Das Jugendgemeinschaftswerk Ahrbrück
Von Friedrich Herzig
Die Nachkriegszeit mit ihren vielen Notständen erforderte gebieterisch die Schaffung von Einrichtungen, die man früher nicht kannte und die vielleicht in einigen Jahren auch nicht mehr notwendig sein werden. Aber noch ist die politische Zerrissenheit unseres Vaterlandes nicht beseitigt, noch ist nicht abzusehen, wann und wo der Flüchtlingsstrom versiegt. Eine neue Einrichtung eigener Art ist das Jugendgemeinschaftswerk, das die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald im Denntal für die Wiederverwurzelung junger Flüchtlinge aus der Sowjetzone geschaffen hat. Gerade die Arbeit im Wald bietet jedem echten Erzieher die beste Möglichkeit, den jungen Menschen, die alle Bindungen an Heimat und Elternhaus zum größten Teil schuldlos verloren haben, wieder einen neuen Lebenskreis zu schaffen. Welche dankbare Aufgabe für unsere heimatlose Jugend, tatkräftig mitzuarbeiten, den durch die vielen Bombenschäden arg mitgenommenen Wald auf dem früheren Luftwaffenübungsplatz Ahrbrück wieder neu aufzuforsten. Aus der alten Holzbaracke der Forstverwaltung, die ursprünglich zwischen Höningen und Dümpelfeld unmittelbar an der Straße stand, hat die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald im Laufe der letzten Jahre ein Jugendheim errichtet, in dem ständig 40—50 Jugendliche aus der Sowjetzone untergebracht sind und erfahren dürfen, welchen Wert der Wald für den ruhelosen Flüchtling bedeutet. Es gibt eine Heimat persönlicher Art, deren Bild einem ständig vor der Seele steht. Glücklich der Mensch, der in der Jugend sorgende Eltern, gute Verwandte, Nachbarn und Freunde besaß, dessen Blicke oft und gern zurückfinden in einen Bauerngarten, nach dem Dorfplatz mit den hohen Bäumen, dem Kirchturm und dem Teich. Und herrlich ist auch die Erinnerung an einen echten ewigen Wald, der einem in der Kindheit ein ewiges großes Geheimnis bedeutete. Der Wald schafft erst eine wahre Heimat. Diese Erkenntnis ist wohl das Leitmotiv für die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, die Jungen, die aus Not und Zwang ihre Heimat verlassen mußten, wieder seßhaft zu machen und ihnen einen guten Ersatz für das Verlorene zu geben.
Wer von den Spaziergängern, die an den schlichten braunen ‚Holzbaracken mit den grünen Fensterläden und dem bruchsteinernen Giebel vorübergehen, mag wohl ahnen, welches Leben und wieviele Schicksale die Räume in sich bergen. Meistens wird man die Jungen gar nicht sehen können, denn tagsüber sind sie in den Bergen, räumen unter Anleitung von Förster und Haumeister mit Axt und Heckenhacke die Berghänge von dem wilden Gesträuch, bauen Wege, schlagen Steine, machen Pflanzlöcher und setzen im Frühjahr die Pflanzen.
Erst um die Zeit, wenn die Sonne hinter den Gipfeln verschwindet, kommen sie einzeln oder in Gruppen zum Heim. Wer sie dann sieht, würde sie für Strauchdiebe halten, so verwildert sehen sie aus. Aber schon eine halbe Stunde später haben sie sich gesäubert, und man erkennt in ihren Gesichtern die Jugend. Die meisten von ihnen stammen aus der Sowjetzone, die sie verlassen mußten, weil man sie zwingen wollte, zur Volkspolizei zu gehen, oder die sie verlassen haben, weil ihnen die fortgesetzte Schulung und Bevormundung durch die politischen Funktionäre oder FDJ-Führer nicht mehr paßte. Oft waren es aber auch andere Gründe, die sie zur Flucht veranlaßten. Der Hunger nach Leben und Erlebnissen, nach Abenteuern und Ungebundenheit, der ja wohl irgendwie in jedem echten Jungen steckt vielleicht aber auch die Leere der zertrümmerten Städte mögen viele in die westliche Welt getrieben haben.
