„Heimat“ – Der Versuch einer persönlichen Annäherung an einen vielschichtigen Begriff

Hubert Rieck

Eigentlich hatte ich einen völlig anderen Einstieg in das Thema „Heimat“ vorgesehen. Aber die Ereignisse des 14./15. Juli 2021, die verheerende Flutkatastrophe in meinem, unserem Ahrtal, veränderte so Vieles: Das Gefühl von Vertrautheit, Routine, Geborgenheit, Überschaubarkeit zerplatzte jäh und brutal. Todesangst, Leid, Zerstörung, Fassungslosigkeit, Chaos, jene Momente der ersten Stunden, Tage und Wochen machten sich in mir breit, dominierten meine Gefühlslage, waren plötzlich reales Leben in einer zerschundenen, lebensfeindlich gewordenen Heimat.

Ich befand mich in einer Situation, wo Vieles an Elementarem zerstoben war. Um mich herum, in einem Radius von nicht einmal 15 Metern, gab es Tote zu beklagen. Die Vorstellung, wie elendig diese Menschen, die ich mehr oder weniger intensiv kannte, ums Leben gekommen waren, dies überstieg mein mentales Fassungs- und Verarbeitungsvermögen. Das war Heimat brutal, Heimat im Chaos, Heimat – eine Katastrophenregion. Löse ich die Einzelschicksale der 134 unmittelbaren Flutopfer im Kreisgebiet (Stand: 24.11.2021 laut SWR-Datenanalyse), davon alleine 69 Tote in meiner Heimatstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, in ihren jeweiligen Einzelschicksalen auf, bin ich, wie so viele Menschen im Ahrtal, in meinem Inneren zutiefst getroffen und erschüttert. Ich weiß mittlerweile nur zu gut, wie schnell sich die mit dem Begriff Heimat landläufig verbundenen Begriffe wie Stabilität, Sicherheit und Vertrautheit in ein Nichts auflösen können.

Willibrorduskirche im Ortsteil Beul – ein nachdenkliches Element Heimat

Und dennoch. Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man Heimat, nach diesen Erfahrungen, ausschließlich auf den „Verlust an der alten Heimat“ reduzieren würde.

Geschichte und Bedeutungsspektrum des Heimatbegriffs

Heimat, abgeleitet vom Wort „Heim“, hat seine altdeutschen Wurzeln im Wort „heimuoti“, mittelhochdeutsch „heimüete“, und es beschrieb den Sinnzusammenhang von „Wohnort“ und „Niederlassung“.1) Man war an einem Ort „ansässig“, „heimisch“, also nicht „fremd“, „vertraut in einer Umgebung“. In „Elilenti“, in der Fremde, im „Elend“ befand sich derjenige, der keine Heimat hatte oder seiner Heimat beraubt, in der Fremde leben musste.

Mit dem Recht auf Heimat war im vorindustriellen Zeitalter eine soziale Komponente verbunden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein begründete das Recht auf Heimat auch einen, wenngleich äußerst bescheidenen Anspruch auf Versorgung im Alter, bei Krankheit und in Notfällen. Diese soziale Dimension des Heimatgedankens ging im Gefolge der Umbrüche durch die Industrialisierung weitgehend verloren. Massenarmut in den wachsenden Städten, Anonymität, prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen beförderten eine soziale Heimatlosigkeit.

Als Gegenbewegung zu einer „individualisierten“, „entwurzelten“, „heimatlosen“ Gesellschaftsentwicklung formierte sich eine konservative Strömung. So gründete sich 1904 der „Deutsche Bund Heimatschutz“, um die Zerstörung der Umwelt durch die negativen Folgen der Industrialisierung zu stoppen. Mit Vehemenz setzte man sich für den Erhalt der Natur und der Kulturdenkmäler ein. Dieser im Kern progressive Ansatz wurde in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, im Gefolge der Naturschutz- und Anti-Atomkraftbewegung, wieder stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt. Heimat hat somit demokratisches Potential, beinhaltet den Willen einer demokratischen Mitbestimmung vor Ort, zielt auf ein „Gemeinwohl-Handeln für die Heimat“.2)

Bis sich diese Entwicklung jedoch durchsetzen konnte, erlebte der „Heimatbegriff“ auch viel Verengendes, geriet in den 1950er-Jahren in das Fahrwasser des „Heimatkitsches“. Doch zuvor wurde der Begriff Heimat durch die Nationalsozialisten einseitig politisiert und chauvinistisch aufgeladen. Heimat wurde im Sinne der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie definiert. So sprach man „den Juden“ die Fähigkeit ab, Heimatgefühle, Bindung zur Heimat, gar Heimatliebe entwickeln zu können. Die Folgen dieser verbrecherischen Ideologie zeigten sich alsbald in den verschiedensten Handlungen gegen „die Juden“: Aberkennung der Bürger- und Menschenrechte, Berufsverbote, Drangsalierungen und körperliche Übergriffe, Verhaftungen, Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

All dies fand, nicht nur in Großstädten, sondern auch in meiner Heimat, in meinem Heimatkreis, meiner Heimatstadt, meiner Straße, meinem jetzigen Wohnhaus statt.3) Charlotte Lichtendorf, deren Mutter 1942 von Bad Neuenahr aus deportiert und in Auschwitz vergast wurde, emigrierte über China in die USA. In einem bewegenden Brief an Leonhard Janta schrieb sie in der Rückschau über ihre alte Heimatstadt Bad Neuenahr: „Ich habe Bad Neuenahr geliebt, wie nur jemand seine Heimat lieben kann, und wie jemand im Exil gesagt hat.

