Die verlorenen Dörfer
Von Lehrer Herber, Ahrweiler
Die wildzerklüftete Felslandschaft der mittleren Ahr, bedingt durch eine mitunter 90gradige Verwerfung der Devonschichten, flacht sich nach Süden mählich ab, um sich in den Südzipfel der Kölner Bucht, in die Ebene, zu verlieren. Entgegengesetzt jedoch steigen die Berge, werden massiver, von tiefen Tälern zerteilt, bilden sie breite Züge, aus denen Kuppen wuchtig hervorragen. Straßen, den Bachläufen folgend, oder sich in weit ausholenden Kehren emporwindend, führen in das höchstgelegene Bergland unseres Kreises, in den östlichen Ausläufer der Hocheifel, ins „Heckenbacher Ländchen“, in das Gebiet der verlorenen Dörfer.
Eifel! Wiesengründe in den Tälern und Tälchen, Wälder und Lohschläge und nutzloses Geheck an schrägen Hängen, dürftige Felder und Feldchen dort, wo die Anfahrt nicht allzu beschwerlich ist, Ginster und Heide und Beerengesträuch auf den Kuppen! Gespeist von der bewaldeten Bergwelt eilen alle Wasser in kurzen Läufen zur Ahr: Dennbach, Weidenbach, Heckenbach und Atzbach. Ein Kranz von Bergspitzen, deren Höhe zuin Teil die 600 m-Grenze übersteigt, säumt das Ländchen: Schöneberg 670 m, Schellkopf 651 m, Beckshahn 643 m, Hohe Märte 628 m, Auf der Wurst 615 m, Hühnerberg 610 m, Düsselsberg 607 m, Schneppscheid 593 m, Mauchert 576 m.
Jahrhundertelang, zum Teil ängstlich versteckt vor dem Wüten der Schneestürme und den böigen Schauern der häufigen Berggewitter, lagen in diesem Gebiet die Siedlungen, 12 Dörfer, bis ein unerbittliches Schicksal vor 14 Jahren ihre Bewohner zwang, Scholle und Heimstatt aufzugeben: Denn, Weisenbach, Hersch-bach, Kaltenborn, Niederheckenbach, Oberheckenbach, Watzel, Fronrath, Kassel, Blasweiler, Beilstein und Lederbach. Den Dörfern Kesseling und Staffel, ebenfalls zur Umsiedlung vorgesehen, blieb dieses Los erspart.
Schon in den Uranfängen der Staatenbildung im vaterländischen Raum werden mehrere der genannten Orte urkundlich erwähnt: Blasweiler 992, Heckenbach 772, Denn 1264. In ununterbrochener Folge wechseln im Ablauf der Jahrhunderte die herrschaftlichen Besitzer, unter dem namhafte Geschlechter der engeren und weiteren Heimat vertreten waren. Die uralte Abtei Prüm, deren Mönche an den westlich von Kesseling gelegenen Südhängen die ersten Weinreben anpflanzten, die Kölner Kurfürsten, die Herren von Kempenich, Graf Gerhard von der Landskron, Lehensträger Rudolfs von Habsburg, die Bassenheimer, deren Grenzsteine mit den Buchstaben W. v. B. (Walpot von Bassenheim) heute noch in den Siedlungen Heckenbachs stehen u. a. Zu Napoleons Zeiten gehörte das Gebiet zur Mairie Virneburg, Kanton Wehr, Arrondissement Bonn, Departement Rhine et Moselle, wurde dann im Wiener Kongreß dem zur preußischen Provinz Rheinland gehörigen Kreis Ahrweiler zugesprochen.
Abgeschieden von dem drängenden Treiben der sich immer mehr modernisierenden Welt, vernachlässigt vom stürmischen Aufstieg der Industrien, vollendeten die Dörfer ihr schlichtes Leben, Jahrhundert um Jahrhundert, in Häusern und Häuschen, errichtet aus örtlich gegebenem Baumaterial, eingerichtet mit einfachen, deftigen Möbeln. Bemooste Strohdächer auf Wohnstatt, Stall und Scheunen waren vor zwanzig Jahren noch zu sehen. Lebensweise und Kleidung waren denkbar einfach. Verlebt wurde das, was Flur und Stall abwarfen. Bares Geld, unendlich mühsam erworben, ruhte — leichtverständlich — lange in Strumpf und Kiste, ehe dringende Notwendigkeit eine Ausgabe erzwang. Dadurch herrschte durchweg ein wenn auch bescheidener Wohlstand.
