„Äonen der Humanitas“. Ein Kunstprojekt von Bernhard Müller-Feyen und Rainer Lehmann im internationalen Wettbewerb
Am 11. September 2001 stand die Welt für einen kurzen Moment still. Unfassbar schienen die Ereignisse, die live über alle Fernsehkanäle der Welt übertragen wurden, kaum vorstellbar die Menschenverachtung, die notwendig ist, um vier Passagierflugzeuge zu entführen, um sie in einer grausamen Choreographie des Terrors gegen die Machtzentren unserer freiheitlich demokratischen Weltordnung zu steuern: das World Trade Center in New York, das Pentagon und das Weiße Haus in Washington D.C.
Rund 3000 Menschen wurden Opfer dieser Terroranschläge.
Fast täglich werden wir mit Meldungen von Terror und Gewalt konfrontiert. Die Reaktionen darauf sind bei den meisten Menschen immer gleich. Am Anfang stehen Entsetzen und die Forderungen nach dem Schutz des Staates vor Terror und Gewalt. Schließlich folgt aber dennoch das Vergessen. Doch diesmal schien es anders. Die Dimension dieser Taten verlangte nach grundsätzlichen Antworten, und diese wollte man nicht allein den Politikern überlassen. So wurde der 11. September auch in der Kunst zu einem Thema.
In einem gemeinschaftlichen Projekt haben auch der Adenauer Künstler Bernhard Müller-Feyen (geb.1931 in Adenau und seit 1965 dort als freier Maler und Bildhauer tätig, verst. 2004 in Adenau) und der Physiker Rainer Lehmann (geb. 1964 in Adenau, Leiter des Archivs Bernhard Müller-Feyen), ein Konzept für eine Gedenk- und Begegnungsstätte zum 11. September entwickelt. Dieses stellte sich 2003 in New York dem internationalen Wettbewerb um den Bau des Mahnmals auf Ground Zero. Das Projekt mit dem Titel „Äonen der Humanitas“ wurde Ende 2003 im Museum der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler im Rahmen einer Werkschau des Künstlers zum ersten Male der Öffentlichkeit präsentiert. Das Wirken von Bernhard Müller-Feyen ist im Kreis Ahrweiler an vielen Stellen dokumentiert, so z. B. durch Kunst am Bau in Adenau, am Nürburgring, in Altenahr und Bad Neuenahr-Ahrweiler.1) Die Ausstellung des Künstlers wurde von einem höchst interessanten Veranstaltungsprogramm des Museums und der Kreisverwaltung Ahrweiler begleitet, das sich in Vorträgen und Diskussionen grundsätzlich mit dem Thema des Mahnens in der Kunst auseinandersetzte.
Die Realität des Undenkbaren
Archetypen gegen Terror und Fundamentalismus
Anstoß für die Entwicklung eines künstlerischen Konzeptes für ein Mahnmal auf dem Ground Zero in New York waren nicht die Terroranschläge allein. Auslöser war bei der Gemeinschaftsarbeit von Bernhard Müller-Feyen und Rainer Lehmann auch der Eindruck des fatalen Automatismus, mit dem die angegriffenen Demokratien auf diese Anschläge reagierten: die tödliche Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die Spaltung der Völkergemeinschaft in Gut und Böse. Wir stellten uns die Frage, ob die Sprache der Kunst einen Weg aus diesem Teufelskreis weisen kann. Wir sind davon überzeugt, dass