Skulpturale Verwurzelung am Rhein – vom Suchen und Finden einer Heimat

Sylvie Kyeck

Das Skulpturenufer Remagen wurde 2001 vom Arp Museum Bahnhof Rolandseck und von der Stadt Remagen ins Leben gerufen. Es verläuft auf 14 Kilometern entlang des Rheins von Remagen-Rolandswerth bis Remagen-Kripp und ist als dauerhaftes und öffentlich zugängliches Kunstprojekt angelegt. Die Idee der Projektinitiatorin Jutta Mattern war es, an sorgfältig ausgewählten Plätzen Kunstwerke nationaler und internationaler Künstler*innen zu installieren, die man zu Fuß oder mit dem Fahrrad entdecken kann. Die 15. und damit letzte Skulptur wurde im Jahr 2021 fertiggestellt.

Aron Demetz, Heimat, 2014: Die Bronzeskulptur ergänzt das Ensemble am Rhein. Die menschlich- figurative Arbeit besteht aus einer lebensgroßen, weiblichen Figur und einem Baumstamm samt beeindruckend ausladender Wurzel.

Ein Kunstwerk von Aron Demetz wird Teil des Skulpturenufers

Seit dem Sommer 2014 ergänzt die Bronzeskulptur Heimat von Aron Demetz (*1972) das Ensemble am Rhein. Als einzige menschlich-figurative Arbeit des Skulpturenufers besteht sie aus einer lebensgroßen, weiblichen Figur und einem Baumstamm samt beeindruckend ausladender Wurzel. Mit aufrechter und selbstbewusster Körperhaltung steht die Skulptur fest auf ihrem Baumstamm-Sockel und blickt in Richtung Rhein. Aus ihren Fingerspitzen wachsen feine Zweige und Blätter. Ihr Kopf hingegen ist kahl, was der nackten Gestalt mit dem athletischen Körperbau etwas Asketisches oder Androgynes verleiht. Das mächtige Wurzelgeflecht, das auch an Tentakeln oder Algen erinnert, scheint ein Eigenleben zu führen und sich mit dem Untergrund verbinden zu wollen. Auch an den Händen der Skulptur kann man einen Wachstums- oder Verwandlungsprozess beobachten. Haben wir es vielleicht mit Daphne aus der römischen Mythologie zu tun, die sich zum Schutz vor dem liebestollen Apollo in einen Lorbeerbaum verwandelt? Oder beginnt die Figur gerade buchstäblich Wurzeln zu schlagen und ihre neue Heimat zu erobern? Aron Demetz hat den Moment der Metamorphose bildhauerisch festgehalten und regt dazu an, den Verwandlungsprozess in unserer Fantasie weiter fortzuführen.

Vom Baumstamm zum Bronzeguss

Die ursprüngliche Heimat der Skulptur ist etwa 700 Kilometer entfernt: Südtirol. Dort wurde die Baumwurzel einer umgestürzten Fichte mit großem Aufwand im Wald ausgegraben und mit dem Hubschrauber in das Atelier von Aron Demetz geflogen. Kurze Zeit später sollte neues Leben auf ihr entstehen. Der Bildhauer verband den Baumstamm mit einer fein ausgearbeiteten weiblichen Figur aus Zedernholz. Für das Skulpturenufer Remagen ließ er die Arbeit schließlich in einer Gießerei in der Toskana in Bronze gießen und nach seinen Vorgaben patinieren. Die gesamte Skulptur bringt nun eine stolze Tonne auf die Waage, ist witterungsbeständig und trotzt auch dem regelmäßig wiederkehrenden Hochwasser am Rheinufer.

Verwurzelung mit Hindernissen

Die Skulptur hat ihre neue Heimat in Remagen am Rhein gefunden. Bevor sie an Rheinkilometer 634 installiert wurde, gab es allerdings noch einen Ortswechsel. Der ursprüngliche Standort, einige hundert Meter weiter südlich, war zu unbeobachtet und lud offenbar dazu ein, die Skulptur zu beschädigen. Es wurde sogar ein Teil der Bronzewurzel abgeschnitten. Hier wird deutlich, wie stark Kunst im öffentlichen Raum den unterschiedlichsten Gefährdungen ausgesetzt ist: Zum einen ist es der Vandalismus, wie in diesem Fall. Zu anderen ist es die Natur, die, wie hier am Rhein, mit den gewaltigen Massen des Hochwassers alljährlich auch die Kunstwerke des Skulpturenufers bedroht und beschädigt, oder es sind einfach die jahreszeitlich bedingten Witterungen, die den Skulpturen zusetzen. All das erfordert einen hohen Pflegeaufwand. Von unschätzbarem Vorteil ist wiederum, dass Kunst im öffentlichen Raum unmittelbar und für alle zugänglich ist und auch erlebt werden kann, wenn die Museen geschlossen sind. Umso wichtiger und erhaltenswerter sind Projekte wie das Skulpturenufer Remagen in diesen Zeiten. Doch zunächst noch einmal zu den Wurzeln der Skulptur und ihrem Schöpfer.

Die Wurzeln des Künstlers

Aron Demetz lebt und arbeitet in Gröden, Südtirol, wo das Holzschnitzen eine weitreichende Tradition hat. Für den Künstler bildet die überlieferte Schnitzkunst die Grundlage seiner Arbeit. In dieser Hinsicht bleibt er seiner Heimat und seinen Wurzeln treu. Die inhaltliche Auseinandersetzung und die daraus resultierende formale Ausarbeitung sind aber absolut zeitgenössisch. Seine unverwechselbare und vielschichtige künstlerische Sprache entwickelte er an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg.