„Man konnte uns aus der Heimat vertreiben, aber man konnte die Heimat nicht aus uns vertreiben.“ Welche Erinnerungen habe ich? Eine sorgenlose, unbeschwerte Jugendzeit. Die Stille im Winter mit Schnee und Rodeln. Im Frühling hörte man, wie zur Vorbereitung der Saison in den Hotelgärten die Matratzen geklopft wurden. Und manchmal Hochwasser, wenn die Ahr ihren Weg durch die Kreuzstraße nahm. Im Sommer Hochbetrieb mit den Kurgästen, Karussell und Schaukeln auf dem Spielplatz im Kurgarten, das Kurorchester unter der Leitung von Herrn Juettner im Kurgarten und abends vor dem Kurhaus.“4)

Die Hoffnung und die Farbe kehren zurück: Ahrweiler im Sommer 2022

„Heimat“ – dieser Begriff war aufgrund des Missbrauchs durch die Nationalsozialisten für längere Zeit im öffentlichen Sprachgebrauch diskreditiert. Der Heimatbegriff verschwand nicht, er wurde jedoch nach 1945 für einige Jahrzehnte bisweilen verengt auf Heimatklischees, Heimatfilme, heile Welt und Stereotypen. Aber auch in jenen Jahren hatte „Heimat“ in seinem Wesenskern einen immanenten Bildungsgehalt, im Sinne eines durchaus fundierten Wissens über die eigene Heimatregion. „Vom Nahen zum Fernen“, so postulierte u.a. Jakob Rausch, ehemals Rektor, Dozent, Kreisarchivar und Autor zahlreicher heimatgeschichtlicher Publikationen, dieses Streben nach „geistigem Wurzelgefühl“ und Identität. In der Volksschule gab es das eigenständige Fach „Heimatkunde“, das jedoch in den 1970er-Jahren aufgrund von vermeintlich fehlender „Wissenschaftsorientierung“ zugunsten des „Sachunterrichts“ abgelöst wurde. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass mittlerweile aufgrund eines modernen Heimatbegriffs die Hereinnahme von heimat- und regionalbezogenen Themen in vielen Schulen innovativ umgesetzt wird.5)

Heimat heute

„Wir sind Heimat“, mit diesem Slogan wirbt seit einigen Jahren eine große Regionalbank. Sie gewährt ihren Kunden einen „Heimatbonus“, zeichnet Einzelpersonen, Firmen und Institutionen mit einem „Zukunftspreis Heimat“ aus. Im SWR läuft regelmäßig die Fernsehsendung „Expedition in die Heimat“. Das „Nachtcafe“, eine Talkshow im SWR, beschäftigte sich 2021 mit der Fragestellung: „Sind Heimatgefühle kultig oder spießig?“ Der WDR ergänzt den Bedeutungsbogen Heimat sogar zur Kulinarik mit der Sendung: „Heimathäppchen – regional, lecker, einfach.“

Tourenbeschreibungen für Heimatwanderungen sind in Zeitschriften und Büchern mittlerweile zahlreich auf dem Markt. Sogar das Feuilleton überregionaler Zeitungen nimmt „Heimat“ wieder ins Blickfeld des journalistischen Interesses. So druckte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2021, u.a. die Migrationsbewegungen analysierend, einen Beitrag unter dem Titel „Zwischen den Sprachen“, wo eine Autorin „in der Heimat ein Zuhause“ sucht. Die „Literarische Welt“ titelte 2018: „Heimat – Heilmittel für Abgehängte oder reaktionärer Kampfbegriff? Die Literatur ist da schon lange weiter. 13 Thesen für zukünftige Heimatminister.“

Das Bundesministerium des Innern wurde 2018 um die Bereiche Bauwesen und Heimat erweitert, 2021 umbenannt in „Bundesministerium des Innern und für Heimat“. Ebenfalls 2021 traten die ersten Rekruten der Bundeswehr im Heimatschutz ihren Freiwilligendienst an, medial herausgehoben von einer groß angelegten Anzeigenkampagne der Bundeswehr mit der Aussage der damaligen Verteidigungsministerin Kamp-Karrenbauer: „Heimat ist mehr als ein Ort, Heimat trägt man im Herzen. Freiheit, Demokratie und Vielfalt wollen wir gut beschützen.“ Angesichts des Krieges Russland-Ukraine hat diese Aussage eine besondere Relevanz.