Oberflächliche Menschen betrachten sie gern als Strandgut der Nachkriegszeit, andere wieder als leichtsinnige Abenteurer, als moderne Vagabunden. Aber der Heimleiter und seine Betreuer, die Fürsorger und Berufsberater erkennen bald die wirkliche und währe Not der vertriebenen Jugend. Diese jungen Menschen hatten zum allergrößten Teil keine Kindheit, in der sie die Nestwärme und innere Geborgenheit atmen durften, wie wir sie früher mal kennengelernt hatten und die uns heute als kostbarer Schatz im Reiche der Erinnerung haftet. Jeder Heimleiter weiß zu sagen, wie tief die Schäden liegen, die jeder einzelne Jugendliche unsichtbar mit sich herumschleppt. Mit Schlagworten darf man sich hierbei nicht begnügen. Man darf das Problem der Jugendnot auch nicht einseitig sehen, sondern im Zusammenhang ihres, unseres Schicksals inmitten des Zusammenbruches unseres Volkes in dem Nichts, das heute unser zeitliches Schicksal ist.
Man sieht Jugendliche mit alten Gesichtern, denen die Sorge um den in Rußland vermißten Vater und um die gramverzehrte Mutter die Augen vorzeitig kalt und den Mund zu früh eng gemacht; man sieht Jungen, die als Kinder das ganze Grauen der Vertreibung, Mord, Vernichtung und Vergewaltigung hatten ansehen müssen. Diese Eindrücke blieben doch ebenso tief haften wie die Erinnerung an die Stätten der ersten Spiele, der Heimat, wie wir ältere Menschen sie noch heute im Gedächtnis tragen. Alles ist so furchtbar, so grauenvoll, so entsetzlich, daß man sich ja oft wundern muß, wenn die Jugend trotz alledem sich wieder in die soziale Ordnung findet. Und Hunger, Mangel und Demütigung und die entsetzliche Angst: Was wird nun?
Alles das erkennt man erst, wenn man sie nicht nur die Straßen entlang schlendern sieht, sondern sich mit ihnen beschäftigt.
Aus den Flüchtlingslagern kommen sie mit der immerwährenden Frage: „Was wird aus uns jetzt? Kommen wir zu wirklichen Menschen? Kommen wir in die Geborgenheit Oder wollt Ihr nur unsere Arbeitskraft? Wo ist Euer Staat? Ist er der Helfer oder ist er der Ausbeuter wie im Osten, wo wir nur dann noch gewertet wurden, wenn wir unser Soll überschritten hatten?“ — Und fragt der Mund nicht, so fragen die kalten und mißtrauischen Augen. Und das große Mißtrauen ist leider nur allzu verständlich.
Da ist ein Student aus Leipzig, der nicht viel spricht, auch nicht viel aus sich macht, aber sehr viel liest und in sich aufnimmt und verarbeitet. Die Arbeit macht ihm Freude, aber er ist streng darauf bedacht, bald sein Studium fortzusetzen. Gewöhnt an selbständiges Handeln, weiß er genau, welchen Weg er gehen muß, um zum Ziel zu kommen. Der junge Lehrer, mit dem er befreundet ist, ist nicht anders. Er sieht als musischer Mensch das Schöne und sieht den Wald und das Getier mit den Augen des Romantikers. Die Wege zu seinem Studium sind schon geebnet. Er sagt selbst, daß ihm die Arbeit im Wald eine ganz neue Lebensgrundlage gegeben hat, die bestimmend für seinen Beruf sein wird. Er hat das Singen wieder gelernt und das Lachen. Ein Schlosser aus Zwickau, der tagaus, tagein an der Drehbank stehen mußte und in seiner Freizeit für seinen FDJ-Führer tätig war, bügelte gerade seine Hose. Er hat irgendwo in der Umgebung ein Mädel gefunden und will sich später hier eine Existenz gründen. „Er ist früher ein leichtsinniges Bürschchen gewesen“, erklärte der Heimleiter, „mit dem Mädchen aber begann sein Umschwung.“ Da ist ein Junge, der irgendwo auf dem Flüchtlingstreck in Ostpreußen seine Eltern verlor und deshalb bisher nur Kinder- und Erziehungsheime kennengelernt hat. Er ist ein Wildling mit klaren, strahlenden Augen, der stets zupackt, wenn man etwas von ihm verlangt, und für seinen Heimleiter alles macht, weil er in ihm seinen väterlichen Freund sieht.
