Als ich für meine Enkel zur Rapunzel wurde
Ursula Streich
Während der Corona-Pandemie hieß es auch bei uns: Lockdown. Die Geschäfte blieben geschlossen, auch Kitas und Schulen waren zu. Wir Großeltern sollten unsere Enkel nicht mehr sehen, weil diese uns anstecken könnten und bei älteren Menschen das Corona-Virus schlimmere Folgen hätte.
Die beiden, zwei- und siebenjährigen Jungen waren sehr traurig, sie konnten uns, da wir im selben Haus wohnen, wir oben und sie unten, zwar noch sehen, durften aber nicht mehr zu uns kommen. Da hatte ich eine Idee. Ich sagte zu ihnen, ich würde für sie Rapunzel spielen. Und statt mein Haar, das sehr kurz ist, nahm ich etliche dicke Wollfäden und flocht einen Zopf daraus. An das Ende band ich eine kleine Holzdose.
In diese steckte ich Süßigkeiten, mal Gummibärchen, mal Lutscher oder Kekse. Nun ließ ich den Zopf von unserem Balkon herunter und sagte am Telefon zu den Enkeln, sie möchten mal rauskommen, da sei eine Überraschung drin.
Die zwei waren natürlich hellauf begeistert und jedes Mal hängten sie das Kästchen wieder in die Schlinge. Aber nicht einfach so, sie steckten immer ein Blatt Papier hinzu, worauf der große Bub einen Dank schrieb, zum Beispiel
„Dake libe Oma“.
Eines Morgens hatte ich vergessen, den Zopf herunterzulassen. Da klingelte mein Telefon und die Enkel klagten: „Hast du uns vergessen?“ Da ich im Moment nichts Süßes mehr fand, legte ich Buntstifte, ein Kartenspiel und Würfel in das Kistchen. Darüber freuten sie sich auch sehr und meinten: „Das kannst du öfter machen.“ So ging dieses Rapunzelspiel ein paar Wochen.
Als später die Schule und der Kindergarten wieder aufmachten, habe ich gesagt: „Nun könnt ihr ja auch wieder nach oben kommen.“ Ein bisschen traurig waren sie schon, freuten sich aber doch, wieder zu uns zu kommen. – Das war die „Rapunzelgeschichte“. Die Dankesblätter habe ich in dem Kästchen aufgehoben und will es ihnen später mal zeigen.