Den Hauptteil zum Lebensunterhalt bestritt die Landwirtschaft in Klein- und Kleinstbetrieben. Als Zugtiere dienten Ochsen und Kahrkühe, selten Pferde; nur sehr gut gestellte Bauern besaßen hier ein Pferd. Roggen, Hafer und Kartoffeln wurden vorwiegend angebaut. Die Müller bevorzugten den feinschaligen Roggen, die Städter die wohlschmeckenden Kartoffel der leichten Böden. In Tagesfahrten, meist im einspännigen Ochsenwagen, brachte man die Produkte zur Verladung an den Bahnhof Brück. Nur zum Eigenbedarf wurden Gerste und in besten Lagen ein Feldchen „Weizen eingesät, ebenso Semmerings- und Buchweizen, das Heidekorn „Handsch“. Die Schiffelkultur konnte 1930 noch vereinzelt beobachtet werden. Die Großtierzucht warf verhältnismäßig wenig ab, bedingt durch weniger wertvolle Viehschläge, mehr noch durch die geringe Futterbasis. Viele Dörfer besaßen eine Schafherde, oft mehrere hundert Tiere zählend. Ein ortsansässiger Schäfer hütete sie, Sommer wie Winter, ohne fremde Weidegründe zu befahren. Als Ersatzfutter für harte Wintertage wurden im Monat August die Eschen „geschanzt“. Das an den Reisern getrocknete Eschenlaub nahmen die Schafe als Leckerbissen gerne an. Was die sommerliche Schafschur einbrachte, wurde an die Adenauer Tuchfabriken verkauft. Diese gaben als Enteelt im Tausch das unverwüstliche „Addene Doch“. Vielfach hielten die Bauern Schafe nur des hochwertigen Düngers wegen. Verhältnismäßig geling, trotz üpniger Weide, war die Zahl der Bienenvölker. Noch lange nach der Jahrhundertwende herrschte vorwiegend die Korbzucht. Bedingt wohl durch die Haupttracht, die Heide, erfordert diese Art der Imkerei wenig Fachkenntnisse und geringe Zeit zur Pflege. Der größte Teil der Völker wurde im Herbst durch Schwefel abgetötet. Dann kam der „Zissener Hunnigjud“ mit Eselswagen und Fässern und stampfte für billiges Geld die ausgebrochenen Waben ein. Nur zögernd wandten sich die Imker der Mobilzucht zu. Scharen von Hühnern, vorwiegend „Mistkratzer“, tummelten sich in den Dörfern. Was die Frauen nicht in den Lädchen gegen Bedarfsartikel des täglichen Gebrauchs eintauschten, trug das „Eiermännchen“ wöchentlich in vollen Körben nach Ahrweiler.
Ausgedehnte Waldungen, größtenteils Gemeindebesitz, brachte den Dörflern neben billigem Hausbrand bares Geld; denn kaum waren die Hauptfeldarbeiten im Herbst verrichtet, schlössen sich die noch rüstigen Männer zu Haukolonnen zusammen. Bei Vergebung der Holzschläge durch den Förster erhielt die mindest bietende Kolonne den Zuschlag.
Aber auch die Heide zollte ihren Teil zum Lebensunterhalt. Wenn nicht späte Maifröste die Blüte der Heidelbeeren vernichtete, konnte der Bauer gewichtige Posten in seinen Beschaffungsplan einsetzen. Das Geld war ihm sicher, es lag auf der Heide. Wochenlang standen dann Abend für Abend die in den langen Wintertagen gefertigten bauchigen Haselschienenkörbe, die „Reste“, voller blauer Beeren im kühlen Zimmer. In den letzten Jahren kamen die Händler mit ihren Lieferwagen ins Dorf und kauften gegen bares Geld die Ernte. Oft überstieg der Erlös der gesamten Beerenernte eines Dorfes, einschließlich Himbeeren und Brombeeren, die Einnahmen des jährlichen Viehverkaufs.
Dann aber saß das Geld auch etwas lockerer in der Tasche, besonders wenn es galt, zur Kirmes, dem Dorffest, zu rüsten. Und Kirmes wurde gefeiert. Sie brachte einmal eine Abwechslung in den eintönigen Alltag. Verwandte und Freunde aus nah und fern stellten sich ein. Berge von Bunnes, Reis-, Grießmehl- und Streufladen wurden vertilgt.
