Waldeslust. Eine Eifler Musikantengeschichte
Wie die Blümlein draußen zittern…..
Das war vor gut über hundert Jahren, da taten sie sich zusammen, drei Männer aus den kleinen Dörfern über dem Ahrtal, denen Musik und Wanderlust gleichermaßen im Blut lag: der lange Döres mit seiner Trompete, Köbes, schmal, von schmächtiger Statur mit seiner Fidel und Pallenbergs Jüppche, ein wahrer Meister auf den Knöpfen des Bandoniums.
Zu einer Zeit, in der man im fernen Preußen die Eifel herablassend das „Rheinische Sibirien“ nannte und wo in manchen Häusern Schmalhans Küchenmeister war, hatten die drei sich gesucht und gefunden.
Sie zogen über die Dörfer, machten auf der Kirmes, auf Hochzeiten und an Feiertagen Musik; man kannte sie da oben in der rauen Vulkaneifel und unten im weinlaubumkränzten Ahrtal. Recht und schlecht lebten sie vom Musizieren, blieben trotz wenig rosiger Zeiten fidel und waren in kleinen Kneipen der Eifeldörfer und in den Ballsälen drunten im Ahrtal gut gelitten. Da spielten sie zur Kirmes und Festen munter auf; ihr Repertoire reichte aus, um die Tanzlustigen in Laune und Schwung zu bringen. Für die Älteren, deren Füße Rhythmen und Tanzschritte verlernt hatten, brachte das „lustige Dreigestirn“ – so nannte man sie zuweilen – nach der Reihe der Walzer, Reigentänze, Rheinländer und Hopsmärsche etwas ganz Besonderes, eine Art Einlage mit Herz, wie Döres meinte. – Sie machten nach ihrer Tanzmusik eine Pause, warteten ab, bis sich die allgemeine Unruhe im Saal gelegt hatte, Schnaufen, Scharren und Zurufe verstummten und begann mit gefühlvollem Tremolo ein beliebtes Volkslied zu intonieren. Leise, einschmeichelnd erklangen Geige und Bandonium und Döres sang mit etwas zittriger Tenorstimme das erste, so beliebte Lied:
Wie die Blümlein draußen zittern
in der Abendlüfte Wehn,
und du willst mirs Herz verbittern,
und du willst nun von mir gehn!
O bleib bei mir, und geh nicht fort,
an meinem Herzen ist der schönste Ort…
Die Menschen im Saal waren ruhig geworden, erfasst vom wehmütigen Gesang; viele summten die Melodie mit. Sie kannten und liebten diese volkstümlichen Lieder, sie, die nie eine Oper gesehen, ein Konzert gehört hatten. Sie sangen die Bänkellieder und Moritaten mit, Melodien und Verse, die ihr schlichtes Gemüt ergriffen und zu Herzen gingen. – So geschah es oft, dass nach wilden Tänzen, Lärm und Geschrei solche Küchenmamsellgesänge zur allgemeinen Freude erklangen. Die drei Musikanten achteten genau auf die Einhaltung der Reihenfolge und Jüppchen war es, der die Titel nannte: O bleib bei mir; – Das Mutterherz; – Nannchen-Susannchen; – Stille Liebe; – und zum Abschluss schließlich das von den Sangeslustigen erwartete Lieblingslied, die Waldeslust…
Danach jedoch war unwiderruflich Schluss, Kehraus. Die Uhr schlug die Polizeistunde und da stand er, ganz hinten an der Treppe neben der Eingangstür: stramm, mit Koppelzeug und Tschako, der Polizeiwachtmeister Bellensieper, ganz Würde und ganz amtlich.-
„Nicht eine einzige Minute gehts hier über die gebotene Zeit!“ pflegte er zu sagen, „denn Ordnung muss sein und wenn sie’s noch immer nicht wissen, diese lockeren Rheinländer, dann werd ich’s ihnen schon beibringen!“.
Auf die drei Musikanten, ja, da hatte er, der Mann preußischer Ordnung, schon von Amts wegen ein wachsames Auge; denen misstraute er aus der Tiefe seiner Beamtenseele. – Einen Grund dafür konnte er freilich nicht nennen. Das war halt so, ein ungeschriebenes Gesetz: Musikanten, Korbflechtern, Zigeunern und Wandersleuten, denen traute er nicht über den Weg. Da wurde das eingefleischte Misstrauen geradezu ein Teil seines Wesens, machte ihn unerbittlich und im Laufe der Jahre mürrisch, streng und humorlos.
