Rheinländer und Oberschlesier: In der Not füreinander da

Nach Gewitter am 11. Juni 1859: „Fürchterlichste Verwüstungen in Niederzissen, Brohl, Gönnersdorf, Rheineck, Waldorf, Löhndorf, Westum, Sinzig, Unkelbach, Oberwinter und Oedingen“

Andreas M. Smarzly

Hülferuf! Ein nicht unbedeutender Theil des Kreises Ahrweiler ist von einem gräßlichen Unglück heimgesucht wurden. Am 11. d.M. am Nachmittage vor Pfingsten hat sich in den Bürgermeistereien Königsfeld, Niederbreisig, Sinzig und Remagen ein mit wolkenbruchähnlichen Ergüssen verbundenes Gewitter entladen und den großtheils armen Gemeinden, resp. deren Bewohnern einen Schaden verursacht, der vorläufig mit einer halben Million Thaler sicher noch zu gering veranschlagt worden ist.

Es sind in den Gemeinden Niederzissen (in der Nähe des Laach´er See´s), Brohl, Gönnersdorf, Rheineck, Waldorf, Löhndorf, Westum, Sinzig, Unkelbach, Oberwinter und Oedingen die fürchterlichsten Verwüstungen durch das entfesselte Element angerichtet, Mühlen, Wohngebäude und Stallungen ohne Zahl mit fortgerissen und Wege, Brücken etc. vollständig vernichtet worden.

Dieser Zeitungsbericht mutet an, als wäre er der aktuellen Presse entnommen. Wäre da nicht die altertümliche Schreibweise bestimmter Wörter, könnte man auf den ersten Blick denken, er bezieht sich auf die furchtbare Hochwasserkatastrophe, die am 14./15. Juli 2021 Nordrhein-Westfallen und Rheinland-Pfalz, und hier insbesondere den Kreis Ahrweiler, heimsuchte. Doch weit gefehlt. Dieser Bericht wurde vor über hundertsechzig Jahren verfasst und wurde dem Kreisblatt1) für den Kreis Neustadt in Oberschlesien im heutigen Polen entnommen.

In diesem Blatt vom 25. Juni 1859 wurde die Lage im damaligen Hochwasserkatastrophengebiet weiter wie folgt geschildert: „Der Rhein, in welchen die betreffenden, zu Strömen angeschwollenen Gebirgsbächen münden, glich am 11. d. M. Nachmittags einer Meeresküste, an welcher die Trümmer großartiger Schiffbrüche vorbeitrieben; menschliche Leichname, todte Tiere, Haus- und Wirthschaftgeräthe aller Art und Trümmer von Gebäuden wurden aufgefischt. Niederzissen allein hat 19 Menschenleben zu beklagen. Zu Westum ist eine ganze Familie bestehend aus dem Großvater, dem Vater, der Mutter und 3 kleinen Kindern, die sich zum Todeskampfe fest umschlungen hatten, von den Wellen verschlungen worden, ohne dass die mindeste Hülfe geleistet werden konnte. Nach den bis jetzt eingegangenen Nachrichten sind von den Angehörigen der betreffenden Gemeinden 40 Personen ums Leben gekommen.“

Mit diesem bewegenden Aufruf, der am 13. Juni 1859 in Ahrweiler verfasst wurde, baten die Rheinländer die rund tausend Kilometer östlich entfernt wohnenden Bewohner des Kreises Neustadt in Oberschlesien um Hilfe. Das Hilfskomitee, das sich aus dem Kreissekretär und komm. Landrat-Amtsverwalter Lorenz sowie mehreren Pfarrern, Pastören, Gemeindevorstehern und Bürgermeistern aus den betroffenen Gemeinden zusammensetzte, schrieb:

„Doch den Todten ist wohl! groß aber ist die Noth der Hinterbliebenen, größer die Noth Derjenigen, welche aus dem rasenden Elemente nichts gerettet haben, als das nackte Leben, denen es an Allem mangelt, an Nahrung, Kleidung und Obdach; höchst betrübt in die Zukunft ist der Blick Derjenigen, welche zwar vom Wasser persönlich verschont geblieben sind, denen aber durch die großartige Überfluthung ihre Erndten verdorben, ihre Felder bis auf den tiefsten Grund aufgewühlt worden sind, oder denen an einigen Orten ein furchtbarer Hagel Alles zerstört hat. Das unterzeichnete Comitee wendet sich daher vertrauensvoll an alle mildthätigen Herzen in der Nähe und Ferne mit der dringenden Bitte zur Linderung eines so großen Nothstandes das Ihrige beitragen zu wollen. Die Königl. Steuerkasse zu Sinzig wird Spenden an Geld zu jeder Zeit annehmen. Dringend wünschenswerth ist jedoch auch ein Beitrag an Lebensmitteln, Kleidern und Bettzeug, welche von den unterzeichneten Bürgermeistern bereitwilligst angenommen und nach Bedürfniß sofort vertheilt werden sollen.“

Hilfe der Oberschlesier

Und die Oberschlesier halfen. Nur bis Ende Juli des Jahres wurden alleine aus dem kleinen Kreis Neustadt Geldspenden in Höhe von 11 Taler und 20 Silbergroschen verzeichnet. Den Wert dieser Spenden kann man einschätzen, wenn man bedenkt, dass in jener Zeit das gesamte Jahresgehalt eines Pferdeknechts 20 Taler oder dasjenige eines Hilfspolizisten 60 Taler betrug.2) Zudem war es eine Zeit, in der nicht nur in Oberschlesien der Großteil der Bevölkerung auf dem Lande noch kaum über Geld verfügte, es wurde im Alltag meistens noch mit Naturalien bezahlt.