die Skulpturen von Bernhard Müller-Feyen, die er als Archetypen entwickelt hat, auch im Kontext des Mahnens und Erinnerns eine starke Ausstrahlung besitzen. Die Archetypen sind abstrakte Bilder des Menschen auf der Suche nach seiner Identität, Bilder des Hoffens, der Zuversicht und der Suche nach Wahrheit. In Eisen und Stahl gegossene, in Stein gemeißelte Psychogramme der menschlichen Existenz im Dialog mit der Schöpfung. Sie sind monumental und erheben einen inneren, allumfassenden Anspruch auf Wahrheit, die sich nicht als Lehre oder gar Ideologie manifestiert, sondern in Fragen und Zweifeln am äußeren Schein alles Seienden und der Feststellung, dass es eine absolute Wahrheit nicht gibt.2) Die Entscheidung, sich an dieses Projekt heranzuwagen, fiel zum ersten Jahrestag der Anschläge. Nun galt es, aus dem künstlerischen Werkkontext ein realisierbares Arbeitskonzept zu entwickeln. Elementare Bedeutung kam hier der Arbeitsgemeinschaft zwischen Bernhard Müller-Feyen und Rainer Lehmann zu, die aus einer langjährigen Freundschaft zwischen dem Künstler und dem Physiker erwachsen ist. In zahllosen Gesprächen und Diskussionen wurden die Ursachen und Hintergründe der Anschläge und die offensichtlichen Fehlreaktionen darauf diskutiert. Es wurde umfassend recherchiert und kritisch hinterfragt. Erklärtes Ziel all dieser Arbeiten war es, einen Anforderungskatalog für dieses Projekt zu erstellen.Wir kamen zu der Überzeugung, dass dem Automatismus der Gewaltspirale nur entgegengetreten werden kann, wenn die ambivalente, dialektische Natur des Menschen bewusst gemacht werden kann. Der Mensch ist unserer Meinung nach ohne die Dialektik zwischen Gut und Böse überhaupt nicht denkbar. Sie ist das Wesen der menschlichen Individualität.3) Auf der anderen Seite steht der hohe Anspruch der Demokratie, die individuellen Menschenrechte als höchstes Gut zu respektieren. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben unsere Demokratie auf die Probe nach der Tragfähigkeit der fundamentalen demokratischen Wertvorstellungen gestellt.4) Wenn wir aus den Ereignissen des 11. September 2001 lernen wollen, dann müssen wir auch selbstkritisch unseren eigenen Beitrag daran ergründen und erkennen, dass der Fanatismus kein Relikt aus dem finsteren Mittelalter ist, sondern ein Produkt der Gegenwart. Aus dieser Einsicht wuchs die Erkenntnis, dass es nicht Ziel des Mahnmals sein kann, den Terror und die Gewalt zu visualisieren. Ebenso wenig wäre aus unserer Sicht eine einfache Plastik, Skulptur oder ein Gemälde in der Lage, einen solchen Bewusstseinswandel auszulösen – und sei es ein noch so überwältigendes Werk. Man denke in diesem Zusammenhang nur an das Gemälde „Guernica“ von Pablo Picasso. Unserer Meinung nach wäre es viel zu leicht, sich einem solchen Werk durch Nichtbeachtung zu entziehen. Man sollte sich aber einem solchen Mahnmal nicht entziehen können. Es sollte darum unübersehbar sein und ein „Universum“ schaffen, das losgelöst ist von Raum und Zeit.