An diesem Abend aber kam er mit seinem Kontrolleifer zu kurz. Die Überwachten – es fehlte ihnen in ihren Papieren ein Bewilligungsstempel – hatten heimlich durch ein Hintertürchen den Ballsaal verlassen und klopften zu später Stunde an der Doppeltüre eines Bauerngehöftes an. Hier wohnte das Minchen, eine Cousine des dicken Jüppchens.
Elixier
Da saßen sie nun, die drei Musikanten, spät in der Nacht, schlürften nach Tagen noch einmal eine warme Milchsuppe; vor sich, auf grobgezimmertem Tisch die Gusseisenpfanne voll duftender Bratkartoffeln. Minchen hatte ihren guten Tag und begleitet von den schmachtenden Blicken des langen Döres hatte sie dicke Speckscheiben in die Kartoffeln geschnitten.
„Ohne Speckstöckelche bliehwen de Krompiere drüsch wie ene Lappe“, meinte der zaghafte Köbes. Und so blieben bei den hungrigen Männern keine Wünsche mehr offen.
Das heißt, ein Musikantenwunsch war noch da: die Lust auf etwas Flüssiges, auf die klare, hochprozentige, harmlos wie ein Wässerchen ausschauende Substanz des Selbstgebrannten. Wie in vielen Bauernhäusern wurden die Flaschen in einem eichenen Brotschränkchen im oberen Gefach aufbewahrt. Und in dem Maße, in dem sich die Teller der Hungrigen leerten, wuchs der Wunsch, jetzt den kräftigen Schnaps zu verkosten, dieses glasklare Elixier, das so gut die Kehle hinablief. Dann erfüllte es einen mit wohltuender Wärme, entfachte die Lust am Erzählen, machte die Stimmen lauter, verleitete zu Prahlereien, um endlich in einer wunderlichen Müdigkeit zu enden und in Schwere der Gedanken.
Da wandelten sich Leichtsinn und Lustigkeit, Übermut und Überheblichkeit ganz plötzlich in Trauer und tiefen Weltschmerz, erzeugten eine weinerliche Stimmung, die besonders das dicke Jüppchen befiel. Wenn er zu jammern begann meinten die anderen: „Jetz hätt dat Jüppche att wedder et ärme Dier; söcher hätt dä widder eene zo vell jetrunke, onsere Quetscheböggelsmann“. Seltsamerweise konnte der lange Döres beim Schnapsprobieren das meiste vertragen. Während Jüppchen schon schnarchte, Köbesje sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte, blieb Döres hellwach. Und so entging ihm nicht, dass Minchen, wenn sie das Eichenschränkchen wieder verschloss, den abgegriffenen großen Schlüssel in einen irdenen Krug legte.
„Nur noch een letztes Schnäpsje!“, bettelte Döres mit demütigem Unterton in der Stimme, „nur noch eene eenzije!“
„Heut jitt ett nix mieh, basta!“ sagte Minchen und fügte im Kommandoton hinzu: „Jetz häste äwwer jenohch, de Flasch öss jo bahl läddisch!“
Döres schwieg. Er weckte seine Kumpane und dann torkelten die drei hinaus in die kühle Nacht, über den Hof in die Scheune zu ihrem Strohlager. Bald waren sie eingeschlafen; auch das Brüllen der kranken Kuh nebenan im Stall weckte sie nicht aus den unauslotbaren Tiefen ihres Schnäpschenschlafes….
Nachtgespenst
Dem Döres mit seinen unsteten Augen war es nicht entgangen, dass Minchen den Schlüssel zum Brotschränkchen im Nebenraum der Küche in einem Keramiktopf verbarg. „Das also“, dachte Döres, „ist sozusagen der Schlüssel zum Paradies“, wobei er eigentlich nur an den Schnaps dachte, an dieses glasklare Elixier, das seine Gier angestachelt hatte. Und da er im Scheunenstroh neben seinen schnarchenden Gefährten keinen Schlaf finden konnte, stand er auf, schlich auf Socken hinaus, überquerte den mondhellen Hof und blieb am Haus vor dem kleinen Küchenfenster stehen. – Im Hof herrschte eine seltsame Stille. Drinnen, im alten Fachwerkhaus regte sich nichts. Nur aus den großen, dunklen Wäldern, die das Dorf wie eine Mauer umgaben, hörte man den Ruf des Kuckucks. Aus alter Gewohnheit zählte Döres die Anzahl der Rufe mit. Erst bei der Achtzehn schwieg der Vogel und Döres flüsterte: „Achtzehnmohl hätt der Vurrel jerohfe, datt lossen ech mir jefalle; datt senn noch lange Joahre, die ech läwwe kann!“
Der Musikant entdeckte, dass das Fensterchen zur Küche nur angelehnt war. Behutsam, lautlos öffnete er es, wollte vorsichtig hineinkriechen ins Haus, als ihn plötzlich jemand mit derbem Griff packte und ihn hineinzog ins Innere.
