Servatius Otler

Unsere raschlebende Zeit hält in der Regel nur außerordentliche, auffallende Persönlichkeiten in der Erinnerung fest. Und doch: auch ein schlichtes Menschenleben ist des Andenkens wert, zumal wenn sein Wollen und Streben, sein Arbeiten und Wirken im Dienste der Mitmenschen standen. Aus diesem Grunde wollen wir aus der andrängenden Fülle des Gewesenen die Erinnerung an Servatius Otler wecken, an die Geschichte seines Lebens und an die Geschichte seiner Seele mit Gott in schwerer Zeit. Von 1626 bis 1667 war er Pfarrherr und Schutzherr von Ahrweiler. In Vianden in Luxemburg, das seit 1556 durch das Testament Karls V. zu Spanien gehörte, wurde Servatius Otler als Sohn schlichter Bürgersleute geboren. Der geweckte Knabe erhielt seine Ausbildung im benachbarten deutschen Benediktinerkloster Prüm, in dem er auch als Mönch verblieb. Mit jungen Jahren wurde er schon Chronist des Klosters. Seine anschaulichen Zeitbilder stellen, nicht nur für die Schicksale des Klosters, sondern auch für die rheinische Heimatgeschichte wertvolle Zeugnisse dar; besonders die letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges erscheinen durch die Otler’sche Chronik in eigenem Licht.

Das Vertrauen seiner Vorgesetzten berief ihn bald auf den wichtigsten „Außendienstposten“ der Abtei; 1626 wurde Otler Pfarrer von Ahrweiler. Diese reiche Pfarrstelle wurde schon seit Jahrhunderten vom Kloster Prüm, das in Ahrweiler außer dem großen Kirchengute noch 27 Höfe besaß, besetzt. Diese Pfarrstelle verwaltete Servatius Otler als getreuer Hirte seiner Herde 42 Jahre mit nie erlahmender Hingabe.

Die Wallfahrten nach dem Kalvarien-berg, die damals schon einen festen Bestand im religiösen Leben unserer Heimat bildeten, förderte er noch durch Wort und Beispiel. Er war es auch, der sich für die Errichtung eines Klosters an der Wallfahrtsstätte einsetzte. Durch seinen Einfluß erwarben die Brühler Franziskaner das Recht, dort ein Kloster zu errichten. So entstand mitten im Dreißigjährigen Kriege, im Jahre 1630, das Franziskanerkloster Kalvarienberg.

Wenn auch in den ersten vierzehn Jahren dieses unheilvollen Bruderkrieges das Ahrtal von der Soldateska unbehelligt blieb, so nagte doch die kreatürliche Angst in den Menschen, dem Krieg auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein. In dieser quälenden Erwartung schoß in unserer sonst noch friedlichen Heimat der so verhängnisvolle Hexenwahn auf. Hunderte von Ahrweiler Bürgern wurden als Hexen angeklagt, auf die Folterbank gezerrt und zu wahrheitswidrigen Geständnissen gezwungen. Servatius Otler, der als Beichtvater von der Unschuld der Angeklagten überzeugt war, trat wie Friedrich Spee mutvoll für die Unschuld der Opfer ein; es gelang ihm, über achtzig Angeklagte vom schmählichen Scheiterhaufen zu bewahren. Aber der Volkswahn wollte seine Opfer haben, obwohl Servatius Otler sein eigenes Leben einsetzte, vermochte er es nicht, dreißig Unschuldige den ungerechten Richtern und eigennützigen falschen Zeugen zu entreißen. Dreißig unschuldige Menschen wurden entweder auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder auch mit dem Schwerte enthauptet. Sogar die Frau des Bürgermeisters Stapelberg, eine kluge und redegewandte Frau, wurde als vermeintliche Hexe hingerichtet. Unendlich gequält war da das Herz des Pfarrherrn ob des unschuldig vergossenen Blutes und noch mehr ob der Hartherzigkeit der Verleumder und ungerechten Richter.