Es war nicht die erste Naturkatastrophe dieser Art im Kreis Ahrweiler und leider auch nicht die letzte. Das „Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler“ weiß von zwei weiteren Hochwasserkatastrophen im Kreis zu berichten, nämlich der vom 21. Juli 1804, die 63 Menschenleben forderte und der Flutwelle vom 12./13. Juni 1910, der 52 Einwohner zum Opfer fielen. Auch wenn entsprechende Quellen bisher nicht aufgefunden wurden, ist es möglich, dass wie im Jahre 1859, auch hier Hilfe und Solidarität von Seiten der Oberschlesier kam.

„Hülferuf! Ein nicht unbedeutender Theil des Kreises Ahrweiler ist von einem gräßlichen Unglück heimgesucht wurden.“ Das Neustädter Kreisblatt (Oberschlesien) vom 25. Juni 1859

Revanche der Rheinländer

Die Hilfe der Oberschlesier für ihre Landsleute im Westen des preußischen Königreichs war indes nicht einseitig. Gut einhundert Jahre und zwei Weltkriege später revanchierten sich die Rheinländer mehrmals bei den Oberschlesiern. Inzwischen war das Rheinland ein Teil der Bundesrepublik Deutschland geworden und Oberschlesien wurde eine Region in Tschechien und Polen. Der Kreis Neustadt lag nun im polnischen Teil Oberschlesiens in der Woiwodschaft Oppeln und nur etwa die Hälfte der einheimischen Bevölkerung des Kreises (und etwa 1 Million in ganz Oberschlesien) konnte nach den Vertreibungen der Deutschen aus Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg, in ihrer Heimat verbleiben. Als nach dem Aufbegehren der Solidarnosc-Bewegung in Polen Anfang der 1980er-Jahre, der darauffolgenden Verhängung des Kriegsrechts und den politischen Umbrüchen nach Zerfall des Kommunismus in den Ostblockstaaten nach 1989 sich auch in Oberschlesien eine politisch und wirtschaftlich sehr schwierige Lage einstellte, litten sehr viele Menschen erheblich. In Deutschland und insbesondere im Rheinland entstand damals eine Welle der Solidarität: Lebensmittel, Medikamente und Kleider wurden in Pfarreien, Schulen und Privathäusern gesammelt und nach Polen transportiert. Nachdem im Jahre 1997 das „Jahrtausendhochwasser“ der Oder große Teile Schlesiens überflutete, viel Leid und Elend den Bewohnern des Oderlandes brachte und alleine in Schlesien 54 Todesopfer forderte, war auch die Hilfsbereitschaft in Rheinland-Pfalz, das seit 1996 auch eine offizielle Partnerschaft mit der Woiwodschaft Oppeln unterhält, immens und ist bis heute in Oberschlesien nicht vergessen.

Oberschlesier zeigen sich erneut solidarisch

Als nun die furchtbare Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 weite Landstriche von Nordrhein-Westfallen und Rheinland-Pfalz verheerte und zahlreiche Menschenleben forderte, haben die Deutschen in Oberschlesien sofort ihre Anteilnahme und Hilfsbereitschaft bekundet. Raphael Bartek, Vorsitzender der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien und Vorsitzender des Landtages der Woiwodschaft Oppeln, hat als einer der ersten an seinen Amtskollegen, den Präsidenten des rheinland-pfälzischen Landtages Hendrik Hering, seine Anteilnahme übermittelt und jegliche Hilfe angeboten.

Dieser Solidaritäts- und Hilfsbekundung schloss sich auch sofort die Vizemarschallin der Woiwodschaft Oppeln und stellvertretende Direktorin der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien, Susanna Donath-Kasiura, an, die in Medien zu Spendenaktionen aufrief. Und auch der Verband der Deutschen Gesellschaften in Polen (VdG) mit Sitz in Oppeln schickte nach Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfallen Trostworte und rief die Deutschen in Polen (200.000 bis
300.000 Deutsche leben heute noch alleine in Oberschlesien) zu Spenden auf. Der Vorsitzende des VdG, Bernhard Gaida, schrieb an die Ministerpräsidentin und den Ministerpräsidenten der betroffenen Bundesländer u.a.: „ […] Immer noch haben wir in Erinnerung das Hochwasser, das vor einem Vierteljahrhundert Schlesien getroffen hat. Diese Erfahrung lässt uns darüber bewusst sein, dass die Beseitigung der Schäden in vielen Fällen nicht Monate, sondern Jahre dauern kann. In diesem Bewusstsein schließen wir uns, die in Polen lebenden Deutsche, der Spendenaktion an, die das Rote Kreuz in Deutschland angekündigt hat. Denn auch wenn das Ausmaß unserer Unterstützung gering ist, sind wir uns einer Sache sicher: Zusammen sind wir stärker […]“

Natürlich braucht man in schweren Krisen vor allem Manpower bei der Beseitigung von Schäden und für den Wiederaufbau, sowie materielle und finanzielle Hilfe. Wie trostvoll ist es jedoch auch zu wissen, dass man im Unglück nicht alleine ist. Dass es Menschen gibt, die in schweren Zeiten an einen denken und Trost spenden, unabhängig davon wie weit entfernt sie wohnen mögen, und das auch noch zuverlässig über verschiedene Zeitepochen hinweg.

Anmerkungen:
1) Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Neustädter Kreisblatt, Jg. 1852-1911, Signatur: Ztg 6321 MR: Nr. 26 vom 25.06.1859,
Nr. 27 vom 02.07.1859, Nr. 28 und Nr. 31 vom 30.07.1859.
2) Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Neustädter Kreisblatt, Jg. 1852-1911, Signatur: Ztg 6321 MR: Nr. 33/1866 und 47/1866.