Döres, alles andere als ein Held, erschrak zutiefst. Ein zähes Ringen begann; man vernahm nur heftiges Keuchen und Stöhnen. Döres, seit jeher furchtsam und gespenstergläubig wie viele Eifler murmelte vor sich hin: „Alle guten Geister loben Gott, den Herrn!“ Da flüsterte das unheimliche Wesen, das ihn fest gepackt hielt: „Dau bruchs nett ze bädde, ech senn doch keen Jespenst – kennst de mich dann net?“ Mein Gott, das war ja eine Frauenstimme – und als sich der Eindringling vom ersten Schrecken erholt hatte, erkannte er endlich, dass es das Minchen war, weder Geist noch Gespenst, ein Wesen aus Fleisch und Blut mit derb zupackenden Fäusten und harter Stimme. „Watt fällt dir dann enn, watt wellsde dann he em Huus metten en de Naacht?“, fragte sie streng. Doch der Musikant mochte ihr nicht die Wahrheit sagen, dass er noch vom Selbstgebrannten trinken wollte, dass er genau wusste, wo der Schlüssel zum Schränkchen lag. Und so verstieg er sich, nachdem der Schreck vorüber war und seine Keckheit zunahm zu der kühnen Behauptung: „Minche, nu hüer doch ens; ich wollt eijentlich bei dich komme, ech wollt nur ens seehn, ob dau noch waach wöerst“. Doch Minchen, erfahren mit solchen Sprüchen der Süßholzraspler und Schmeichelbrüder flüsterte zornig zurück: „Jo, jo, datt do jlöhwste doch selewer net, dau Fallot! Datt hätt mir jrad noch jefählt, esuene Kearl wie dau metten en de Naacht“.
Und als der Abgeblitzte melancholisch seufzte drohte sie mit der Faust: „Jetz äwwer maach, datt de he eruss köss, op em jliche Wähch, wie de erennjekomme böss!“
Sie schob den Widerstrebenden zum Fenster, schlug ihm zum Ansporn ein Backblech über den Buckel. In der Hast seines Rückzuges flog der Döres fast aus dem Fensterchen und landete kopfüber auf rauem Hofpflaster.
Am anderen Morgen zogen die Musikanten weiter. Niemand verlor beim kargen Frühstück – es gab Brot, Milch und heißen Kornkaffee – ein Wort über die nächtliche Eskapade.
Zeichnung von Johannes Friedrich Luxem
Die beiden Gefährten wunderten sich nur über ein paar Kratzer und Schmisse im Gesicht von Döres. – Doch der schwieg sich beharrlich aus. –
Lichtung
Über die große Chaussee wollten die drei nicht wandern. Da jagten Kutschen vorbei, drängten sie in den Straßengraben, da konnten Gendarmen kommen, die „Grünen“, altgediente Soldaten aus dem fernen Preußen, streng, schneidig, pingelig, wenn es um Wandergewerbescheine, Erlaubnisstempel und Ähnliches ging. Einmal kontrollierte ein Gendarm den großen Lederrucksack, den Döres trug. Er suchte eifrig nach Spuren von Hühnerfedern, wollte wohl dienstbeflissen einem gestriezten Hühnchen auf die Spur kommen.
Nein, nicht die Chaussee! Unsere Musikanten liebten die ausgefahrenen Feldwege, die sich durch die Berglandschaft der Ahreifel schlängelten und die einsamen Orte, Weiler und Gehöfte untereinander verbanden. An heißen Sommertagen schritten sie dicht nebeneinander; sie wollten nicht den gelben Staub schlucken, den ihre groben Schuhe aufwirbelten. In eisigen Eifelwintern folgten sie den tiefen Spuren der Bauernwagen, gingen in Reihe, einer hinter dem andern, starrten auf ihre Füße, um nicht die Fährte zu verlieren, rutschten über vereiste Flächen. Sie stolperten, suchten das Gleichgewicht zu halten, immer in Sorge vor einem Sturz, der ihrem kostbaren, einzigen Hab und Gut, den Instrumenten, Schaden bringen könnte.
