Das Ermland und seine Menschen
Von Pfarrer Dannowski
Der frühere Luftwaffenübungsplatz Ahrbrück wurde 1950 zur Wiederbesiedlung freigegeben und man beschloß, heimatvertriebene Bauern aus dem Ermland anzusiedeln. Es ist dies im ganzen Bundesgebiet die einzige landsmannschaftlich geschlossene Siedlung, und das Land Rheinland-Pfalz wie auch die Diözese Trier sind in dankenswerter Weise bemüht, Volkstum und Art eines wenn auch kleinen Teiles der verloren gegangenen deutschen Gebiete zu erhalten.
Manch einer wird das „Ermland“ früher kaum dem Namen nach gekannt haben und wird darum vielleicht gern etwas von seiner Geschichte und seinen Menschen erfahren wollen, denn man will ja wissen, mit wem man zusammenwohnt.
Wenn wir eine Karte unseres deutschen Vaterlandes aufschlagen und mit einem raschen Blick tausend Kilometer nordöstlich wandern, kommen wir nach Ostpreußen, das im Norden von den Wellen der Ostsee umspült wurde, im Westen durch Nogat und Weichsel begrenzt war und nach Süden und Osten offene Grenzen nach Polen und Litauen hatte.
Legen wir nun neben den Atlas noch ein Geschichtsbuch und blättern darin rund 750 Jahre zurück — es ist jene Zeit, als man hierzulande den Bau des Kölner Domes begann —, so erfahren wir, daß damals in jenem dünnbesiedelten Land des Ostens — neun Zehntel waren Wald und Ödland — die Prussen oder Preußen wohnten. Sie waren keine nahen Verwandten von uns, also keine Germanen, aber auch nicht Slaven, wie es die Polen und Russen gern wahrhaben möchten, sondern Angehörige einer indogermanischen Völkergruppe, die den Litauern und Letten nahestand. Sie waren noch Heiden. Wohl waren ein Adalbert von Prag und ein Bruno von Querfurt einst
hingekommen, um den christlichen Glauben zu verkünden, doch sie starben dort den Martyrertod. — Da richtete der polnische Herzog Konrad von Masovien im Jahre 1226 an den Deutschen Ritterorden und dessen Hochmeister Hermann von Salza die Bitte, ihm gegen die dauernden Einfälle der preußischen Nachbarn zu helfen. Der Deutsche Ritterorden suchte damals nach einem neuen Aufgabengebiet. Als nun außer dem polnischen Her-* zog auch Kaiser und Papst dem Orden die Zusicherung gaben, ihm das eroberte Preußenland als Eigentum zu überlassen, nahm er das Angebot an. Aus allen Teilen Deutschlands zogen also im Jahre 1226 Ritter mit ihrem Gefolge in einen neuen Kreuzzug gen Osten, eroberten das Land und gewannen es für Christentum und abendländische Kultur. Auch das Rheinland hat dabei seinen Anteil geleistet. Erwähnt sei nur eine Urkunde, die bestimmt, daß die Bailei Koblenz jährlich den notwendigen Wein für die Ritter und den Hochmeister zu liefern habe. 1274, also in der Hochblüte deutscher Baukunst, begann man mit dem Bau der Marienburg. Ihr folgten viele weitere Burgen und Dome des Ostens, die noch heute Zeugnis von deutschem Geist und Können geben.
Am 29. Juli 1243 kam ein Gesandter des Papstes in das Ordensland und teilte das Gebiet in vier Diözesen ein. Jeder der vier Bischöfe, so wurde in der Urkunde bestimmt, sollte in einem Drittel seiner Diözese eigener Landesherr sein und mit den gleichen Rechten regieren wie der Orden in den übrigen Teilen. Die Diözese Ermland lag in der Mitte des ganzen Landes. Ihr erster Bischof, Anselm, übernahm sie am 27. April 1251 als Bischof und ein Drittel davon als Landesfürst. Das, ist der Geburtstag des „Fürstbistums“ Ermland, das die späteren Kreise Braunsberg, Heilsberg, Rößel und Allenstein umfaßte.
Dorfkirche in Bachem
Foto: Steinborn
Diese Zeilen mögen dem Leser vielleicht trocken oder sogar langweilig erscheinen, doch nur so kann man die religiöse und kulturelle Eigenart des Ermlandes als katholisches Bauernland verstehen.
Als im Jahre 1525 der damalige Hochmeister des Ordens, Albrecht von Hohenzollern, zum Protestantismus übertrat und sich Herzog Albrecht von Preußen nannte, wurde mit ihm das ganze Ordensland protestantisch, außer dem Fürstbistum Ermland; denn der Bischof von Ermland blieb dem alten Glauben treu und mit ihm sein Land gemäß dem damals geltenden Grundsatz: „Wes das Land, des die Religion“. Daran änderte sich auch nichts, als 1772 Friedrich der Große das Ermland dem preußischen Staat einverleibte. Zwar ging die politische Selbständigkeit verloren, doch das Land blieb katholisch.