Seine Skulpturen entstehen aus unterschiedlichsten Bäumen: Linde, Fichte, Ahorn, Zeder, Apfelbaum, Sequoia oder Pappel. Er kennt sich hervorragend mit den Besonderheiten und Qualitäten der jeweiligen Holzart aus. Mit traditionellen Werkzeugen wie Stechbeitel, Stemmeisen, Feile, Drechsel, Hobel, Axt und Schleifpapier arbeitet er ebenso wie mit der Kettensäge und einer computergesteuerten Fräse. Aron Demetz vergleicht Bäume oft mit menschlichen Körpern und schreibt ihnen angelehnt an den Arzt, Philosophen und Alchemisten Paracelsus (1493–1541) eine Seele zu. Der Künstler geht sehr verantwortungsvoll mit seinem Material um und arbeitet ausschließlich mit bereits umgestürzten Bäumen. Manchmal nutzt er auch Harz – den Lebenssaft der Bäume – für seine Arbeiten. 2014 waren seine beeindruckenden Holzskulpturen in einer umfangreichen Ausstellung im Arp Museum Bahnhof Rolandseck zu sehen.

Die Heimat in Zeiten der Pandemie

Seinen Heimatort Wolkenstein in Gröden hat die Corona-Pandemie Anfang des Jahres 2020 als einen der ersten Orte mit voller Wucht getroffen. Das ganze Dorf befand sich wochenlang im verbarrikadierten Ausnahmezustand. Auch bei uns in Deutschland galt der Grundsatz der Virolog*innen und Politiker*innen Bleibt zu Hause. Coronabedingte Lockdowns erforderten Social und Physical Distancing und wir wurden auf eine nie dagewesene Weise auf das eigene Heim zurückgeworfen. Je nach Wohnsituation, sozialem Umfeld und familiären Konstellationen konnte das Zuhause zum schützenden Kokon werden, aber auch zur alptraumhaften Gefängniszelle, in der man sich wie eingesperrt wähnte. Auch die Flüchtlingswelle, die in Europa ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat, hat dem Thema der Heimat und der Zugehörigkeit noch einmal mehr Bedeutung zukommen lassen. Das Schicksal von Geflüchteten und Obdachlosen wurde durch die Pandemie noch mal auf eine ganz andere Art auf die Probe gestellt. Bleibt zu Hause muss sich in den Ohren der Menschen, die kein Zuhause hatten, mehr als absurd angehört haben.

Wir alle schränkten unsere Mobilität extrem ein. Hier wie dort führte Corona zu einem Rückzug ins Private, in die Wohnung und gewissermaßen in die Isolation. Auch Aron Demetz, der kurz zuvor noch in Mexiko war, um an Projekten zu arbeiten und regelmäßig an der Kunsthochschule in Venedig unterrichtet, verbrachte mehr Zeit zu Hause und im Atelier als sonst. Seiner Heimat ist er ohnehin sehr verbunden – sicherlich war diese Zeit besonders prägend.

Der Heimatbegriff im Wandel

Der Künstler hat seiner Skulptur den vieldeutigen Titel Heimat gegeben. Er verwendet bewusst das deutsche Wort, da es wenige Entsprechungen in anderen Sprachen gibt. In seiner Heimat Südtirol spricht man Italienisch, Deutsch und die rätoromanische Minderheitensprache Ladinisch. Auf Ladinisch kommt ncesa dem Wort Heimat am Nächsten, bedeutet aber eher Heim oder Haus. Im Italienischen würde man Heimat am ehesten mit patria übersetzen, was sich aber nur auf das Heimatland bezieht.

Das Wort Heimat hat in der deutschen Geschichte eine spannende Wandlung erfahren. Nachdem die Nationalsozialisten den Heimatbegriff auf unvergleichliche Weise missbraucht hatten, war er in Deutschland lange Zeit verrufen. Doch seit den 1980er-Jahren gab es eine Kehrtwende und das Wort wird seitdem wieder vermehrt gebraucht. Ein neues gesellschaftliches Bewusstsein entstand, das auch die Werbebranche für sich entdeckte und in Verbindung mit den Begriffen regional und lokal nutzt. Auch für jüngere Menschen ist die Heimat wieder positiv besetzt. Ob der Heimatgedanke an einen Ort, eine Person oder eine Sprache gebunden ist – meist wird mit dem Wort ein psychisches Wohlbefinden und eine Art Geborgenheit assoziiert.

Heimat im Fluss

Zurück nach Remagen an das Skulpturenufer. Tagein tagaus schaut Aron Demetz’ Figur dem ewigen Fließen des Rheins und den vorbeifahrenden Schiffen zu, während sie selbst Wurzeln schlägt und sich immer mehr mit dem Ort verbindet. Mit ihrer auratischen Ausstrahlung lässt sie uns innehalten und über die eigene Verwurzelung und Beziehung zur Heimat nachdenken. Sie selbst hat ein neues Zuhause am Rhein gefunden und ihre Südtiroler Wurzeln einfach mitgenommen. Vielleicht sind es ja gerade die Wurzeln, die ihr die Kraft geben weiterzuwachsen und sich zu entfalten.