Pyramiden der Neuzeit
Vor diesen grundsätzlichen Überlegungen haben wir ein besonderes Konzept für ein Mahnmal erarbeitet. Unser Entwurf endet nicht mit dem Betrachten und Betroffensein. Er beschränkt sich nicht auf das passive Betrachten einer Dokumentation des Terrors oder von Todeslisten mit Namen von Gefallenen und Ermordeten. Er fordert einen öffentlichen Diskurs und ruft zur aktiven Beteiligung daran auf. Das eigentliche Mahnmal entsteht nämlich erst durch die Besucher des Ortes selbst. Die Rolle des Künstlers ist hier nur die eines ersten „Bewegers“. Er gibt den ersten Anstoß und ist Vermittler. Er ist keinesfalls Stellvertreter, der den Akt des Erinnerns für den Rest der Gesellschaft übernimmt. Das eigentliche Erinnern und Gedenken ist ja stets eine persönliche Erfahrung. Kein noch so imposantes Kunstwerk kann das leisten. Es kann nur hinweisen, anregen, anstoßen. Alles weitere folgt in der individuellen Reflexion des Betrachters. Jede Art der Verarbeitung oder Lehre aus dem Gezeigten entsteht nur in der individuellen Reflexion des Betrachters und im Dialog der Betrachter untereinander. Das Gesamtkonzept nimmt historischen Bezug auf die Pyramiden von Giseh. Diese Monumente sind zwar ursprünglich Demonstrationen der Macht der damaligen Herrscher, aber daneben auch Symbol und Zeugnis für das Wissen und den Geist dieser Epoche. Ihre Existenz manifestiert das Fortbestehen dieser Werte seit Jahrtausenden bis in unsere Zeit und darüber hinaus. In diesem Sinne erschaffen wir zwei Pyramiden der Neuzeit, die unsere Ideale, unser Wissen und unsere Träume von einer globalen Völkergemeinschaft als ganz besondere Werte über weitere Jahrtausende bewahren sollen – über „Äonen der Humanitas“. Diese neuen Pyramiden sollten als monumentale Zeichen auf den Fundamenten der World Trade Center Türme in New York errichtet werden. Erbaut als 160 m hohe monolithische Baukörper, würden sie zu einer Ikone in der neuen Skyline Manhattans.5) Ihre äußere Gestaltung ist ein Spiegelbild für die Dualität und Ambivalenz der menschlichen Existenz. Auf den ersten Blick sind sie eine Wiedergabe der Dualität der Zwillingstürme, der gebrochene Verlauf der äußeren Form, vielleicht eine Reminiszenz an das hier verübte Verbrechen. Bei tieferer Betrachtung stehen sie für den Menschen selbst, für seine Ambivalenz im Umgang mit anderen Menschen6), insbesondere aber auch für seine persönliche Ambivalenz. Genau diese macht aber unserer Meinung nach den Menschen zum Menschen. Die Ambivalenz ist für das Gute und auch für das Böse im Menschen verantwortlich. Der Dualität der äußeren Gestaltung entspricht eine Dualität der Raumgestaltung im Inneren der Pyramide. Für den Prozess des Verarbeitens der ungeheuren Ereignisse sind eigene Bereiche konzipiert. So ist dem höchst privaten Akt des persönlichen Erinnerns eine der beiden Pyramiden gewidmet. In ihrem Zentrum befindet sich die „Time Sphere of Humanitiy“, ein runder Kuppelsaal von ca. 60 m Durchmesser. Errichtet auf dem offenen Fundament der zerstörten Türme, darin integriert 3000 Urnengräbern auf seinem Perimeter, schafft er eine stille und privateSphäre des persönlichen Erinnerns . Über und um diesen Kuppelsaal erhebt sich ein vertikaler Landschaftspark, „Soaring Gardens“, dessen Galerien, der „Lightdome of Freedom“, Begegnungs- und Rückzugszonen für die Besucher bieten. Darin integriert findet man eine Heimstätte für die zahlreichen Koalitionen von Betroffenen, die sich nach dem 11. September 2001 gegründet haben. Die zweite Pyramide ist dem Verarbeiten des Geschehens im gemeinsamen Dialog gewidmet. Sie beherbergt das „Museum of Freedom“, das eine Dokumentation zur Geschichte der Anschläge zeigen wird. Der wichtigste Teil darin ist jedoch die Schaffung einer interkulturelen Begegnungsstätte und einer Forschungseinrichtung, deren fernes Ziel es sein sollte, eines Tages einen Konvent zu Schaffung einer universellen Verfassung einer globalen Völkergemeinschaft einzurichten.
