Entartung im Bauerntum
Von Wilhelm Heinrich Riehl (1823—1897)
Der sittliche Ruin des Bauern geht vor allen Dingen Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen. Der gleichmäßige, sichere Erwerb macht den Bauern gediegen. Nur die unberechenbaren Naturereignisse sollen es sein, die seinen Erwerb schwankend machen. Sie können jedenfalls seine „Rache gegen die Gesellschaft“ nicht herausfordern. Je mehr aber die Ackererzeugnisse Gegenstand der Spekulation werden, den großen Verkehrskrisen preisgegeben, um so mehr tritt der Bauer, den es trifft, aus seiner ursprünglichen Art heraus. Hagel und Mißwachs kann er hinnehmen, ergebenen Sinnes ausharrend, aber wenn er bei vollen Speichern darben muß, um einer Geschäftsstockung willen, deren Ursachen er nicht begreift und an deren Notwendigkeit er nicht glaubt, dann wird er gar leicht an sich selber irre.
Ein rasches Steigen und Fallen der Erwerbsverhältnisse tut niemals gut beim Bauern. Gerade das langsame, gemessene Tun und Treiben und die gleichheitliche Arbeit bedingt echte Bauernart. Vor ungefähr zehn Jahren wurden im Oberlahngau eine ganze Reihe von Eisensteingruben aufgeschlossen, und zwar in Gemerkungen, wo vordem kaum je auf Eisenerz gegraben worden war und ein recht gediegener Bauernschlag nur aus dem ziemlich mittelmäßigen Feldbau sein Brot gezogen hatte. Die Gruben zeigten sich sehr ergiebig und konnten, da die Erzgänge äußerst nahe an der Erdoberfläche herzogen, auch ohne großen Kapitalaufwand ausgebeutet werden. Viele Bauersleute waren imstande, sich eigene Gruben anzulegen. Der rasch erzielte Bargewinn verlockte wie ein Zauber, ein förmliches Bergbaufieber ergriff ganze Gemeinden. Jeder wollte schürfen, jeder sich seine eigenen Gruben anlegen. Es kam vor, daß Bauern ihre Häuser mitten im Dorf niederrissen, um auf ihrer Stätte nach Eisensteinen zu graben. In wenigen Jahren schienen die Bauerndörfer in reine Bergmannsdörfer verwandelt zu sein. Aber die Schwindelei trug bald ihre bitteren Früchte. Der gute Absatz stockte nach einer Weile, gar viele der neuen Bergleute mußten wieder zum Pfluge greifen, andere anderwärts ihr Brot suchen, und der alte solide Geist der Bauernschaft war gebrochen. Nur drei oder vier Jahre allzu leichten Erwerbs, nur drei oder vier Jahre Wohlleben und Aufgeben der alten, einfacheren Sitten hatten hingereicht, um aus zufriedenen kleinen Leuten mißvergnügte Halbbauern zu machen, die den alten Halt ihrer Sitte niemals wiederfinden werden. Und doch wirkt der Bergbau an sich fast überall veredelnd auf die ländliche Bevölkerung, ja der Bergmann ist sonst das rechte Muster eines frommen Arbeiters, der rechte Stammhalter guter alter Bräuche und Sitten. Allein mit dieser historischen Figur des deutschen Bergmannes hatten unsere Schwindler eben darum nichts gemein, weil sie urplötzlich aus den festen Bahnen ihrer bisherigen Existenz herausgesprungen waren, weil sie einem jähen Gewinn ihren historischen Boden geopfert hatten. Wer den Bauern gediegen und ehrenfest erhalten will, der muß dazu tun, daß er in den Grenzen eines stetigen und festen Erwerbs verharre.