Solidarität nach der Flut: „Jeder hat jedem geholfen“

Merve Dinc gehörte zu den Fluthelfern der ersten Stunde – Die junge Frau berichtet von der Flutnacht und dem enormen Zusammenhalt in der Folgezeit

Niklas Schonschek

Unzählige freiwillige Helfer von nah und fern unterstützten die Betroffenen der Sturzflut vom Juli 2021 bei der Bewältigung der Jahrhundertkatastrophe. Sie packten tatkräftig bei den Aufräumarbeiten mit an, gewährten Obdach und boten eine starke Schulter zum Anlehnen. Es waren Menschen wie Merve Dinc, die zu einer Helferin der allerersten Stunde wird, als sie einer befreundeten Familie aus Sinzig in der Flutnacht und den Wochen danach zur Seite steht.

Während der verhängnisvollen Nacht vom 14. auf den 15. Juli – die Flutwelle hat Sinzig noch nicht erreicht – wird Merve Dinc von einer Freundin kontaktiert, die zuvor mit ihren Eltern und Geschwistern ihr etwa 250 Meter linksseitig der Ahr gelegenes Haus auf Anweisung der Feuerwehr hatte verlassen müssen. Dinc, die mit ihrer Familie in Remagen wohnt, nimmt die Flutbetroffenen notgedrungen bei sich auf. Zu elft sollten sie in den folgenden Wochen gemeinsam in der Wohnung leben.

In den frühen Morgenstunden fährt Merve Dinc gemeinsam mit den Flutopfern zurück nach Sinzig. Sie kommen jedoch lediglich bis zur Ecke „Kölner Straße/Kripper Straße“, wo das Hochwasser ihnen den Weg abschneidet. Erst in diesem Moment werden sie des Ausmaßes der Katastrophe gewahr. „Das Wasser hatte eine richtige Strömung“, schildert Merve Dinc, „und die Feuerwehr fuhr mit Booten herum, um eingesperrte Menschen aus ihren Häusern zu retten.“ Später am Tage, als sich das Wasser etwas zurückgezogen hat, gelingt es ihnen schließlich, zum Haus durchzudringen. Was sie dort erwartet, ist ein Bild der Zerstörung: „Es lag alles auf dem Boden, war mit Schlamm bedeckt. Alles war kaputt“, beschreibt Merve Dinc den Zustand, in dem sie das Haus vorfinden. Bis auf Knöchelhöhe im ersten Obergeschoss war das Gebäude in der Nacht zuvor geflutet worden.

In der Flutnacht beobachtet Merve Dinc, wie die Feuerwehr per Boot Menschen aus ihren Häusern zu retten versucht.

Inmitten des Katastrophengebietes

Merve Dinc wird von der Situation völlig überrumpelt – in Pantoletten watet sie am ersten Tag durch den Flutschlamm. Dennoch macht sie sich gemeinsam mit der betroffenen Familie und weiteren Bekannten sofort daran, das Haus von den immensen Flutschäden zu befreien: Das zerstörte Mobiliar wird ausgeräumt, der Keller leergepumpt, Schlamm weggeschaufelt und das Gebäude anschließend entkernt. In nur anderthalb Wochen erledigen die fünfzehn Männer und Frauen alle notwendigen Aufräumarbeiten.

Dabei gehen die Helfer an ihre körperliche Belastungsgrenze und darüber hinaus. Sie hätten teilweise morgens um zehn Uhr angefangen und bis um sieben oder acht Uhr am Abend gearbeitet, berichtet Dinc, „und abends waren wir dann alle vollkommen erschöpft. Manchmal hatte ich kaum noch Kraft zu duschen.“ Der mit Fäkalien, Heizölen und anderen Giftstoffen kontaminierte Schlamm beschert der 23-Jährigen obendrein einen Ausschlag, der noch monatelang markante Spuren („als hätte jemand Zigaretten darauf ausgedrückt“) an ihren Armen hinterlässt. Und auch psychisch bedeutet die Situation im Krisengebiet für die Helferin eine enorme Belastung. „Als das Wasser kniehoch stand, hatte ich Angst, dass uns irgendwo eine Leiche entgegengetrieben kommt“, erinnert sich Dinc. Beim Aufräumen des Gartens begleitet sie stets die Sorge, dass auch Tote unter der Schlammschicht begraben liegen könnten. Für Merve Dinc sind diese Umstände ein Schock: So etwas passiere in Filmen oder ganz weit weg, „aber hier bei uns, das war schlimm.“

Überhaupt befinden die Menschen sich nach der Flut in einem absoluten Ausnahmezustand. Zwar erklärt Dinc, die erste Aufregung habe sich nach und nach gelegt und sei „einer Art Ordnung, wie man vorgeht, gewichen“. Wie angespannt die Situation dennoch ist, zeigt sich, als eine Falschmeldung vom Bruch der Steinbachtalsperre bei Euskirchen verbreitet wird. Merve Dinc wird Zeuge einer Massenpanik, die sich daraufhin abspielt. „Irgendjemand hat gebrüllt: ‚Rennt Weg! Das Wasser kommt wieder!‘ Und wir sind alle automatisch gerannt, haben nicht nachgedacht, ob es stimmen kann. Alle haben geschrien und sind gelaufen.“

Anfangs watete Merve Dinc in Pantoletten durch den Flutschlamm.

Einzigartiges Miteinander

Helfer und Betroffene stützen sich in dieser schweren Zeit gegenseitig. Nach einem harten Arbeitstag essen sie gemeinsam und nutzen diese Zeit, um auf andere Gedanken zu kommen. „Abends“, erzählt Merve Dinc, „saßen wir immer alle zusammen und haben geredet und gelacht, auch wenn das vielleicht komisch klingen mag.“ Besonderen Eindruck auf Dinc hat die von den Flutbetroffenen und Helfern geübte Solidarität gemacht. Unter den Nachbarn habe „jeder jedem geholfen“, sagt sie. Und auch vollkommen fremde Menschen hätten immer wieder ihre Hilfe angeboten. Als ihnen das Wasser für die Reinigungsarbeiten mit dem Hochdruckreiniger fehlt, bringen freiwillige Helfer dieses gleich eimerweise zu ihnen. Neben allem Leid war die Flutkatastrophe im Ahrtal eben auch durch diesen beispiellosen Zusammenhalt und den aufopferungsvollen Einsatz von Helfern wie Merve Dinc geprägt. Dinc selbst sieht ihre Hilfsbereitschaft als eine Selbstverständlichkeit an: „Für mich gab es gar keine andere Option, als zu helfen.“