Der Nasenring
Eine Grafschafter Anekdote von Leo Stausberg
Schon längst hat der alte Grafschafter Dorfschmied Blasebalg und Amboß jungen Fäusten überlassen. Nur hin und wieder noch packt er einmal zu, wenn Not am Mann ist. Für gewöhnlich sitzt er vor dem blitzsauberen Fachwerkhaus neben dem bunten Blumengärtchen in der Sonne. Wenn ich mich zu ihm geselle, ist recht bald eine kurzweilige Plauderei im Gange. Der Schmied ist ein „Grieläächer“ und hat einen Schalk im Nacken. Er erzählt gerne von „frööhter“. In den Schwanken von Anno dazumal kommt oft sein „Vatter sellig“ vor, der, auch Dorfschmied, ein wahrer Ausbund von Schelmerei und ein zungenfertiger Demokrat gewesen sein muß.
Da war zum Exempel
die Geschichte mit dem Bären:
Erscheint da eines Tages im Dorfe ein bosnischer Bärentreiber. Aus einer Gasse tönen dumpfrasselnde Tamburinschläge, in die sich der eintönige Singsang des Treibers und ab und zu das zornige Brummen des Meisters Petz mischen. Ein Schwärm lärmender Dorfjugend umringt den tanzenden Riesen und schaut mit einem Gemisch von Neugier und Gruseln zu. Gerade hat sich der Braune den Knüppel seines Herrn in den Nacken gelegt und hält ihn mit den breiten Tatzen wie einen Kreuzbalken. Dabei wackelt er, vom Treiber langsam rückwärts gedrängt, von einem Bein aufs andere. Nun ist der Tanz beendet. Plump fällt das zottige Tier auf die Sohlen, indes der sonnverbrannte Zigeuner seinen alten Filzhut heischend in die Runde hebt, darein die Kupfermünzen fliegen. Jetzt zerrt er an dem Leitseil, an dessen Ende ein Eisenring — grausam genug zu sehen! — in die Nasenscheidewand des Bären geschmiedet ist. Unwillig, mit langem Halse und vorgestrecktem Kopfe, folgt der Tanzbär seinem Herrn. — Doch, was ist das?! Der Ring hat sich mit einem Male aus der Nase gelöst und schlägt klirrend auf das Straßenpflaster. Das lärmende Gefolge der Buben und Mädchen verstummt in lähmenden Schreck. Auch der Treiber stutzt. Noch ist zwar der Bär am breiten Halsband angekettet. Wenn er aber inne wird, daß er des schmerzenden verhaßten Ringes ledig ist, wird er vielleicht Tatzen und Zähne gebrauchen, um seinen Bändiger anzufallen. Der Stab des Zigeuners wird unter den Prankenhieben der Bestie zerbrechen und ein schlimmer Ausgang ist nicht zweifelhaft. Der Bosniak verlegt sich aufs Schmeicheln. „Pedro! Pedro!“ lockt er und wirft ihm eine Brotrinde zu. Geschickt schnappt Meister Petz sie aus der Luft auf und ist für den Augenblick beschäftigt. Hilfesuchend schaut sich der Bärentreiber um. Menschenleer ist die Gasse. Die Schar der Neugierigen ist längst in den Toreinfahrten der Gehöfte verschwunden und harrt klopfenden Herzens der kommenden Dinge. Da erblickt der Fremde am Ende der Straße die Dorfschmiede. Dahin muß er gelangen. Da könnte ihm Hilfe werden! Eben ist der Meister Schurzfell mit seinen Gesellen dabei, einen glühenden Reifen auf ein Karrenrad zu ziehen. Lange Zangen packen zu. Der Lehrling gießt einen Eimer Wasser darüber, das aufzischend verdampft. Dumpfe Hammerschläge klingen. Da naht der Treiber mit seinem Bären. Das Tier schnuppert, die ungewohnte Freiheit seiner Nase genießend, mit hochgezogenen Lefzen in die Luft. Schon wird sein Gang drängender, und schon meint man ein boshaftes Blinzeln der kleinen Augen zu bemerken. Der Schmied und seine Gesellen halten im Werk inne und betrachten erstaunt die beiden Ankömmlinge. „Da wied da Bär wähl net beschlohn welle looße?