Jugendgemeinschaftswerk der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald
Aber so sind auch die vielen ungezählten Jungen, die die ganze Not der Nachkriegszeit mit sich herumschleppen. Mit fünfzehn Jahren auf dem Schwarzmarkt, das ganze Bundesgebiet durchgetrampt, bald im Westen, bald im Osten — bald in der Freiheit, bald im Gefängnis — so haben sie Jahre hindurch herumvegetiert, bis sie irgend eine Stelle fanden, die sie in das Jugendgemeinschaftswerk schickte. Hier finden sie erstmals Ruhe und vielleicht auch die Geborgenheit und den Weg zu sich selbst.
Darunter gibt es auch Jungen, die mit allen Mitteln aus ihrer Notlage heraus wollen und etwas werden möchten, aber weder lesen noch schreiben können, weil sie infolge der Vertreibung nicht zur Schule kamen und man in der Sowjetzone nur mechanische Arbeit forderte. Auch hier erfordert es viel Geduld und Mühe, den Jugendlichen die notwendigen Grundlagen beizubringen. Und Heimleiter und Betreuer, Förster und Haumeister arbeiten engstens zusammen, um in diesen jungen Menschen ein Fundament zu errichten.
Furchtbar aber ist es um jene Jugendlichen bestellt, die jede Beziehung zur Welt verloren haben, die nicht mehr eingewoben sind in einem unmittelbaren Lebenszusammenhang. Sie sehen nicht mehr die Menschen und Dinge als solche und als lebendige, sie sehen sie, ohne es zu wissen, als Mittel zum Zweck, sie ’sehen das, was man aus ihnen und mit ihnen machen kann, um ans Zie’l zu kommen. Sie sind durch die Vertreibung und durch alles, was damit zusammenhängt, aus der lebendigen Welt vorzeitig und grausam herausgerissen worden. Die Welt hat für sie kein letztes und wirkliches Sein. Sie suchen nicht darin, sondern benutzen sie für ihre Zwecke. Den Älteren ist wohl bekannt, daß es unendlich mühevoll ist, Zerrissenes wieder anzuknüpfen. Jeder, der dies versucht hat, weiß um viel Hilflosigkeit und Verzagen. Wir dürfen aber doch glauben, daß eine Heilung aus der Wurzel möglich ist.
Man fragt heute so oft, ob der jetzt lebende Mensch unseres Volkes überhaupt noch wirklich eingewoben ist in ein Stück Schöpfung, in eine menschliche Umwelt, die ihn trägt und hält, die ihm Sicherheit und Selbstbewußtsein, Vertrauen und Glauben gibt. Ich weiß nicht, ob diese Frage noch bejaht werden kann. Ich meine beinahe: nein. Jedenfalls ist das Gewebe sehr dünn geworden, sonst gäbe es nicht die erschreckend große Zahl seelisch Erkrankter in unserer Zeit.