Am liebsten aber wanderten sie über die stillen Waldwege, die immer weiterführten in die Tiefe der düsteren Forsten.
Moospolster wuchsen auf diesen Wegen, an den Rändern dichte Teppiche von Waldbeeren. An felsigen Hängen leuchtete in Rosarot, verlockend, Gefahr anzeigend Digitalis. Mieren sahen aus wie zarte Abbilder des Sternenhimmels, darüber die Fächer des Königsfarns – ein Paradies inmitten von Waldesdunkelheit, umrandet, wie umgürtet von den korallenroten Beeren der Ebereschen. In ihrem Blattgefieder tummelten sich Vögel, zwitscherten ihre Melodien. – „Datt öss ooch en Musik, watt die kleene Kearlche do singe; do moss me jooht zohüere, dann könnt me richtije Lieder do druss maache!“, meinte Jüppchen tiefsinnig und seine Gefährten nickten zustimmend. – „Wenn bloos der bonte Vujel senge Schnabel haale däht“, bemerkte Köbes und er meinte damit Markwart, den wachsamen Häher mit seiner Krächzstimme.
In den großen Wäldern gab es Stellen, die durch Unwetter und Windbruch entstanden waren. Oft hatte der Sturm in den Dickungen kreisrunde Plätze geschaffen. Gras, Seggen und Ginster wucherten hier und bildeten einen geheimnisvollen Ort, ein Refugium zum Lagern und Ruhen. Das waren Lichtblicke im ruhelosen Wanderleben des Trios, sich niederzulassen an solchen Rastplätzen, die Last der Instrumente abzuladen, die schweren Rucksäcke auszupacken und die mitgebrachten Schätze auf einer karierten Pferdedecke auszubreiten. Da gab es Mehl, Eier, Fett, Kartoffeln, Speckseiten, Wurst und schweres, dunkles Eifler Bauernbrot.
Döres umkreiste in weitem Bogen den Rastplatz, um sich zu vergewissern, ob nicht Gendarm oder Wildhüter in der Nähe seien. Endlich, wenn die Luft rein war, entfachten sie ein Feuerchen, nahmen nur trockenes Holz, um sich nicht durch Rauchfahnen zu verraten, stellten Dreibein und Kessel auf. Wenn sie weder Kaninchen noch Huhn hatten, genügte ihnen eine dicke Suppe, in deren Herstellung Jüppche wahrhaft Meister war. Und wenn sie endlich gesättigt waren – das unvermeidliche Schnäpschen wurde gerecht jedem zugeteilt – lagen sie auf Gräsern und Moos und Döres murmelte mit pathetischer Geste ein wenig übertrieben: „Nee, nee, watt jeeht et oss heut noch ens johht! Et fählt oss nix – ech däht möt keenem Könich tausche.“
Waldeslust
Doch jäh wurde die Idylle auf der Waldlichtung unterbrochen. Es geschah so plötzlich, so völlig unerwartet, dass die Musikanten von einem panischen Schrecken ergriffen wurden. Da stand er vor ihnen: hochaufgerichtet, stämmig, beherrschend, Rauschebart, strenger Blick aus Funkelaugen, der gefürchtete Jagdpächter, den Drilling geschultert, neben sich Harras, ein Münsterländer, der ungeduldig an seiner Leine zog.
„Was, zum Kuckuck, habt ihr hier in meinem Revier verloren“? rief er mit Stentorstimme. „Ihr scheut wohl das Tageslicht, versteckt euch hier in der Dickung. Lottervolk, das mir mein Wild verscheucht und den Wald anzündet!“ Döres gewann als erster der Drei seine Fassung zurück und meinte zaghaft: „Leewen Hähr, nau maacht ens langsam; mir senn keen Lottervolk ond kenn Lumpe. Mir senn ehrliche Musiker, die op de Kirmes opspelle – nu joht ens jet jnädisch möt os öm!“ Und wie es im Leben manchmal geht wollte es purer Zufall oder Fügung sein – dem reichen Fabrikanten aus dem Ruhrgebiet waren zwei glückhafte Dinge widerfahren, die ihn plötzlich beim Anblick der drei Männer im Moos gönnerhaft stimmten: der Abschluss eines günstigen Auslandsgeschäftes und die Hochzeit seiner einzigen Tochter mit einem adeligen Gutsherrn aus dem Westfälischen. Zudem hatte er am Nachmittag im Dorfkrug „Zum Postillon“ zwei Flaschen Ahrburgunder geleert, ein Walporzheimer Himmelchen und einen Mayschosser Mönchberg. Dies alles war in einer wunderlichen Mischung von Ereignissen und Gefühlen geeignet, ihn entgegen sonst strenger Prinzipien milde und gnädig zu stimmen.
