Kriegsgefangen in der „Goldenen Meile“: Hunger und Hilflosigkeit
Hunderttausende deutsche Kriegsgefangene darben im Frühjahr und Sommer 1945 in den Rheinwiesenlagern von Remagen und Sinzig – Zeitzeugen schildern die damaligen Ereignisse
Niklas Schonschek
Am 8. Mai 1945 bemerkt Heinrich Pankuweit, wie auf der gegenüberliegenden Seite des Rheins die zuvor wegen des Bombenkrieges verdunkelten Häuser plötzlich erleuchten. Nach fast sechs Jahren ist der Krieg in Europa endlich aus. „Für uns war das aber kein Vorteil“, erinnert sich der heute 95-Jährige. Er ist einer von über 250.000 deutschen Kriegsgefangenen, die an jenem Tag unter primitivsten Bedingungen in den Rheinwiesenlagern von Remagen und Sinzig hausen.
Der Ursprung ihres Schicksals ist ausgerechnet der Ort ihrer Gefangenschaft: In Remagen gelang US-Soldaten zwei Monate zuvor, am 7. März 1945, erstmalig die Überquerung des Rheins. In der Folge stoßen die amerikanischen Truppen in rasantem Tempo ins Reichsinnere vor; Millionen deutscher Soldaten geraten in Kriegsgefangenschaft. Der 19-jährige Heinrich Pankuweit, Funker der 3. Fallschirmjägerdivision, ergibt sich am 17. April 1945 im Zuge der Kesselschlacht um das Ruhrgebiet mit einigen seiner Kameraden den Amerikanern.
Heinrich Pankuweit als junger Rekrut im Jahr 1943
Provisorium für die Menschenmassen
Um der rasch ansteigenden Anzahl deutscher Kriegsgefangener Herr zu werden, errichten die amerikanischen Besatzer 23 provisorische Durchgangslager, offiziell als „Prisoner of War Temporary Enclosures“ (PWTE) bezeichnet, entlang des Rheins. Zwei davon legen sie in der „Goldenen Meile“ von Remagen, Sinzig und Niederbreisig an.
Mitte April 1945 entsteht zwischen Remagen und Kripp das „PWTE A2“, indem eine Fläche von Wiesen und Äckern in der Nähe des Rheinufers mit Stacheldraht umzäunt wird. Rasch ist das Lager überfüllt: Bei einer Kapazität von 100.000 Mann sind Ende April bereits über 160.000 Kriegsgefangene in Remagen interniert. Wenige Kilometer südlich von Kripp bauen die Amerikaner darum das „PWTE A5“ auf, welches sich von Sinzig rheinaufwärts in Richtung Niederbreisig erstreckt. Auch dieses Lager überschreitet innerhalb weniger Tage die Marke der 100.000 Insassen.
Zehrende Verhältnisse
Heinrich Pankuweit erreicht das Gefangenenlager in Remagen, ein „riesiges und schlimmes Lager“, wie er es bezeichnet, am 25. April 1945. Nach der Ankunft müssen die Kriegsgefangenen auf freiem Feld ihre Übergangsheimat beziehen. Der Witterung schutzlos ausgeliefert, sehen sie nur einen Ausweg: Selbstgebuddelte Erdlöcher müssen als notdürftige Behausungen dienen. „Wir graben uns ein wie auf dem Truppenübungsplatz, nicht mit Spaten, sondern mit Konservendosen, abgebrochenen Löffeln und den Händen wie die Maulwürfe in tagelanger Arbeit“, beschreiben Hansheinrich Thomas und Hans Hofmeister den Erdlochbau in ihrem Buch „Das war Wickrathberg“.