Wie groß und schwer und verantwortungsvoll die Aufgabe des Heimleiters und des Erziehers im Jugendgemeinschaftswerk Ahrbrück ist, diese jungen Menschen ohne Kindheit, ohne Familie, ohne Sippe und ohne Mitwelt wieder zu brauchbaren Menschen zu machen, das kann nur der ermessen, der diese Jugend kennt und ihren Wandel im Eaufe der letzten Jahre erlebt hat. Es gehört soviel dazu an Erfahrung und psychologischen Kenntnissen, soviel an Menschenliebe und Glaube, daß man wirklich nur ausgesucht gute Kräfte dazu nehmen kann. Und jeder halbfertige oder unausgesuchte Mensch kann in dieser Arbeit an jungen Menschen nur schaden. Die Möglichkeiten, wirklich und tatkräftig helfen zu können, sind im Hinblick auf die Tiefe der Schäden an sich entsetzlich gering. Der Bruch zwischen West und Ost ist doch schon sehr groß. Hier im Westen das Ich ohne Welt und drüben nur noch ein Stück Welt ohne Ich. Zwischen beiden Haltungen unserer Zeit aber klafft ein scheußlicher Spalt, den viele gutwillige und einsichtige Menschen auszufüllen trachten. Aber der beste Willen und die größte Mühe scheinen umsonst; dieser Spalt zwischen den Menschen und der Welt ist schon zu breit und tief geworden, als daß es nochmal gelingen könnte, Menschen zu Menschen, Volk zu Volk, Jugend zu Jugend zusammenzuführen. Es sind so viele Schicksale junger Menschen schuldlos in diesen Bruch hineingerissen worden, daß man schon nicht mehr darauf achtet. Und gerade die Alltäglichkeit ist die große Gefahr, achtlos an den Jungen vorüberzugehen, denen im Jugendgemeinschaftswerk Ahrbrück wieder eine neue Basis gegeben werden soll, auf der sie im Glauben an Gott und ihre eigene Kraft wieder ein neues Leben aufbauen können. Gott sei Dank, gelingt es auch in den meisten Fällen. Es ist kaum möglich, jenen zarten Punkt zu beschreiben, an dem die Erneuerung beginnt. — Vielleicht ist es das große Vertrauen, das ihnen hier Heimleiter und Betreuer, Forstbeamte und Haumeister entgegenbringen, das große Vertrauen, das die Seelen der Jungen aus ihrer Starre erlöst. Man erlebt es aber auch sehr oft, daß junge Menschen zu gesunden beginnen, sobald ein wertvolles Mädchen ihnen Vertrauen schenkt oder sobald sie mit einer guten Aufgabe betraut werden, kurz: sobald sie durch Liebe und Vertrauen den Weg aus ihrer Erstarrung und Lebensfeindschaft finden.
Gäbe es den Wald nicht, von dem die göttliche Ruhe und die wirkliche und wahre Erhabenheit ausströmt, der dieser Jugend neue Geborgenheit gibt und eine wahre Heimat schafft, so wäre die Aufgabe nicht zu lösen. Weder Heimleiter noch Betreuer können täglich soviel innere Kraft aufbringen, wie sie nötig haben, um den Jungen das zu geben, was zum inneren Aufbau notwendig ist. Der Dienst im Heim ist lang und schwer, die vielen Fragen zahlloser Jugendlicher richtig zu beantworten. Ihre Herzen sind oft sehr voll von Hoffnungslosigkeit. Viele wissen nicht, wie ihre Zukunft beruflich, familiär oder vom ganzen Volke aus gesehen, gestaltet werden soll. Das Heute ist oft so anders als das Gestern. Noch ist es nicht allzu lange her, daß man den Militarismus verdammte, und doch rüstet man heute wieder auf. Man fragt uns lediglich, was die vielen Widersprüche bedeuten. Widersprüche, die selbst die Älteren ja oft selbst nicht begreifen.
Und nur gläubige Menschen können der Jugend phrasenlos etwas sagen. Menschen, die selbst das schwere Schicksal der Vertreibung erlitten haben. Menschen, die den Osten und seinen Menschen kennen und erlebt haben. Menschen, für die der eiserne Vorhang keine Grenze sein wird, Menschen, die den Glauben an die Rückkehr nie aufgeben werden. Aber mehr noch als die tröstenden, helfenden Worte des Heimleiters und des Betreuers, des Försters, der Bauern und der Jugendführer und auch Zeitschriften gibt der Wald selbst, denn er ist wahr.
Die Abgeschiedenheit des Denntales, in die die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald das Jugendgemeinschaftswerk hineingestellt hat, die von Schwarzdorn und Ginstern überwucherten Berge der Eifel, in denen der Uhu noch ruft, die Wildkatze ihre Freistatt hat, Rotwild und Sauen vertraut ihre Fährte ziehen, trägt viel zu der Geborgenheit bei, welche hier die heimatlos gewordenen Jugendlichen notwendig haben, um seelisch zu gesunden.
Wer in seiner Jugend einen Wald erlebt und lieben gelernt hat und ihn innerlich mit durch ein noch so wechselvolles Leben trägt, der besitzt eine unverlierbare Heimat. Und dieser Wald ist das beste Heilmittel gegen die Erkrankung der Volksseele, gegen die Vermassung und Entwurzelung.
Hier wird wahr, was Goethe einst sagte:
„Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer die Menschen.“