des Sturmes nach; das schreckliche Dröhnen wich einer unheimlichen, plötzlichen Stille. In ihrem Zufluchtsort im Tannendickicht kauerte sich Jritt hin, eng an die Körper der
Tiere gedrückt; sie gaben ihr ein wenig Schutz und Wärme. In die seltsame Stille hinein rieselte andauernd der Schnee. Taumelnd fiel er nieder, hüllte alles ein. Bald war die verängs-tigte Frau mit ihren Ziegen von einer dichten Schneeschicht bedeckt, die alles umgab wie eine große weiße Decke.
Dann kam die Kälte. Stunde um Stunde nahm sie zu, kroch Mensch und Tiere eisig ins Gebein.
Mit einem Male waren die schwarzgrauen Schneewolken verschwunden; am Firmament funkelten in unendlicher Ferne die Gestirne und sandten ihr eisiges, glitzerndes Licht hinab in Einsamkeit und Stille des großen Waldes.
Eine unüberwindbare Müdigkeit überkam Jrittchen. Schwer wie Blei waren ihre Lider, sie spürte in Händen und Füßen kein Gefühl mehr. „Heilige Agatha“, flüsterte sie „alles kannst dau möt mir maache, nur loß mech net enschloofe, dat wöar mei End!“ Im Halbschlaf erblickte sie wunderliche Traumbilder, eines strahlender und schöner als das andere. Sie folgten, einander abwechselnd rasch aufeinander wie bei einer Laterna Magica. Erst zeigten sie sich klar und überdeutlich in allen Einzelheiten, um nach einer Weile allmählich zu verblassen und neuen Bildern Raum zu geben.
Im Wald war es ganz still geworden, die Elemente hatten sich ausgetobt. Wie eine Last, die erdrückte, legten sich Müdigkeit und Schlaf auf Jritt. Als ihr die Augen zufielen, vernahm sie helle Stimmen, die immer näher kamen. Im Schlaf lächelte sie, sie hatte es gewusst: Es waren die Steenedrieschmännchen, die Geister der Höhlen und Felsschründe. Sie sangen zu Saitenklängen fremder Instrumente wundersame Melodien. In ihren Händen hielten sie eine große Decke aus feinstem Brokat, bestickt mit leuchtenden Gold- und Silberblumen. Immer näher kamen die Steenedrieschgeister, hoben das Tuch langsam hoch und deckten Jritt damit zu. Im gleichen Augenblick durchströmte sie eine wunderbare Wärme. Sie spürte keine Kälte, keinen Hunger, Schnee und Eis nicht mehr. Als sie die Augen öffnete erblickte sie Niegesehenes: Die Blumen und Blüten auf der kostbaren warmen Decke verströmten ein mildes Leuchten. Es wurde heller und strahlender, verschmolz schließlich zu einer einzigen, blendenden Fülle überirdischen Lichtes.