Die ersten Wochen im Lager sind geprägt von nasskaltem Wetter, welches die „Goldene Meile“ in eine Morastwüste verwandelt. In dem Gedicht „Camp 16“ hält der Lyriker Günter Eich, selbst Kriegsgefangener in Sinzig, die Umstände fest:
„Nichts wird sein als der Regen, – mich schützt kein Dach und kein Damm, – zertreten wird auf den Wegen das Grün des Frühlings zu Schlamm.“ Später haben die Gefangenen mit dem genauen Gegenteil zu kämpfen, denn „teils war es auch sehr heiß“, wie Heinrich Pankuweit berichtet, „und wir bekamen viel zu wenig zu trinken.“ Nicht nur an Trinkwasser mangelt es, auch Nahrung ist bloß in unzulänglichen Mengen vorhanden. Die Tagesrationen bestehen aus Zutaten wie Corned Beef, Bohnen oder Milchpulver – nur wenige Esslöffel jeweils. Vom Hunger getrieben, verzehren die Gefangenen sogar rohe Futterrüben, auf die sie in der Erde stoßen. In seiner Publikation „Frühling am Rhein Anno 1945“ schildert Fritz Mann diese Situation: „Hier liegen sie auf dem Boden, bohren die verkrampften Finger in die Erde. Gierig, heißhungrig schlingen sie die Rüben ungewaschen hinunter.“
Innerlicher Ausnahmezustand
Seelisch macht der Lageraufenthalt den Kriegsgefangenen ebenfalls schwer zu schaffen. Die Bedingungen in den Gefangenenlagern sind zermürbend. „Der Mangel an allem und jedem steigert die Gereiztheit ins Unermeßliche“, notiert Benno Tins am 10. Mai 1945 in sein Tagebuch, das er später unter dem Titel „In den Pferchen“ publizierte. Ihrer Gewahrsamsmacht fühlen sich die Lagerinsassen hilflos ausgeliefert.
Die Besiegten blicken einer ungewissen Zukunft entgegen; dazu gesellt sich die Sorge um ihre Liebsten, von denen sie seit Wochen oder Monaten nichts gehört haben. Tag und Nacht hocken die Gefangenen, ohne einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen zu können, auf ihren Gedanken. „Da wächst der Lagerkoller und droht dich zu erdrücken“, konstatiert Fritz vom Hellweg in dem Buch „Rheinwiesen 1945“.
Hilfe von außen
Der umliegenden Bevölkerung bleibt das Elend in den Lagern natürlich nicht verborgen. „Hier in Sinzig sprach man viel über das Schicksal der Kriegsgefangenen“, erinnert sich Willi Netz, damals acht Jahre alt. Als sich im Ort die Kunde verbreitet, man könne den Gefangenen Nahrung in das Lager bringen, zögert seine Familie nicht.
„Wenn wir etwas zu essen übrig hatten“, erzählt der heute 84-Jährige, „dann packte meine Mutter mir ein Paket und ich marschierte damit an den Rhein.“ Nach einer kurzen Prüfung durch die Wachposten reicht der kleine Junge seine Gaben dort durch den Stacheldraht hindurch an die sichtlich erfreuten Kriegsgefangenen.
Laut Willi Netz ließen noch weitere Bürger den Lagerinsassen auf diese Weise ihre Unterstützung zukommen. „Aber man konnte trotzdem nicht allen helfen“, schränkt er jedoch ein, „wir hatten ja selbst nicht viel.“ Von welch großer Bedeutung die Solidarität der Zivilisten für die Kriegsgefangenen dennoch sein konnte, bezeugt Heinrich Pankuweit, als er sich einer Kartoffelspende entsinnt: Diese habe den Gefangenen „sehr geholfen“, sagt er, „vor allem hatten wir endlich ein richtiges Sättigungsgefühl.“
Bemühen um Verbesserung
Die Verhältnisse in den beiden Lagern entsprechen nicht den völkerrechtlichen Regelungen der Genfer Konvention, nach denen die Kriegsgefangenen wenigstens in Baracken unterzubringen und gleichwertig wie die Truppen ihrer Gewahrsamsmacht zu versorgen sind. Eine durch den Krieg zerstörte Verkehrsinfrastruktur erschwert die Versorgung der Gefangenen allerdings ebenso wie die Tatsache, dass Millionen sogenannte „Displaced Persons“, das heißt befreite ausländische Zwangsarbeiter und ehemalige Häftlinge aus den Konzentrationslagern, von den Alliierten mitversorgt werden müssen. Gleichwohl gelingt es den Amerikanern unter großer Anstrengung, die Zustände in den beiden Lagern abzumildern. „Nachdem wir beispielsweise wochenlang nur winzige Portionen Biskuit erhalten haben (…) kommt es jetzt vor, daß auf fünf Mann ein ganzes Weißbrot entfällt“, schreibt Fritz vom Hellweg in „Rheinwiesen 1945“ über die Verpflegung im Mai. Die Wasserversorgung der Insassen können die Bewacher zudem mit gechlortem Rheinwasser sichern. Dank massenhafter Entlassungen und Verlegungen von Gefangenen müssen Ende Mai 1945 „nur“ noch jeweils etwas über 80.000 Insassen in Remagen und Sinzig versorgt werden. Kranke werden von den Besatzern in Lagerlazaretten oder den Krankenhäusern von Remagen und Linz ärztlich versorgt. Um ihre Behandlung überhaupt gewährleisten zu können, fischen die Amerikaner hunderte Ärzte und Sanitäter aus dem Heer der Gefangenen heraus. Trotz alledem überleben etwa 1.200 Lagerinsassen die Kriegsgefangenschaft in der „Goldenen Meile“ nicht. Viele erliegen in ihrem geschwächten Zustand Krankheiten wie der grassierenden Ruhr, die das Lager epidemisch mit blutigem Durchfall befällt; einige Gefangene werden beim Fluchtversuch erschossen. Das Gros der Lagertoten wird auf dem Soldatenfriedhof in Bad Bodendorf bestattet.