Sommerlicher Buchenwald
Photo: Hermann J. Ege
Die Schnapsflasche kreiste in der Runde und das Tanzbein wurde bei fröhlichem Umtrunk geschwungen. Wehe dem Eintretenden, der das dargereichte Glas zum Freundschaftstrunk verweigerte. Feinfühlend war der Dörfler trotz aller Bescheidenheit und treu blieb er dem alten Brauchtum. Die junge Mutter, die als letzte vor dem Martinsabend einem Kindchen das Leben schenkte, mußte eine Kerze stiften. Mit dieser brennenden Kerze wurde das Martinsfeuer entzündet, nachdem die Jugend betend den Holzstoß dreimal umschritten hatte. Am prasselnden Feuer entfachten dann die Buben ihre selbstgemachten langen, festgepreßten Strokfackeln, mit denen sie, Irrlichtern gleich, durch Felder und Wiesen rannten. Mailehen und Maibaum, „Hülbier“ und „Hillich“ und „Tier jagen“ Bräuche der Junggesellen blieben hoch in Ehren. Aber auch Krankheit und Tod waren umrankt von dörflichem Brauchtum. Unter Anteilnahme aller Dorfbewohner, in feierlicher Prozession, trug der Geistliche die Wegzehrung zum Kranken in das festlich hergerichtete Haus. Wenn aber der Tod selbst an das Sterbezimmer gepocht hatte, gingen die großen Schulmädchen die „sieben Fußfälle“. Den Rosenkranz für den eben Verstorbenen betend, schritten sie zu Heiligenhäuschen und Wegekreuzen. Drei Nächte, in der Zeit, da der Tote auf dem „Schof“ lag, hielten die Männer der Nachbarschaft die Totenwache. Je nach der Krankheit, an der der Verstorbene gelitten hatte, wurde der Schnapsflasche eifrig zugesprochen. Im Sarg, auf eine Karre gebunden, mit dem Kopf nach vorne, machte der Tote seine Fahrt. So „sah“ er zum letzten Male das sich immer weiter entfernende Dorf. Die begleitende Dorfgemeinschaft machte dreimal halt und kehrt, dabei ein Vaterunser betend. Stationen des Lebens, freudige oder durch Krankheit und Tod gezeichnete, fanden im Brauchtum, das oft bis in die heidnische Vorzeit zurückreichte, ihren Niederschlag.
Dann zerschlug ein hartes Geschick unbarmherzig die Dörfer und die dörfliche Gemeinschaft. Als die ersten Gerüchte über eine geplante Umsiedlung in die Dörfer drangen, hielt jeder sie für unglaubwürdig. Doch schnell wurde das Unfaßbare Wirklichkeit. Zerstreut in ganz Westdeutschland, von der Südeifel bis zum Niederrhein, auf dem Hunsrück, im Maifeld und auf dem Westerwald, suchten und fanden die Umsiedler ein neues Arbeitsfeld. Verschlagen in alle Winde, eingepflanzt in eine Umgebung ganz anderer Struktur, wurde der Fremdling nur mählich warm, fand er nur langsam eine neue Heimat. Mancher fand keine mehr. Man kann einen alten Baum nicht umpflanzen, es sei denn, daß er verdorrt oder nur kümmerlich neue Wurzeln schlägt.
Wer kurz nach der Umsiedlung eines der verlorenen Dörfer betrat, floh bald entsetzt aus ihm. Ehemals kündeten Hahnenschrei und Hundegebell, das Brüllen des Viehes oder gar frohes Kinderschreien an, daß nicht mehr weit versteckt ein Dorf lag. Dann aber unheimliche Totenstille dort, wo gar nicht lange vorher ländliches Leben pulsierte. Quietschende Türen und Tore, schief nur an einer Angel hängend, klirrende Fenster und klappernde Dachziegel steigerten das Gefühl der Unheimlichkeit. Und heute: Steinhaufen, umstürzende Mauern, Häuserreste mit Dachsparren, Totengerippen gleich, Trümmer und Ruinen, überwuchert von Holunder und Nesseln und verwilderten Obstbäumen, so liegen sie da, die verlorenen Dörfer. Aber aus den Ruinen blühte dennoch neues Leben. Neben ehemaligen Dörflern fanden Vertriebene aus dem Osten dort eine neue Heimstatt. Schmucke Neubauten, weit auseinandergezogen und zerstreut, leuchten weit sichtbar in der Sonne.