Großmutter erzählt
VON G R 0 T E J A N
Wenn im Spätherbst draußen auf den Feldern alle Arbeit geschafft ist, dann freuen wir Kinder uns auf die schönen langen Winterabende. Während die Mutter noch in der Küche arbeitet und der Vater für das Vieh sorgt, halten wir uns in der warmen Stube auf. Großmutter sitzt in ihrem Sessel neben dem Ofen und schaut unserm Spiel zu. Bald werden die kleineren Geschwister müde. Wir setzen uns nun alle auf die Bank und bitten die Großmutter, uns doch etwas aus ihrem langen Leben zu erzählen. Dann leuchten ihre sonst so müden Augen auf und sie beginnt aus ihrer Jugendzeit: Als ich noch Kind war, sah es hier auf dem Hofe ganz anders aus. Dieses Haus stand noch gar nicht. Wir wohnten drüben in dem kleinen Häuschen, welches heute, nachdem es innen umgeändert wurde, als Viehküche dient. Es war ganz anders eingerichtet als dieses neue Wohnhaus. Wenn man die Türe öffnete, gelangte man in einen halbdunklen Raum. Dieser diente uns als Küche. Der Boden war mit roh behauenen Steinplatten belegt. Meine Mutter kochte da noch auf offenem Feuer. Gebrauchte sie mehrere Töpfe, so benutzte sie den Dreifuß. Eine gußeiserne Platte schützte die da-hinterliegende Wand. Diese Platten waren meist mit religiösen Darstellungen verziert. Die unsrige trug das Bild der heiligsten Dreifaltigkeit. Auf dem „Schottelebrett“, welches an der Wand hing, standen irdene Teller und Schüsseln und das zinnerne Geschirr. Vom „Haus“, wie wir die Küche damals nannten, gelangte man in die Stube. Sie lag eine Stufe höher. Ich kann mich noch erinnern, daß in manchen Häusern der Fußboden darin aus gestampftem Lehm war. Später wurden
aber überall Holzfußböden gelegt. In der Stube standen ein großer Eichentisch und zwei lange Bänke. Ein runder Ofen, der ringsum verschlossen war, verbreitete wohlige Wärme. Er stand an der Brandmauer und wurde vom „Haus“ aus geheizt, und zwar durch eine Öffnung, die in dieser Mauer angebracht war. Das Holz, welches zum Heizen diente, wurde nicht zerkleinert wie heute. Die langen Scheite wurden durch die Maueröffnung in den Ofen gelegt und mußten dann immer wieder nachgeschoben werden. An der Stubendecke hing an einem Balken ein kleines Zinnlämpchen, die „Funsel“. Sie war mit Rüböl gefüllt und verbreitete spärliches Licht. — Ja, ja, die alte Stube, wie deutlich sehe ich sie noch vor mir! Dort hat mir meine Mutter all die schönen Geschichten erzählt, die ihr ja auch schon kennt, von der geizigen Nonne am Butterweck, von der glühenden Kutsche mit den guten und den bösen Geistern, von dem unseligen Manne, der den Flurstein versetzte und ihn zur Strafe durch die ganze Ewigkeit hindurch mitschleppen muß, von den „Dreuglichtern“, die einen Ahn in den Sumpf lockten oder vom Dorfmops, der die Kinder schreckte, die es wagten, nach dem Abendläuten noch auf die Straße zu gehen. „Et kütt de Dausch erop jeflatsch on jedratsch, et es jeweß de Dorfmops“, so warnte sie auch uns vor dem großen dicken Hund mit den glühenden Augen. Sehr ernst wurde meine Mutter, wenn sie uns aus den Notjahren 1847 und 1848 erzählte. Die Ernte war so schlecht ausgefallen wie selten zuvor. Die Kartoffeln, die man tagsüber mühsam erntete, reichten für ein bis zwei Tage. Es dauerte lange, bis man draußen etwas von unserer Not erfuhr und uns Lebensmittel aus den Proviantämtern von Köln und Koblenz anwies. Damals fuhr noch keine Eisenbahn, und es dauerte wiederum lange, bis wir im Besitz dieser