Wer Ostdeutschland nur oberflächlich kennt, verbindet mit Ostpreußen gern die Begriffe „Großgrundbesitz und Adelsgeschlechter“. Das Ermland war aber ein ausgesprochenes Bauernland. Und das erklärt sich so:
Der Orden hatte auch die Sorge für die Sicherheit seines Landes zu tragen. Er holte sich darum Adlige aus der westdeutschen Heimat, verpflichtete sie zum Heeresdienst und gab ihnen dafür reichen Landbesitz. So entstand das „Rittergut“ und der „Rittergutsbesitzer“. Auch für das vom Bischof regierte Land hatte der Orden den militärischen Schutz zu übernehmen. So konnte der Bischof in seinem Land Bauern ansiedeln, und gerade die Bischöfe des Ermlandes haben vorbildliche Siedlungsarbeit geleistet. Die Bauern lockte gewiß auch die Großzügigkeit der Besiedlung, die der weiträumigen Landschaft entsprach, sie erhielten größere Höfe, als ihre Väter in der alten Heimat besaßen, meist 200—300 Morgen. Aber das allein war es nicht. Auch die Bauern und Handwerker fühlten in sich etwas von dem Geist der Kreuzfahrer. Sie waren mitberufen, das Kreuz Christi in ein neues Land zu tragen. Zogen die Ritter mit Kreuz und Schwert aus, so taten es die Bauern mit Kreuz und Pflug.
Die großen Siedlerbischöfe des Ermlandes stammten aus der Gegend um Lübeck und Breslau. Daraus erklärten sich die bis heute im Ermland gesprochenen Dialekte, das Niederdeutsche und das Breslauische. Die Sprache der alten Preußen ging fast ganz darin auf. Ebenso erging es der preußischen Bevölkerung und ihrem Brauchtum. Sie wurden weder vernichtet noch verjagt, sondern wurden durch die größere Zahl der Neubürger und deren höhere Kultur langsam aufgesogen.
Die Bischöfe warben unter ihren Bekannten und Verwandten, und so zogen oft ganze Familien und Sippen in das neue Land. Dadurch wurde die Familie, oder — wie man im Ermland zu sagen pflegte — die „Freundschaft“ Ausgangspunkt des Gemeinschaftslebens. Das hat sich durch die siebenhundert Jahre im Ermland erhalten. Alle Feste, die gefeiert wurden, waren zuerst Familienfeste. Die Häuser waren groß und geräumig, und so war es keine Seltenheit, wenn 40—60 Personen zur Geburtstagsfeier oder hundert zur Hochzeit zusammenkamen. Auch die Kirmes war ein Familienfest. Man kam aus den Nachbarorten in Prozessionen zu dem Festgottesdienst, kaufte an den Verkaufsständen etwas für die Kinder und besuchte dann die Verwandten und Bekannten. Eine öffentliche Kirmes mit Kirmeszelt war unbekannt. Selbst bei allgemeinen Festen wie Schützenfest im Sommer oder Vereinsfesten im Winter sah man die Familien zusammen. Sie kamen im Kutschwägen angefahren und fuhren auch gemeinsam wieder heim. Verständlich, daß das Heimfahren oft recht spät wurde, weil es nicht ganz leicht war, alle so schnell zusammen zu bekommen.
Die erweiterte Familie war die Pfarrgemeinde. „Kirchspielskinder“ pflegten sich untereinander zu duzen und der Pfarrer galt allgemein als Vater der Gemeinde. Er gehörte bei allen frohen und traurigen Anlässen dazu. Er durfte nicht nur der „Geistliche“ sein, sondern mußte auch in wirtschaftlichen Fragen Bescheid wissen, auf jeden Fall dafür Interesse und Verständnis zeigen. So verkündete einmal ein Pfarrer sonntags von der Kanzel: „Der Herz-Jesu-Freitag wird in dieser Woche auf den Mittwoch verlegt, weil Freitag in Königsberg Bullenauktion ist“, und die ganze Gemeinde nickte verständnisvoll lächelnd Beifall.
Das Ermland hat von jeher eine Sonderstellung innerhalb Ostpreußens eingenommen. Ermland war ein Bauernland, während im übrigen Ostpreußen der Großgrundbesitz vorherrschte. Selbstbewußtes Denken und Handeln bewiesen die ermländischen Bischöfe schon z. Zt. der Besiedlung. Sie standen oftmals in ihren Planungen und Verwaltungen im Gegensatz zum Orden, und die Siedler erfuhren es immer wieder, daß sich der alte Satz: „Unter dem Krummstab ist gut leben“ auch bei ihnen bewahrheitete. Noch mehr verschärfte sich der Gegensatz zwischen Fürstbistum und Ordensgebiet, als mit dem Einbruch der Reformation die konfessionelle Spaltung dazu kam. Es gab familiär und wirtschaftlich kaum noch gegenseitige Beziehungen, kein Ermländer heiratete über die Grenze hinaus, und auch wirtschaftlich hatte das Ermland gegenüber dem übrigen Ostpreußen seine eigenen Organisationen, wie Bauernverband, Zentralkasse, An- und Verkaufsgenossenschaften. Daraus ergibt sich, daß die Ermländer ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl unter sich besitzen. Andererseits fällt es ihnen auf Grund dieser jahrhundertelangen Eigenständigkeit nicht leicht, sich neuen Verhältnissen und einer anderen Umwelt anzupassen.