Und einer plötzlichen Idee folgend rief er den verängstigten Musikanten zu: „Los, spielt mir ein Lied, etwas Schönes, das hierhin passt – spielt mir die Waldeslust!“
Nie vorher waren die Hände der Drei so flink, ihre Instrumente aus den Guttaperchahüllen auszupacken. Sie überschlugen sich förmlich, blickten zweifelnd hinüber zum Mann mit dem Drilling, und zum knurrenden Hund. Wie ein kleines Wunder kam ihnen der unerwartete Stimmungswechsel des Jagdherren vor. Döres, dem in Eile und Schreck kein zuständiger Heiliger einfiel, den er um Beistand bitten könnte, rief wahllos die heilige Barbara um Hilfe an. Mit ihr stand er auf Du und Du und er flüsterte: „Bäbche, nau maach, datt dä reiche Mann seng joode Laune behaale deht!“ – Endlich waren sie soweit – ein Bild für die Götter, diese Idylle auf der Lichtung im düsteren Eifelwald: die Drei mit ihren Instrumenten im Halbkreis, davor, auf dem Klappstuhl sitzend, der Jagdherr, zu seinen Füßen Harras. Leise knurrend beäugte er die verdächtigen Gestalten. – Dann erklang die vertraute Melodie; es gab Verzögerungen, als hätten die Spieler noch nicht begriffen, dass dies alles kein Traum ist. Und Döres begann mit seiner brüchigen Tenorstimme, die Gefährten fielen ein. Und der Wald nahm die Melodie entgegen; vom nahen Steinbruch kehrte das Echo zurück:
Waldeslust, Waldesluhuust –
O wie einsam schlägt die Brust.
Ihr lieben Vögelein, stimmt eure Lieder ein
und singt aus voller Brust
die Waldesluhuust…
Der Jäger sang lautstark mit und dann wünschte er sich „Im grünen Wald, da wo die Drossel singt“. Lauter wurde seine Stimme, beschwingt vom roten Ahrwein:
Das Rehlein trank aus einem klaren Bach,
dieweil vom Wald der Kuckuck lustig lacht.
Ich stand schon lauernd hinter
einem Baum…
Und die Musikanten, mutig und fidel geworden, angesteckt von Laune und Großmut des Jägers, spielten und sangen, was es das Zeug hielt; ihre Galavorstellung endete endlich mit einem Glanzstück, dem Jägerchor aus Webers Freischütz:
Was gleicht wohl auf Erden
dem Jägervergnügen,
wem sprudelt der Becher des Lebens
so hell…
Damit trafen die Sänger, ohne es zu ahnen, beim Jagdherrn einen Nerv. Als Sekundaner hatte er im Gymnasialchor dieses Lied mitgesungen. Kein Zweifel – er war gerührt und aus dem Absonderlichen der Situation kam ihm ein Gedanke. Er würde diese gar nicht unbegabten Eifler Musiker einladen, auf der Hochzeit seiner Tochter als eine besondere Attraktion aufzutreten. Freilich müssten sie sich anders kleiden, freilich müssten sie geschniegelt und gebügelt sein – dafür würde er schon sorgen!
Zeichnung von Johannes Friedrich Luxem
Und es ereignete sich im Walddickicht des Eifler Forstes, dass etwas Alltägliches zum Besonderen, zum Ungewöhnlichen sich wandelte. Der Fabrikant, gewohnt, Launen und Ideen ohne Zögern zu verwirklichen, führte die komische Prozession hinab ins Tal. Er brachte die Musici im „Postillon“ unter und leitete alles andere in die Wege.
Und so sahen sich die Musikanten aus der Eifel eines Tages im Gesindehaus neben der Villa des Pächters im Ruhrgebiet wieder und harrten kommender Ereignisse.
