Wohnen im Wandel der Zeit

Von der Großfamilie zum gemeinschaftlichen Wohnprojekt – Der Verein „Zweig e.V.“ will ein solches Vorhaben realisieren

Hildegard Thelen und Ulla Reimann

Bereits zu Beginn der Industrialisierung, Anfang des 19. Jahrhunderts, gab es ein Nebeneinander unterschiedlicher Familienformen. Die erweiterte Drei-Generationen-Familie, in der Großeltern, Eltern und Kinder zusammen wohnten, entwickelte sich nur dort, wo die ökonomischen Bedingungen es zuließen oder sinnvoll waren, nämlich bei reichen Großbauern, Handwerkern und Kaufleuten. Landarbeitern und Tagelöhnern fehlte oft die finanzielle Voraussetzung, eine eigene Familie zu gründen. So lebten mindestens drei Generationen unter einem Dach – das war normal. Ideal war es deshalb noch lange nicht, doch weil man voneinander abhängig war, gab es wenige Alternativen. Junge Frauen gingen meist einer hauswirtschaftlichen Tätigkeit nach. Sie waren in Bürgerhäusern „verdingt“, d.h. sie waren in Stellung.

Die häusliche Geborgenheit war Zufluchtsstätte und gab Sicherheit. Durch die beiden Weltkriege entstand große Armut. Nach dem Kriegsende 1945 und mindestens ein Jahrzehnt später lebten viele verwitwete und unverheiratete Frauen sowie verletzte Heimkehrer im Haushalt von Eltern oder Geschwistern. Zu dieser Zeit kamen viele Flüchtlinge aus dem Osten, die von russischer Besatzung vertrieben wurden.

Man rückte zusammen

Den Heimatlosen wurde Wohnraum zugeteilt. Es entstand eine Enge und Nähe, die nicht immer eine angemessene Solidarität und Empathie erkennen ließ. Diese Veränderungen beeinflussten auch die Wohnsituation in den verschiedensten Gebieten unserer Heimat.

Der Kreis Ahrweiler und der damalige Kreis Adenau waren schon immer sehr unterschiedlich geprägt. Die Rotweinstadt Ahrweiler und die Kurstadt Bad Neuenahr verfügten über eine bessere Infrastruktur. Sie hatten vor allem Arbeitsplätze und auch weiterführende Schulen. Der Tourismus wurde gefördert, die Kureinrichtungen erlangten einen wichtigen Stellenwert und wurden für viele zum Arbeitgeber.

Im Kreis Adenau gab es neben den wenigen Handwerksbetrieben viele Klein- und Kleinstbauern. Mit dem Bau und der Eröffnung des Nürburgringes 1927 veränderte sich die Einkommenssituation der Landbevölkerung zum Besseren.

Mit Ludwig Ehrhards WirtschaftswunderJahren, Anfang der 60er, strebten die jungen Familien nach eigenen 4 Wänden, es begann eine rege Bautätigkeit. Die Großfamilie verlor an Bedeutung. Die zunehmende Gleichberechtigung von Frau und Mann war der Anfang für die berufliche und finanzielle Selbstständigkeit der Frau.

Familienstrukturen und Wohnformen veränderten sich nachhaltig

Die Globalisierung und der demografische Wandel erfordern heute neue Formen des Zusammenlebens. Alte Muster brechen immer mehr auseinander, Singlehaushalte nehmen deutlich zu. Heute stehen immer öfter alleinerziehende und vollzeitbeschäftigte Frauen und Männer vor enormen Herausforderungen. Für diese sind soziale Kontakte von großer Bedeutung. Geeigneter und bezahlbarer Wohnraum für unterschiedlichste Bedürfnisse muss neu gedacht werden.

Enge und Nähe: Mehrere Generationen unter einem Dach, das war früher der Normalfall. Heute nimmt der Anteil an Singlehaushalten ständig zu.

Wohnen neu denken – das ist der konzeptionelle Ansatz des Vereins „Zweig“.

Die nicht zu unterschätzende Einsamkeit in unserer Gesellschaft hat längst auch die mittlere und jüngere Bevölkerung erreicht. Einsamkeitsstudien besagen, dass sich Menschen in Großstädten im Alter von 20 bis 40 Jahren am einsamsten fühlen. Nicht ohne Grund wurde in Japan und in Großbritannien ein „Ministerium für Einsamkeit“ ins Leben gerufen.

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Er sehnt sich nach aufrichtiger Verbindung und Freundschaft. Wir sind als Sozialwesen reif genug für ein gemeinsames Miteinander. Es braucht in dieser schnelllebigen Zeit für die Menschen neue Begegnungsund Gesprächsräume, die Alt und Jung zusammenführen, z.B. „Haus der Familie/Mehrgenerationenhaus“ in Bad Neuenahr, neu eingerichtete „Plauderkassen“ einer Supermarktkette in den Niederlanden und dem gemeinschaftlichen Wohnen von Jung und Alt unter einem Dach.

Im Kreis Ahrweiler setzt sich der Verein „Zweig e.V.“ (Zusammen wohnen eigenständig in Gemeinschaft) mit Sitz in Bad Neuenahr-Ahrweiler dafür ein, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt zu realisieren.

„Im Zeitalter der Einsamkeit“ (Ökonomin Noreena Hertz) ist es wichtig, den Isolationstendenzen ein anderes Lebensmodell gegenüber zu stellen. Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie in Rheinland-Pfalz schreibt dazu:

„Gemeinschaftliches Wohnen bedeutet einen Gewinn an Lebensqualität, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft.“

Menschen, die in Gemeinschaft leben, haben es leichter, denn gemeinschaftliches Wohnen stärkt die Selbstständigkeit, besonders im Alter. Wenn heute mehrere Generationen zusammenziehen, dann ist es eine bewusste Entscheidung. Man unterstützt sich gegenseitig, Erfahrungen und Erlebnisse werden geteilt. Der ökonomische Gedanke ist die Motivation des Teilens geworden. Das Einsparpotenzial wichtiger Rohstoffe und der Umweltgedanke stehen im Vordergrund. Nicht zuletzt wird dadurch viel Zeit und Geld eingespart.

„Nähe auf Distanz“ sagt Professor Dr. Cle- mens Tesch-Römer (DZA Berlin).

Die seit 2020 herrschende Pandemie verlangt der gesamten Menschheit Großes ab. Die Stiftung „trias“ veröffentlicht dazu Daten über die Nutzung der Gemeinschaftsräume von Wohngemeinschaften im Corona-Lockdown. In generationsgemischten Projekten spielt die Nutzung des größten Raumes als Homeoffice (27 %), zur Kinderbetreuung (22 %) und zum Homeschooling (22 %) eine wichtige Rolle. Durch Raumgröße und höheres Raumvolumen sinkt das Infektionsrisiko.

Laut Publizistin Diana Kinnert erkranken viel mehr Menschen als wir ahnen durch zunehmende Vereinsamung, Globalisierung, demografischen Wandel und noch dazu durch die Pandemie im 2. Jahr an Depressionen. Daher ist es in der heutigen Zeit für alle Altersgruppen umso wichtiger, in flexiblen, modernen Wohnformen zu leben.

Noch nie gab es für die Menschen eine solche Fülle an Möglichkeiten, ein bunter Strauß alternativer Wohnformen wartet auf Umsetzung.

Der Beitrag entstand vor der Flutkatastrophe an der Ahr am 14. und 15. Juli 2021.