Ein Samaritan des Hohen Venn von der Ahrmündung
VON M. SCHNEIDER
L. Mathar schildert uns im „Schneiderlein vom Hohen Venn“ das Schicksal eines Sinziger Bürgers, der im jugendlichen Übermut mit dem „duden Leichnam“, oder wie der Volksmund heute sagt, mit dem „heiligen Vogt“ allerlei Unfug trieb und dann aus Angst vor der gerechten Strafe seine Heimat fluchtartig verließ und nach beschwerlicher Wanderung ins Venn geriet. Vor vielen Jahren führte Dr. H. Schiffers unter obengenannter Überschrift den geschichtlichen Hintergrund zum „Schneiderlein“ aus. Zunächst berichtet er über die Lage des Hohen Venns und über die Gefahren, die den Wanderern drohten, bevor dort feste Straßen gebaut waren, und von den alten Steinkreuzen, die über das ganze Venn zerstreut stehen als Zeichen der Ernte des grausamen Todes. Dann fährt er fort:
Auch ein Sohn Sinzigs war vor ungefährt hundert Jahren dort im Venn von einem furchtbaren Schicksal heimgesucht, demselben Schicksal, dem Ungezählte vor ihm nicht mehr zu entrinnen vermochten. Michel Schmidt hieß er, seines Zeichens war er Schneider. Was ihn damals nach der Franzosenzeit bewegen haben mag, seine Heimat am Rhein zu verlassen, wissen wir nicht, Um das Jahr 1826 wohnte er in Herbiester, einem Örtchen jenseits des Hohen Venns auf belgischem Boden.
Oft wird ihn sein ehrbares Schneiderhandwerk gezwungen haben, über das Venn zu wandern, um in der Malmedyer Wallonie ein Stück Geld zu verdienen. Auf einem dieser Gänge hatte sich Michel Schmidt im Jahre 1826 im Venn=Nebel verirrt. Inmitten der Moorsümpfe wollte sich dem hilflos Umherirrenden kein rettender Ausweg zeigen. Sollte denn auch er, wie so viele vor ihm, hier oben elend zugrunde gehen, sollte er lebend in den Abgrund des Moors versinken, sollte sich das schmutzige Sumpfwasser über seinem Leichnam zusammenschließen, ohne daß jemals einer von diesem Venngrab Kunde erhielt?
Als die Not aufs höchste gestiegen war, gelobte Michel Schmidt, falls er errettet würde, oben im Venn eine Hütte zu bauen und hier in der Einsamkeit fortan sein Leben zu verbringen, sich ganz dem Liebesdienst der Vennwanderer zu widmen, die vielleicht von der gleichen Not wie er selbst bedroht sein würden. Und als schließlich das Venn mit all seinen Gefahren ihn doch wieder freigab, da hat M. Schmidt sein Gelübde gehalten. Inmitten des Venns baute er eine Hütte, aus dem Notbau wurde später ein kleines steinernes Gasthaus; man nannte es nach dem Vornamen seines Erbauers und Bewohners „Baraque Michel“.
Baraque Michel abspielte. Damals war ein reicher Einwohner von Stavelot, M. Deron=Hunderten eine Stätte der Zuflucht und der Rettung aus furchtbarer Gefahr gewesen, und der Sohn Sinzigs waltete hier in. unwirtlichster Gegend, seinem Gelübde getreu, als ein selbstloser Samaritan der in Nebel, Schnee und sonstigem Unwetter hilflos Umherirrenden:
Aus seiner Zeit wurde am bekanntesten ein Vorgang, der sich im Jahre 1827 um die Baraque Michel ist in der Tat das „Bernhards=Hospiz des Hohen Venns“ geworden, ist chene mit Namen, im Venn auf die Jagd gegangen; dabei hatte ihn der Nebel irregeführt und ihn schließlich die Nacht mit allen ihren Vennschrecken überrascht. Und wie kurz vorher M. Schmidt, so machte jetzt auch der Staveloter Jäger ein Gelübde: hier oben auf einsamer Höhe der Muttergottes ein Kapellchen zu widmen. Nur wenige Augenblicke später leuchtete ihm ein Licht, das Zeichen der Rettung aus höchster Gefahr. Dieses Licht der Hoffnung kam von der Baraque Michel.
Dicht bei der Baraque Michel erstand wenige Jahre später das gelobte Kirchlein; gerade vor hundert Jahren (1831) war es vollendet und konnte seitdem seiner großen Aufgabe im Dienste menschlicher Not dienen, der auch der Sinziger M. Schmidt sein Leben widmete. Bei Dunkelheit sollte allabendlich am Türmchen ein Licht brennen, auf daß es dem Wanderer leuchte in der Finsternis des Venns. Und bei Unwetter mußte das Glöckchen im Turm geläutet werden, damit es die Verirrten auf den sicheren Weg führe. Stiftungsgemäß wurde M. Schmidt der Hüter der Kapelle, deren Notglöckchen er zu läuten und deren Rettungslicht er anzuzünden hatte.
Treu haben M. Schmidt und seine Nachkommen hoch oben auf dem ungastlichen Venn ausgehalten bis in unsere Zeit hinein. Unter ihrer Mithilfe ist die Kapelle, die man mit Recht „Hilfe der Christen“ genannt hat, Tausenden in den Schrecknissen des Venns, in Nebel und Schnee, in Sturm und Nacht Hilfe und Rettung gewesen, der helle Klang ihres Glöckchens mag in tiefster Not manchem Verirrten gleichsam wie ein liebevoller Ruf Gottes, das Flackern ihrer Abendlaterne wie ein Himmelslicht gewesen sein. Im „Eisernen Buch“, das der Gerettete aus Stavelot in der Baraque Michel niedergelegt hatte, bekundeten in der Zeit zwischen 1827 und 1837 nicht weniger als fast hundert Verirrte, daß sie ihre Rettung aus größter Gefahr der Kapelle zuschrieben, ihrem Glöckchen und ihrem Licht.
Als man dann in den Jahren von 1855 bis 1857 die große Vennstraße über Baraque Michel baute, glaubte man alle Gefahren gebannt. Und doch kam es noch im Winter 1870/71 ganz in der Nähe zu einer ergreifenden Tragödie: Man fand ein Brautpaar auf, das hier der Kälte erlegen war. Im Mieder des Mädchens steckte ein Briefchen, auf das der Bräutigam mit letzter Kraft geschrieben hatte: „Maria ist eben gestorben, und ich werde es gleich tun.“ Das „Kreuz der Verlobten“ erinnert noch heute daran. Wieviel vor ihnen mögen hier in den Sumpfgefilden des Venns im Laufe der Jahrhunderte elend zugrunde gegangen sein! …
Die Baraque Michel steht noch heute als Denkmal jener Liebestaten eines Sohnes von Sinzig.