„Nee, nee,“ sagte der Döres immer wieder kopfschüttelnd,“ ihr könnt et jlöhwe, datt do öss tatsächlich e Wunder!“ Und das Jüppchen ergänzte: „Datt hamm mir däm heilije Bäbche zo verdanke. Dämm stelle mir en Kearz opp, wenn mir wedder deheem senn“
Glanz, Gloria und Verschollen
„Zwick mich enns“, flüsterte Döres zum Jüppchen, „dohn mir wieh, datt ich jlöwe kann, datt alles net jeträumt öss, watt ich do seehn“!
Und doch – es war kein Traum, blieb Wirklichkeit: Pracht, Glanz und Gloria, Lichterströme aus glitzernden Kandelabern und venezianischen Kronleuchtern, Gobelins, riesige Gemälde mi Göttern, Satyrn, Nixen und Hirschen, vergoldetes Mobiliar, Samtdraperien – für die Eifler war alles wie in einem Märchen.
Sie standen verlegen auf einem Podest, überblickten den Festsaal, bestaunten die Schar erlauchter Gäste in ihren Roben. Da funkelten Brillanten und Saphire, rauschten Kleider aus Damast und Seide. Im Frack die Herren, Offiziere in Galauniformen mit Schärpen und Orden. Hier war sie versammelt, die Welt der Reichen: Vermögen, Eleganz, Schönheit und verborgene Macht gaben sich ein Stelldichein. Erstaunte Blicke streiften die drei Eifler Musikanten auf der kleinen Bühne. Man hatte zur Feier des Tages ein großes Orchester erwartet – und nun standen da oben drei absonderliche Gestalten und schauten verlegen in den Festsaal. „Sicher wieder eine der Marotten des Hausherrn“, tuschelte man sich zu; „Na, lassen wir uns – wie schon so oft – überraschen!“ Und in der Tat, der Brautvater sprach: „Eine Überraschung habe ich Ihnen und dem Brautpaar aus meinen Eifelwäldern mitgebracht. Drei Dorfmusikanten werden uns heute aufspielen. Und versuchen Sie zum Ahrburgunder und dem Riesling einmal Eifler Räucherschinken, Kartoffelwaffeln, Möhrentorte, Birnenschnitzkuchen, Döppekuchen mit Schnapspflaumen, Sauerampfersüppchen und andere Köstlichkeiten.“
Auf sein Zeichen begannen die Musikanten mit gedämpften Klängen ihr gesamtes Repertoire zu spielen. Zu ihrer Erleichterung spürten sie, dass ihre Musik bei den verwöhnten Festgästen gut ankam. Nach langen Lobreden, Toasts auf das Brautpaar und auf den schrulligen Hausherren begann das seltsame Festessen. Danach spielte das Trio zum Tanz auf. Das hatte der Hausherr sich ausbedungen: temperamentvoll sollte es zugehen, aus höfischer Etikette sollte die Gesellschaft erwachen, sich immer schneller im Tanze drehen.
Endlich folgte der Höhepunkt: die lange Litanei der Küchenmammselllieder, eines nach dem andern in bekannter Reihenfolge, vom Sannchen-Susannchen bis zum verlassenen Mädchen und so fort. Und da der Hausherr sich aufs Podium begab, den Takt schlug, lauthals mitsang, machte auch die noble Gesellschaft gute Miene zum Ungewohnten. Erst wars nur ein Summen, dann sang man mit so gut man konnte.
Und hoch über dem Podest, umkränzt von einer Girlande aus Eichenlaub: das Portrait des Kaisers. Aufrecht, im grünen Jägerhabit blickte Seine Majestät huldvoll herab auf sein Volk.
Nicht immer finden solche längst vergessene, oft wunderlichen Ereignisse ein erwartetes gutes Ende, einen Abschluss, der wie eine Botschaft, wie ein Gruß aus der Vergangenheit hinüberweht ins Jetzt. – Seit diesem großen, einmaligen Geschehen hörte man nichts mehr von Döres, Jüppchen und Köbes; sie blieben verschollen. Ihre Spur verlor sich im Wirbel der kommenden schrecklichen Ereignisse des großen Krieges und folgender wirrer Zeitläufe, die das Vaterland und die Welt erschütterten.
Geblieben aber sind im rastlosen Vorübergehen der Jahre die großen dunklen Wälder der Eifel, geblieben ist das nächtliche Rauschen der Ahr, sind die Felsen, kleine Tälchen und einsame Dörfer. Und geblieben sind die Menschen, die sich solche Geschichten an langen, dunklen Winterabenden noch heute in ihren Stuben erzählen.