„Heimat – Eine Suche“, unter diesem Titel bot die Bundeskunsthalle in Bonn eine vielbeachtete Ausstellung an, die vom 11.12.2021 bis 25.09.2022 einen großen Besucherzuspruch erfuhr. Die Ausstellung, so ihr Selbstverständnis, lud dazu ein, über die Bedeutung von Heimat für den Einzelnen und für die Gesellschaft nachzudenken. Auch die Migrationsfrage und die Auswirkungen auf das Heimatgefühl wurden dort thematisiert. Ferner wurden viele Fakten zum Spannungsfeld „alte – neue Heimat“ benannt: So haben 21,2 Millionen Menschen in Deutschland – mehr als ein Viertel der Bevölkerung – schließlich familiäre Wurzeln im Ausland.6)

Leonhard Janta stellte schon im Heimatjahrbuch 2019 resümierend fest: „Die Diskussion über die Bedeutung von Heimat und den Heimatbegriff hat Konjunktur.“7) Oder wie Hildegard Ginzler in einem Leitartikel das Bedeutungsspektrum inhaltlich auslotete und treffend formulierte: „Der Reiz des Lokalen – Warum Heimat, Region und Bindungen wieder Konjunktur haben.“8)

Fazit

„Heimat“ eignet sich nicht zu einem ideologischen, einseitig aufgeladenen, politischen Kampfbegriff. Verengungen passen nicht zu diesem hoch komplexen, vielschichtigen Begriff. Wer das Bewahren der eigenen Identität und Kultur konfrontativ gegen das Element der Weltoffenheit und Freiheitsrechte des Individuums setzt, der polarisiert und steht damit einem offenen, kritischen, zutiefst demokratischen Diskurs im Wege. Ein derartiges „Entweder – Oder- Denken“ passt nicht zu einem modernen Heimatbegriff. Denn: Heimat ist neben den Bedeutungsebenen wie Ort, Zeit, Gefühl, Erinnerung auch soziale Interaktion, ein Geflecht vielfältigster Beziehungen der Menschen untereinander. Heimat, war und ist nie ein konfliktfreier Rechts- und Friedensraum. Aber: Heimat ist fest verankert in einem rechtlichen Rahmen der unveräußerlichen Menschen- und Grundrechte, verankert in den Ausführungen unseres Grundgesetzes.

Somit, so Johannes Schmitt, ist Heimat „auf die Verwirklichung von Recht und Friede, auf Freiheit und Selbstbestimmung angelegt, obwohl der Heimatbegriff in seiner Entwicklung (oftmals) das Gegenteil zu belegen scheint.“9) Damit hat Heimat auch einen immanenten Aufforderungscharakter, in Frieden und Freiheit zu leben, den Traum, mit Ernst Bloch zu sprechen, der Utopie des „guten Lebens“, Gestalt zu geben.10) Somit beinhaltet Heimat in letzter Konsequenz die wichtige Perspektive: Hoffnung. Letzteres, die Hoffnung, muss uns Kraft, Antrieb und Durchhaltevermögen geben, unsere Heimat, meine Heimat: das Ahrtal wieder aufzubauen und zu gestalten.

Anmerkungen:

  1. Vgl. Johannes Schmitt: Heimat in der Schule – (k)ein Thema? In: Informationen für Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer. Heft 68/2004, S. 66ff.
  2. Vgl. Susanne Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses. Darmstadt 2019. Scharnowski gibt in diesem äußerst lesenswerten Buch einen wissenschaftlich fundierten, hintergründigen Überblick über Geschichte und Bedeutungsspektrum des Heimatbegriffs.
  3. Vgl. Landkreis Ahrweiler (Hrsg.): Kreis Ahrweiler unter dem Hakenkreuz. Studien zur Vergangenheit und Gegenwart, Band 2. Bad Neuenahr-Ahrweiler 1989.
  4. Leonhard Janta: Man konnte uns aus der Heimat vertreiben, aber man konnte die Heimat nicht aus uns vertreiben. In: Heimatjahrbuch 1992, S. 89.
  5. Vgl. Erwin Schaaf: Regionalgeschichte im Unterricht. In: Landkreis Ahrweiler (Hrsg.): Studienbuch Landkreis Ahrweiler Band 1. Bad Neuenahr-Ahrweiler 1987, S. 19 – 27.
  6. Vgl. Hubert Rieck: „Heimatkunde“ in der Grundschule. Heutige Möglichkeiten der Umsetzung. In: Heimatjahrbuch 2008, S. 49 – 52; Vgl. Johannes Schmitt, a.a.O.
  7. Vgl. Museumsmagazin zur Ausstellung „Heimat. Eine Suche“. Ausgabe 04/2021.
  8. Leonhard Janta: Heimat – ein Annäherungsversuch. In: Heimatjahrbuch 2019, S. 114 -117. Janta thematisiert in seinem Beitrag u.a. die Verlusterfahrungen der Heimatvertriebenen.
  9. Hildegard Ginzler: Der Reiz des Lokalen. Warum Heimat, Region und Bindungen zum Lokalen wieder Konjunktur haben. Sinzig 07/2006.
  10. Johannes Schmitt, a.a.O. S. 75.
  11. Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main. o.J. Aus: Kapitel 55: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin niemand war: Heimat.“