“ meint ein kecker Geselle lachend. Doch nun gewahren sie die ringlose Nase des Tieres und lesen Bestürzung auf dem trotz Sonnenbräune blaß gewordenen Gesicht des Bärenführers, der mit hastiger Gebärde sein Anliegen vorbringt. Hämmer und Zangen poltern zu Boden; schon wollen die Burschen Fersengeld geben. Der wackere Schmiedemeister aber tritt mit sicherem Schritt, die Augen fest auf die Bestie gerichtet, die vorgestreckte Reifenzange aufgesperrt in beiden Fäusten, der Gruppe entgegen. Und schon hat er die stabrunden Zangen durch das Nasenringloch des Bären geführt und zugekniffen. Der Treiber hat schnell begriffen und nimmt das nunmehr wieder wehrlose Tier beiseite. Was aber ist weiter zu tun? Auch hier weiß der pfiffige Schmied Rat, wie sich gleich erweisen wird. Wieder hat sich um die Bärentreibergruppe eine schaulustige Menge eingefunden, die in respektvoller Entfernung die Szene umsteht. Diesmal sind auch viele Männer dabei. Etliche wollen schon mit Ratschlägen zur Hand gehen. Selbst der gestrenge Herr Amtsbürgermeister, unumschränkter Herrscher über tausend Grafschafter Bauern, ist aus dem nahen Amtsgebäude herübergeschritten. Er mischt sich sonst selten unter das Volk, das ihn durchaus nicht liebt, aber umso mehr fürchtet. — Man bedenke: es war vor etwa 70 Jahren, zu einer Zeit also, wo demokratisches Wesen zumindest auf dem Lande noch in den Kinderschuhen ging und wo die Pickelhaube eines preußischen Gendarmen genügte, jeden braven Untertan mit Respekt zu erfüllen. Das muß man sich auch vor Augen halten, um das nachher Folgende zu ermessen. „En Leeder her!“ weist der Schmied die Umstehenden an. Einige schleppen bereitwillig aus einer nahen Scheune eine Leiter herbei. Zwei kräftige Stangen werden quer darangekettet. Der Zigeuner, der den Bären immer noch mit der Zange hält, dirigiert ihn nun mit viel überreden, Drohen und Schmeicheln so, daß die Bestie, sich auf die Hinterbeine erhebend, mit dem Rücken gegen die aufgerichtete Leiter zu stehen kommt. Nun das Kunststück mit dem Stabe! Man schiebt den Treiberstab in den Nacken des Tieres, das gewohnheitsgemäß seine Tatzen dagegenhält. Ein Wink des Schmiedemeisters, und vier Ketten schlingen sich zugleich um die Beine des Bären und ziehen diese fest an die Querhölzer. Langsam senkt sich die Leiter nach hinten und Pedro liegt, zornig brummend zwar, aber wehrlos auf dem Rücken. Den losgegangenen Nasenring wieder an der Bärennase zu befestigen, ist nun lediglich noch eine handwerkliche Angelegenheit. Mit Umsicht und Geschick vollzieht der Meister Schmied diese Prozedur höchst eigenhändig, hat er doch dieselbe Operation — wie oft schon! — an jungen Stieren vornehmen müssen.
Na, das gibt dann ein beifälliges Gemurmel unter den Zuschauern. Scherzworte fliegen hin und her. Die vor Spannung erloschenen „erde Mutze“ (Tonstummelpfeifen) der Bauern werden mit Stahl, Stein und Schwamm wieder umständlich in Brand gesetzt. Stolz sind die Dörfler auf ihren Schmied. Das ist ein Kerl! Der versteht sein Handwerk! Herablassend nähert sich jetzt der Herr Bürgermeister dem Meister Schmied und geruht zu bemerken: „Alle Achtung, Schmied! Da hat er Mut bewiesen; hätt‘ ich ihm eigentlich nicht zugetraut! Hat er denn gar keine Angst gehabt?“ — „Angs? Dat war‘!“ erwidert der Schmied schlagfertig: „Wenn et senn mööt, war ech em Stann‘, och och ene Reng dorch de Nas ze zeeje!“ — Sagt’s, hebt gelassen sein Werkzeug auf und wendet sich der Schmiede zu. — Einen Augenblick lang herrscht bei den Hörern verdutztes Staunen ob solch kühner Antwort, die sie womöglich noch höher anschlagen als das Schmiedekunststück an der Bärennase. Der gestrenge Dorfdespot zieht unwillig die Brauen hoch und faßt unwillkürlich an seinen gewichtigen Zinken, als ob daran schon der angedrohte Nasenring baumele. Ein schadenfrohes Gelächter schallt aus der Menge. Da zieht er es vor, ohne Gegenrede zu verschwinden. Diesmal hat auch er seinen Meister gefunden. „Mie Vatter! Dat wor er eene, da hätt‘ für’m Düwel kein Angs!“ pflegte mein Gewährsmann, der alte Schmied, stets schmunzelnd am Schlüsse zu sagen, wenn er diese Begebenheit zum Besten gab.