Wir schauen in den Siedlungsraum der Sudetendeutschen
VON HEINRICH OLBRICH
Unter den Heimatvertriebenen unseres Kreises Ahrweiler sind die Sudetendeutschen in der Minderheit. Sie haben nach ihrer Flucht auch hier festen Fuß gefaßt im Räume Sinzig und Ahrbrück, wo sie gleich nach der Neuordnung unseres Wirtschaftslebens zielstrebig und erfolgreich begonnen haben, neue Arbeits= und Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. Die Sudetendeutschen kommen aus dem Raum Böhmen=Mähren, der heutigen Tschechoslowakei, wo sie ein Drittel der Gesamteinwohnerschaft ausmachten. Die Landschaften Böhmens wurden im Zuge der Christianisierung im zehnten Jahrhundert von Deutschen besiedelt. Sie folgten den Flußläufen vom Norden an der Elbe entlang, vom Westen an den Ufern der Eger und Moldau, vom Osten (Schlesien) an der Iser und dem Oberlauf der Elbe und von Süden aus entlang der March und der Morawa.
Die bedeutenden Orden der Benediktiner, Zisterzienser und Prämonatratenser gründeten hier zunächst zahlreiche Klöster und Klosterdörfer. Den deutschen Ordensleuten folgten deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute. Die Klöster waren nicht nur Mittelpunkte des religiösen und des geistigen, sondern auch des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Der hl. Adalbert gründete bereits im Jahre 993 das erste bedeutende Kloster Brevnow bei Prag. Die eingewanderten Deutschen wurden von den eingesessenen Herzögen aus dem Geschlecht der Przemysliden freudig begrüßt. Der Herzog Sobeslav hat in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts den zahlreichen deutschen Bürgern umfangreiche Privilegien erteilt, die in der „Landesverordnung“ u. a. den Satz enthielten: „Wisset, daß die Deutschen freie Menschen sind.“ Aus Kaufmanns« und Handelsniederlassungen und durch Gründungsakte sind — bis auf ganz wenige Ausnahmen — alle Städte im Lande Böhmen und Mähren von Deutsehen erbaut worden oder durch ihre Anregungen entstanden.
PRAG –
Karlsbrücke mit Hradschin
Eine große Anzahl schöner und lieblicher Städte und Dörfer im deutschen Teil Böhmens kündete von Jägerndorf und Troppau bis Pilsen und Eger und Brunn deutsches Unternehmertum und deutschen Gewerbefleiß. Der durchformende Ordnungssinn der deutschen Städte und Dörfer offenbarte sich durch das Recht, das aus der alten deutsehen Heimat von den Siedlern mitgebracht wurde. Die Bauern genossen dieses deutsche Recht, welches namentlich klar in einer Verleihungsurkunde des mährischen Markgrafen an den Johanniter=Orden umrissen wird. Darin wird den Bauern „sichere Freiheit“ garantiert. An dem Recht der Studie war die Herkunft seiner Bürger erkennbar. In Nord= und Nordostböhmen Und im nördlichen Mähren-Schlesien galt das Magdeburger Stadtrecht, im übrigen Gebiet das süddeutsche, zumeist das Nürnberger Recht.
Für den aufstrebenden Bergbau dieses Landes war maßgeblich das Iglauer Bergrecht und das fränkische Recht, das von Leobschütz ausgehend in Sudetenschlesien Eingang fand.
Das Sudetendeutschtum hat auf allen Gebieten der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung aufbauende und entscheidende Beiträge geleistet. Der mitgebrachte schwere Eisenpflug, der den eingesessenen Slawen bis dahin unbekannt war, konnte die großflächigen Waldrodungen durchführen, zumal das ganze Land außerordentlich waldreich war. Neben den regellosen Haufendörfern der Eingesessenen entstanden langgestreckte Waldhufensiedlungen und Reihendörfer, die ein planvolles Bewirtschaften ermöglichten. Die reichen Bergstädte, wie Iglau und Kuttenberg, wurden bald weit über die Grenzen Böhmens bekannt wegen ihres vorbildlichen Berg= und Hüttenwesens. Der Reichtum der; deutschen Städtekultur von Augsburg, Nürnberg, Leipzig strahlte auch nach Böhmen und Mähren aus. In dieser Zeit entstand die Silberstadt St. Joachimstal, in welcher der adlige Pfandherr Graf Schlick eine Münze einrichtete. Hier wurden die „Thaler“ geprägt, die später als Maria-Theresien=Thaler internationales Ansehen genossen haben und heute noch in Abessinien das Zahlungsmittel sind. Auch der amerikanische Dollar verdankt dem schlichten Bergstädtchen St. Joachimstal seinen Namen.
In den erzarmen Randgebieten Böhmens entwickelten die Deutschen die weltbekannte Glasindustrie, wozu der Wald= und Quarzreichtum die Voraussetzungen bildete. Mit der Erfindung des böhmischen Kristallglases nahm diese neue Fertigung den entscheidenden Konkurrenzkampf mit der bis dahin einmaligen Glaserzeugung in Venedig=Murano auf.
Böhmisches Glas wurde bald nicht nur in ganz Europa, sondern in der ganzen Welt gehandelt. Seit 1730 entwickelten die Einwohner von Gablonz die Technik des Glasschliffes und der später weltberühmten Schmuckerzeugnisse aus Glas. Die fleißigen Gablonzer haben ihre Kunst nach der Vertreibung in ihrer neuen Heimat „Neu=Gablonz“, Württemberg, mit großem Eifer wieder aufgenommen und erfolgreich entwickelt.