Monumentale Ikonen der Völkerverständigung – Pyramiden der Neuzeit
Time Sphere of Humanity auf den Fundamenten des World Trade Centers
Galerien in den Soaring Gardens über der Time Sphere of Humanity
Querschnittdarstellung der Gedenkstätte: Im Zentrum die Time Sphere of Humanity
Wunsch und Wirklichkeit
Die erste Bewährungsprobe für das Projekt von Bernhard Müller-Feyen und Rainer Lehmann war der international ausgeschriebene Wettbewerb für den Bau eines Mahnmals auf Ground Zero in New York („World Trade Center Site Memorial Competition“). Der Wettbewerb wurde im April 2003 von der „Lower Manhattan Development Corporation“ (LMDC), einer gemeinsamen Stadtentwicklungsgesellschaft der Stadt New York und der angrenzenden Staaten New York und New Jersey ausgeschrieben. Diese Gesellschaft wurde nach den Anschlägen vom 11. September gegründet. Es sollte mit insgesamt 5201 Teilnehmern aus aller Welt der größte Wettbewerb seiner Art werden, der je durchgeführt worden ist. Der Wille schien da zu sein, um am Ort des Verbrechens ein starkes Zeichen für die Werte von Freiheit und Demokratie zu setzen. Im Ausschreibungstext wurden diese Werte mit überschwänglichem Pathos beschworen. Doch an kaum einem anderen Ort der Welt sind die politischen und besonders die kommerziellen Interessen so ausgeprägt, wie in New York. Es scheint bereits festzustehen, dass die Zukunft von Ground Zero nicht von den Interessen der Betroffenen oder gar einer demokratischen Völkergemeinschaft bestimmt wird, sondern allein durch die kommerziellen Interessen des Pächters des World Trade Center-Komplexes. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden nach den Anschlägen, der Staub der Trümmer hatte sich noch nicht gelegt, wurden bereits die ersten Strategiepapiere erarbeitet, um einen möglichst großen Profit aus dem Grundstück zu ziehen, auf dem das World Trade Center stand. Die Stadtentwicklungsgesellschaft (LDMC) scheint vor diesem Hintergrund lediglich ein Ausführungsorgan des Pächters zu sein. Zwar hat sie in internationalen Wettbewerben mit enormem Medienaufgebot Konzepte für die städtebauliche Neuordnung Lower Manhattans und den Bau eines Mahnmals entwickelt, jedoch ist deren Umsetzung mehr als fraglich. Aktuelles Beispiel ist die Grundsteinlegung des „Freedom Towers“, ein Herzstück des Siegerentwurfs von Daniel Libeskind, der jetzt aber von einem Architekten des Pächters geplant und gebaut wird. Kaum anders erscheint es auch dem Sieger im Wettbewerb um das Mahnmal auf Ground Zero zu ergehen. So wurde für die Ausführung des Siegerentwurfs bereits ein großes Architektenteam beauftragt, ein Vertrag mit dem Sieger bisher aber nicht öffentlich bestätigt.
Realisierung unseres Kunstprojektes?
Die Chance für eine Realisierung unseres Kunstprojektes auf Ground Zero scheint vorüber zu sein. Vielleicht hat es sie auch nie gegeben, weil die Zeit einfach noch nicht reif dafür ist. Die wahre Dimension der Anschläge vom 11. September 2001 und deren Folgen werden vermutlich erst in weiter Zukunft zu überblicken sein. Wir werden weiter daran arbeiten, einen Ort für die Realisierung des Kunstprojektes „Äonen der Humanitas“ zu finden – an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Anmerkungen:
Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine stark gestraffte Version von grundsätzlichen Ausführungen zu dem Kunstprojekt.
1) vgl. Hildegard Ginzler: Bernhard Müller Feyen, Maler und Bildhauer. In: Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 1998. S. 63 – 66.
2) vgl. Rainer Lehmann: Bernhard Müller-Feyen – Kurzretrospektive aus Anlaß des 70. Geburtstages des Künstlers. Adenau 2001.
3) vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. München und Wien 2001.
4) vgl. John Gray: Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne. München 2004.
5) vgl. Rainer Lehmann: Ein Mahnmal für New York. Adenau 2002.
6) vgl. Richard Sennet: Respect in a World of Unequality. New York 2002.
Weiterführende Informationen im Internet unter: www.archiv-bernhardmuellerfeyen.de