Gleichsam wie ein Strafgericht für diesen mit Ungerechtigkeit vermischten Wahn brach nun auch der Krieg mit all seinen Schrecken ins Ahrtal ein. Die siegreichen Schweden eroberten, brandschatzten und plünderten unsere Heimat.

Da flohen die Reichen, da flohen die falschen Zeugen und ungerechten Richter, da floh sogar ein Teil der Schützen; auch der Bürgermeister mit den Ratsherren suchte Sicherheit in der festen Saffenburg. Alle wußten, daß die Stadtmauern, die durch fast 400 Jahre jedem Feind den Zugriff auf die Stadt verwehrt hatten, den Schweden mit ihren Feuerwaffen kein übergroßes Hindernis mehr bedeuten konnten. Nur zwei mutige Männer traten am Ahrtor den Schweden entgegen, um die wehrlose Stadt vor Unheil zu bewahren, ein Ratsherr und der Pfarrer Servatius Otler. Ihrer Fürsprache war es vergönnt, die Stadt vor Brandschatzung und Plünderung zu bewähren. Gute „Worte allein bewirkten das jedoch nicht. Es mußten vielmehr hohe Kriegskosten gezahlt werden. Auch mußte Pfarrer Otler ein Lösegeld für die Erhaltung der Glocken zusammentreiben. Nur die Häuser der Geflohenen wurden ausgeplündert.

Servatius Otler versuchte, von den Schweden einen Schutzbrief für seine Stadt zu erhalten, der Ahrweiler auch in kommenden Tagen einige Sicherheit versprechen sollte. Da Ahrweiler als Festung zu betrachten war, blieben die Bemühungen des Priesters ohne Erfolg. Durch Otlers Fürsprache aber wurde dem außerhalb der Mauern gelegenen Kloster ein Frei- und Schutzbrief verliehen, der in den weiteren 16 Kriegsjahren von allen Parteien, ob Freund oder Feind, ob Katholik oder Protestant, immer beachtet wurde, so daß kein Krieger das Kloster betrat.

Nach dem Abzug der Schweden kamen andere Kriegsvölker, einmal Freunde, dann wieder Feinde, ins Ahrtal und nach Ahrweiler. Jedem Eindringling trat Servatius Otler mahnend und flehend entgegen, die Stadt vor Grausamkeiten und Unbill zu bewahren. So ward er der große Beschützer einer gefährdeten Stadt. Die wilden Scharen des Herzogs Bernhard von Weimar ließen sich 1246 nicht versöhnlich stimmen. Sie warfen den Pfarrherrn sogar ins Gefängnis und beraubten ihn seines ganzen Eigentums. Als im gleichen Jahre die Scharen von Turenne sich 1646 brennend und plündernd der Stadt näherten, als Königsfeld, Heimersheim und Gelsdorf in Flammen standen, rettete Servatius Otler sich und die heiligen Geräte auf den Kalvarienberg; hier fanden auch viele Stadtbewohner sicheren Schutz, Obdach und Nahrung. Denn da war Flucht die einzige Rettung; als die entfesselte Soldateska die Kirche plündern wollte und zu ihrer Wut keine Schätze mehr vorfand, erschlug man in wilder Enttäuschung den Pfarrer von Heimersheim, der sich vor die wehrlosen, in die Kirche geflüchteten Frauen und Kinder stellte. Nach baldigem Abzug der Feinde zog der Pfarrherr mit seinen Gläubigen wieder in die vorher gereinigte und neu geweihte Kirche und hielt einen Sühnegottesdienst.