Lebensmittel waren. Es war eine sehr harte Zeit. Meine Mutter erinnerte uns oft daran. Sie lehrte uns das Brot achten, und nie hätten wir Brotreste achtlos beiseite gelegt. Wir kannten damals während des ganzen Jahres nur das rauhe Schwarzbrot, und dadurch sind wir auch so gesund und stark geworden. Eine Ausnahme bildete die Kirmes. Dann gab es den sogenannten Platz. Kuchen kannte ich in meiner Jugendzeit überhaupt nicht, den lernte ich erst in den siebziger Jahren kennen. In der Jahreszeit, da die Butter knapp war, diente das vom Mittagessen übriggebliebene Gemüse, welches ja meist mit Kartoffeln untereinander gekocht war, als Brotaufstrich. Als solcher war uns Kindern auch die Erbsenbutter sehr willkommen. Dies war ein durchgeschlagener dicker Erbsenbrei, dem ein Stück Butter hinzugefügt war. Morgens, ehe wir zur Schule gingen, kochte unsere Mutter aus Hafermehl und Milch einen guten Brei. Diesen trug man auch den Leuten aufs Feld. Ein andermal gab es gekränzte Kartoffeln mit Mohren, die, ohne Fett zubereitet, uns als Frühstück dienten. Vergnügt nahmen wir in die eine Hand eine Mohre und in die andere eine „Gekränzte“ und ließen uns beides wohlschmecken. Blieben noch Kartoffeln übrig, so steckten wir schnell einige als Schulfrühstück in die Tasche. Wir nahmen dann noch ein Scheit Holz unter den Arm und gingen zur Schule. Das Holz diente zur Heizung des Schulzimmers. Von Martini bis Lichtmeß gab es keinen Nachmittagskaffee mehr, denn es hieß einfach: „Von Meetesdaag bes Lechmeß es de Kaffee vergeß.“ Dafür wurde aber früh zu Abend gegessen. Wir waren froh, wenn nach dem Abendläuten alle vom Felde heimgekehrt waren. Der „Böse“ trieb ja
dann draußen in der Flur sein freies Spiel. Nach dem Abendessen fanden sich auch noch die Nachbarn zum „Spille“ ein. Die Frauen brachten ihre Spinnräder und etwas öl mit, denn es wurde bis Mitternacht gesponnen, und die „Funsel“ mußte oft nachgefüllt werden. Hatte man selbst nicht genügend Flachs gezogen, so kaufte man auf dem Breisiger Markt einen „Stein“ Flachs. Es mußte so fleißig gesponnen werden, denn eine alte Bauernregel sagt: „Lechmeß, Spenne vergeß.“ Das Gesponnene wurde zum Teil im Dorf oder im benachbarten Waldorf verwebt. Im Frühjahr wurde dann das grobe, anfangs noch graue Leinen auf die Bleiche gelegt und Tage und Nächte hindurch gebleicht. Aber nicht nur Flachs wurde gesponnen, sondern auch Schafwolle. Daraus verfertigten wir unsere warme Kleidung, Tücher und Decken. Baumwollgewebe waren gänzlich unbekannt. Die Truhen eines jeden Hauses, ob arm oder reich, bargen einen heute ungeahnten Reichtum an Wäsche und Kleidung. Wir handelten nach dem Spruch: „Selbst gesponnen, selbst gemacht, ist die beste Bauerntracht.“ Wie stolz waren wir auf unsern Reichtum an Leinen und auf unsere kleidsame und gediegene Tracht! Wo wären wir damals hingekommen, wenn wir das wenige Geld auch noch für stets wechselnde Kleidermoden ausgegeben hätten, betrug doch der tägliche Arbeitslohn nur 2—3 Silbergroschen. Als ich im vergangenen Sommer vor einem blühenden Flachsfelde stand, hatte ich für euch den Wunsch, daß die Zeiten vernünftiger Genügsamkeit und Einfachheit doch bald wiederkommen möchten. Wieviel sauer verdientes Geld bliebe dann in unseren armen Eifeldörfern, und Gemütlichkeit und Zufriedenheit würden wieder in unsere Häuser einkehren. Nun habe ich euch für heute genug erzählt. Das nächste Mal gibt’s eine ganz lustige Geschichte aus früherer Zeit.