Gelebte Solidarität nach der Flutkatastrophe im (Rotwein-)Paradies

Hubert Pauly

Dernau am 14. Juli 2021, 19:00 Uhr: Im Tal begann sich das Gewässer der Ahr ungewohnt stark und schnell hochzustauen. Die starken Regenfälle des Tages in der Grafschaft und im südlichen Nordrhein-Westfalen suchten ihren Ablauf über das Ahrtal. Eine sehr heftige Strömung brachte Totholz, ausgerissene Bäume, Wohnwagen, Autos, Gastanks, Mülltonnen, Hausrat bis hin zu ganzen Häusern in Bewegung und bei immer höher steigenden Wassermassen auch zum Stauen vor Brücken und weiteren Hindernissen auf ihrem Weg zum Rhein. Und nicht nur die Ahr wurde von der Mücke zum Elefanten.

Der Weinbau erlitt unfassbaren Schaden

Von insgesamt 560 Hektar (ha) Weinbaufläche unseres Anbaugebietes waren ca. 60 ha in der Flachlage neben dem Ahrlauf betroffen. Da Wurzelwerk und Drahtrahmen der strudelnden Strömung jedoch gut standhalten konnten, waren anschließend 25 ha dieser Flächen total geschädigt. Hohe Schäden richtete die Flut auch bei Wirtschafts- und Wohngebäuden der Winzerinnen und Winzer an. 60 von insgesamt 65 Weingütern und Genossenschaften im Ahrtal waren betroffen. Neben Fässern, Flaschen und Geräten der Keller- und Außenwirtschaft wurde der Großteil der Weinvorräte von 2018, 2019 und 2020 in den Betrieben vernichtet. Die Schadenssumme bei Wein, Gebäuden und Maschinen wurde auf insgesamt 200 Millionen Euro geschätzt.

Retten, was zu retten ist – mit Mut und sehr viel Hilfe

Umso wichtiger wurde es, die Ernte der nicht betroffenen Steillagen für den Jahrgang 2022 zu retten, um den Fortbestand des Ahr-Anbaugebietes zu sichern und keine Lücke in der langen Historie der Ahrweinjahrgänge zu bilden. Es war überlebenswichtig für jede einzelne Winzerin und jeden einzelnen Winzer, durch die Flut nicht auch noch Kundinnen und Kunden zu verlieren. Schnell musste der Hubschraubereinsatz organisiert werden, der mit den noch ausstehenden Pflanzenschutzspritzungen wesentlich zum Erfolg der Weinlese beitrug. Die zerstörte Infrastruktur, die blockierten Wege und Zufahrten zu den Flächen, die zerstörten Geräte und Maschinen und die eigenen Baustellen in den Betrieben ließen eine eigenhändige Spritzung durch die Winzerinnen und Winzer nicht zu.

Die Weinlese für den 2022er Jahrgang begann insgesamt später, es wurde fast kein Frühburgunder geerntet und sie fiel kleiner aus als für den 2021er Ahrwein. Die geschädigten Flächen am Ahrlauf fielen der sogenannten „Grünen Lese“ zu. Alle Früchte wurden noch vor der Reife abgeschnitten und konnten nicht geerntet werden. Schlussendlich wurde „der Herbst“ mit viel gespendetem Gerät und noch mehr (Wo-) Manpower eingebracht.

Zuversicht für die Zukunft

Viele helfende Kolleginnen und Kollegen aus anderen Weinanbaugebieten und ebenso viele private Helferinnen und Helfer gaben uns das Gefühl, mit dem Geschehenen nicht alleine dazustehen. Nicht zuletzt dadurch ist die Zuversicht auf eine „normale“ Zukunft bei den Winzerinnen und Winzern an der Ahr gestärkt. Mehr als ein Jahr nach der Flutkatastrophe, müssen die Winzerinnen und Winzer auf ca. 10 ha Rebfläche verzichten, um dem Flussbett der Ahr mehr Platz einzuräumen und einen besseren Ablauf zu gewähren. Der Wiederaufbau der Betriebe wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Aber die erfahrene und gelebte Solidarität mit und an der Ahr ist hoffentlich das Einzige, das von der Katastrophe übrig bleibt. Undenkbar wäre ein Ahrtal ohne Reben, denn dann wäre auch jede Bahnverbindung oder Straße im Tal überflüssig.