Diesen schrecklichen Kriegstagen folgte nach zwei Jahren endlich der langersehnte Friede. Nun erst erlebte der Pfarrer Friedensjahre in Ahrweiler, nachdem er sechzehn harte Kriegsjahre hatte durchstehen müssen. Aber Rast mußte er sich versagen, denn es galt, die durch Krieg und Not verhärmten Menschen wieder aufzurichten, ihnen den Weg zu zeigen mit starkem Gottvertrauen und durch tätige Mitarbeit den Weg in eine glücklichere Zukunft zu bahnen. Nicht nur kam es darauf an, Witwen, Waisen und Kriegskrüppel menschlich und geistlich zu trösten, es mußte ihnen auch wirtschaftlich geholfen werden. Da sprach Pfarrer Otler bei den Grundherren, dem Adel und den Klöstern vor, die 80 Prozent des Grund und Bodens in Ahrweiler besaßen. Und wie Pfarrer Otler als Vertreter des Klosters Prüm den verarmten Lehns- und Pachtbauern die Abgaben erließ und die Frondienste milderte, so folgten auch die übrigen Grundherren diesem großmütigen Beispiel, so daß sich der Bauernstand bald wieder erholte; und das wieder bedeutete Gewinn für den übrigen Bürgerstand, die Kaufleute und Handwerker.

So können wir gerade nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder ein Aufblühen der Stadt feststellen. Die auf zwei Drittel gesunkene Einwohnerzahl der Stadt wurde in den Friedensjahren durch einen starken Bevölkerungszuwachs wieder erhöht.

Da fiel in diese Blütezeit eine zweijährige Unglückszeit, die mehr Menschen in Ahrweiler dahinraffte, als der ganze Dreißigjährige Krieg es getan hatte: der „Schwarze Tod“ schwang seine Geißel.

Der nun schon greise Pfarrherr nahm auch den Kampf mit der Pest auf. Trotz Verbot des städtischen Rates besuchte er die Pestkranken, um ihnen Stärkung für Leib und Seele zu bringen. Aber der Tod hält reiche Ernte, stirbt doch ein Drittel der Bewohner. Die Toten dürfen nicht auf dem Friedhof vor der Kirche begraben werden. Da werden Gräber in die Gärten und Felder gescharrt. Da erscheint der getreue Pfarrherr oft in dunkler Nacht, um die Erde und das Grab zu segnen, auf daß der Tote in geweihter Erde ruhe. Da werden alle Frondienste und Abgaben der Bauern und Witwen erlassen. Da werden die noch gefüllten Zehntscheunen und Speicher und Keller geöffnet, um den Kranken und Siechen zu helfen.

Der gütige Pfarrherr verwandelt sein großes Pfarrhaus in ein Siechen- und Krankenhaus. So kämpfte er als berufener Priester gegen den Schwarzen Tod. Und die Seuche läßt nach. Da sendet Ser-vatius Otler als getreuer Hirte, der sein Leben für seine Schafe gibt, das inbrünstige Gebet zum Himmel: „Lieber Gott, nimm mein Leben als letztes Opfer hin und schone meine Pfarrkinder!“ Dieses edle Gebet wurde erhört. Servatius Otler gab sein Leben für seine Schafe, und die Seuche erlosch. Servatius Otler wurde von seiner dankbaren Gemeinde im Chor der Pfarrkirche begraben. Wohl flackerte ein Jahr später die Pest noch einmal auf. Aber der Geist Servatius Otlers lebte in seinem Nachfolger und in seinen Kaplänen. Alle eiferten dem Beispiel Otlers nach und starben so als letzte Opfer der Pest.

Auch hier besiegte die Liebe den Tod. Noch bewahrt die Kirche den Kelch mit der Inschrift „Servatius Otler“.

Die Stadt aber ehrte den heldenhaften Priester, indem sie vor drei Jahren eine neue Straße mit neuen Wohnungen für die Ostvertriebenen „Otler-Straße“ nannte. Wir aber wollen ihm in unseren Herzen ein bleibendes Andenken bewahren, ein Andenken, das von Liebe kündet und Liebe ausstrahlt in die oft so lieblose Zeit.

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