Willi Netz 1944 zusammen mit seinem Vater Wilhelm
Abruptes Ende
Schon zwei Monate nach seiner Entstehung ist das Remagener Lager wieder Geschichte – bis zum 20. Juni wurde es von den US-Truppen vollständig geräumt. Knapp drei Wochen später, am 10. Juli 1945, übergeben die Amerikaner das Sinziger Lager an die Franzosen. Zehn Tage nach der französischen Übernahme wird auch dieser Lagerteil aufgelöst und die verbliebenen Gefangenen werden in das nahegelegene Rheinwiesenlager Andernach verlegt.
Nach kurzer Zeit war das Lagerareal übersät mit den zuvor mühsam ausgehobenen Erdlöchern, in denen die Kriegsgefangenen hausten.
Die „Goldene Meile“ sollte für viele Kriegsgefangene also bloß eine Zwischenstation sein. Heinrich Pankuweit wird schlussendlich im Juli 1945 von den Engländern in dem Lager Wickrathberg (bei Mönchengladbach) entlassen. Rückblickend zeigt er Verständnis für das, was er in Remagen erleben musste: Die Gefangenen während des Krieges zu versorgen, meint er, sei „wirklich schwierig gewesen.“ Eine gewichtige Rolle spielt für den Bad Godesberger außerdem die Vorgeschichte seiner Gefangenschaft: „Wir haben den Krieg schließlich begonnen, wir wussten alle, dass wir nicht gut gelitten waren.“ Auf dem ehemaligen Lagergelände in Sinzig erinnert heute eine kleine Gedenkstätte an das Schicksal der Kriegsgefangenen von 1945. Eingraviert in einen Gedenkstein sind die Worte: „Möge uns ihr Leid zum Frieden mahnen.“
Quellen/Literatur:
- Hansheinrich Thomas, Hans Hofmeister, Das war Wickrathberg. Erinnerungen aus den Kriegsgefangenenlagern des Rheinlandes, Minden 1950
- Günter Eich, Abgelegene Gehöfte, Frankfurt a. M. 1948
- Fritz Mann, Frühling am Rhein Anno 1945. Das Drama deutscher Kriegsgefangener im Lager Remagen-Sinzig, Frankfurt a. M. 1965
- Benno Tins, In den Pferchen. Als Deutscher in Deutschland kriegsgefangen, München 1966
- Fritz vom Hellweg, Rheinwiesen 1945, Wuppertal 1951
- Interview mit Willi Netz vom 26. Juli 2020; Interview mit Heinrich Pankuweit vom 28. August 2020
- Kurt W. Böhme, Die deutschen Kriegsgefangenen in amerikanischer Hand. Europa (= Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges Bd. X/2), München 1973
- Wolfgang Gückelhorn, Kurt Kleemann, Die Rheinwiesenlager Remagen und Sinzig. Fakten zu einem Massenschicksal 1945, Aachen 2013
- Günter Bischof, Stephen E. Ambrose (Hrsg.), Eisenhower and the German POWs. Facts against Falsehood, Louisiana State University Press 1992