In den weiteren, weniger ertragreichen Gebieten Böhmens stand in jedem Hause der Webstuhl als Ernährer der Familie. Die Weberei entfaltete sich ganz besonders in den Gebieten um Reichenberg und Brunn zu einer bedeutenden Tuchfabrikation, die im Ausland besten Ruf hatte. Als Kunstgewerbe entfalteten die Bewohner des Erzgebirges die weitberühmte Spitzenklöppelei, deren Anfänge im 16. Jahrhundert aus den Niederlanden eingeführt wurden. Das Vorkommen von hochwertigem Kaolin in der Karlsbader Gegend bildete die Grundlage für die Entwicklung der meisterhaften Porzellanmanufakturen, deren Erzeugnisse in ihren graziösen Formen in aller Welt geschätzt wurden. Deutsche schöpferische Kraft hat das böhmische und das mährisch=schlesische Land reich beschenkt. Besonders vielseitig konnte sich der deutsche Baumeister, Bildhauer und Maler im Jahrhundert Karls IV. betätigen. So entstand damals jenes kühne Denkmal des Glanzes und der Herrlichkeit des Heiligen Reiches, der Veitsdom auf der Prager Burg, der von Peter Parier aus 5chwäbisch=Gmünd erbaut wurde. Die deutschen Baumeister Böhmens und Mähren-Schlesiens entfalteten in diesem Zeitraum unter Führung des Egerländers Balthasar Neumann die größten Meisterwerke europäischen Barocks.
Die Przemysliden verstanden es, das geistige Leben ihres Landes durch die deutsche Wortkunst zu bereichern. Deutsche Minnesänger von Rang und Namen fanden an ihren Höfen freudige Aufnahme, so Raimar von Zweier, Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (der auch in Mainz wirkte), und der unstete Tannhäuser.
Jeder Autoliebhaber betrachtet mit Wohlgefallen den Porsche=Wagen. Der Erbauer dieses besonders leistungsfähigen und gefälligen Wagens ist Ferdinand Porsche (1876—1951) aus Maffersdorf in Böhmen. Im Böhmerland wurde das Mittelhochdeutsch, das am Hofe Karls IV. gesprochen wurde, zur Grundlage einer neuen deutschen Hochsprache entwickelt. Dieses Amtsdeutsch der Prager Hofkanzlei bildete 1 1/2Jahrhunderte später das Fundament für das große sprachschöpferische Werk Martin Luthers. Grimmeishausen rühmt im 17. Jahrhundert, daß in Prag ein besonders reines Deutsch gesprochen wurde. Kaiser Karl IV. gründete die erste deutsche Universität (1548) in Prag, Welche die Pflege der deutschen Sprache und Literatur zur besonderen Aufgabe hatte.
Die Entwicklung des gesamten deutschen Kultur=, Geistes« und Wirtschaftslebens erlitt eine schwere Erschütterung durch den Ausbruch der Hussitenkriege (1414—1418). Das Deutschtum wurde stark zurückgedrängt und konnte sich nur langsam wieder erholen.
Die tiefe Verbundenheit mit der allzeit gefährdeten deutschen Heimat befähigte und begeisterte viele Dichter und Schriftsteller der sudetendeutschen Grenzlande zu innigen Liedern, Romanen und Erzählungen. Aus der Zahl der Dichter und Denker können nur einige erwähnt werden: Gustav Leutelt aus dem Isergebirge, Hans Watzlik aus dem Böhmer Wald, Wilhelm Pley er aus dem Egerlahd, Emil Merker aus dem Saazer Land, Robert Hohlbaum aus Jägerndorf, Marie Ebner von Eschenbach aus der Gegend von Kremsier, Albert Stifter aus dem Böhmerwald und viele andere. Wer kannte nicht in den deutschen Nachbariändern die böhmischen Musikanten. Nur die Musik vermochte es als große Versöhnende die Brücke zwischen Menschenherz und Menschenherz — zwischen den Deutschen und den Tschechen, in diesem Lande zu schlagen.
Reichenberg – Rathaus mit Brunnen
KARLSBAD — Gesamtanaicht
Wer einst die kurz geschilderten deutschen Landschaften in Böhmen beschaulich durchwandern konnte, fand hier allüberall bedeutende Schöpfungen christlich abendländischer Kultur in den zahlreichen Klöstern, lieblichen Städten und schmucken Dörfern. Viele Männer der Kirche trugen den Namen der Deutschen dieses Raumes über die Landesgrenzen. Zahlreiche deutsche Brücken sind mit dem Standbild des heiligen Johannes von Nepomuk geziert, der im 14. Jahrhundert den Märtyrertod erlitt. Die Schulreformer Kindermann und Rautenstrauch befruchteten das deutsche Schul= und Erziehungswesen, und Gregor Mendel, der Abt der Augustiner Chorherren in Brunn, ist als Begründer der Vererbungslehre weltbekannt.
Der Zusammenbruch Deutschlands hat im Jahre 1945 die neun Jahrhunderte alte Kulturarbeit der Deutschen durch die Vertreibung zerschlagen. — Bedeutende Kräfte unter den heimatvertriebenen Sudetendeutschen suchen das ererbte Kulturgut in ihrer neuen Heimat zu erhalten und zu pflegen bis — SO hoffen alle — der Zeitpunkt für die Neugestaltung des ost-mitteleuropäischen Raumes gekommen sein wird.
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