Diffamierung und Diskriminierung jüdischer Fahrgäste in der Brohltalbahn im Jahr 1942

Stephan Pauly M.A. und Volkhard Stern

Ein zutiefst erschütterndes Dokument aus dem Giftschrank der jüngeren deutschen Geschichte befindet sich im Archiv der Interessengemeinschaft Brohltal-Schmalspureisenbahn e.V. (IBS). Es offenbart schonungslos den Umgang mit den weitgehend entrechteten jüdischen Bürgern des Deutschen Reiches in den Jahren des Nationalsozialismus. Das Schreiben vom 28. Januar 1942 stammt von Jakob Fülber, seines Zeichens von 1938 bis 1942 Kreisgeschäftsführer der NSDAP in Ahrweiler und Stellvertreter des Kreisleiters Dr. Peter Simmer. Es richtet sich mit perfiden Behauptungen zum Auftreten von Niederzissener Juden in den Zügen der Brohltalbahn an die Direktion der Brohltal-Eisenbahn Gesellschaft (BEG), mit der Erwartung, dass die jüdischen Fahrgäste zurechtgewiesen und ihnen generell nur das Allernötigste, nämlich Stehplätze, zugebilligt werden.

Zum Kontext: Nach Angaben des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen e.V. lebten 1925 insgesamt 73 Bürger jüdischen Glaubens in Niederzissen1). Die noch heute existierende ehemalige Synagoge, die vom Kultur- und Heimatverein Niederzissen e.V. als Gedenkstätte gepflegt und unterhalten wird, wurde am 9. und 10. November 1938 in Folge der Novemberpogrome, wie beinahe alle jüdischen Gebetshäuser Deutschlands geschändet. Eine Tat, die sich nahtlos in die nicht endend wollende Kette der Diskriminierungen deutscher Bürger jüdischen Glaubens seit der Machtergreifung Adolf Hitlers im Jahr 1933 einreihte. Begonnen hatte es mit Hetzpropaganda und dem Boykott jüdischer Geschäfte. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 setzte sich die offene Diskriminierung fort2). Nach Ende der Olympischen Spiele von 1936 verstärkte sich der Druck stetig und gipfelte vorläufig in dem vom 9. bis 10. November 1938 andauernden und auch als „Reichspogromnacht“ bezeichneten Gewaltausbruch, der perfide und geradezu generalstabsmäßig vorbereitet worden war. Diesem fielen in Deutschland tausende von Geschäften jüdischer Kaufleute zum Opfer, 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt, mehrere Hundert dort ermordet und 1.400 Synagogen durch einen entfesselten Mob zerstört und geschändet3). Spätestens jetzt waren die Juden fast aller Grundrechte beraubt.

Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wurde im Rahmen einer geheimen Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, vom 28. Dezember 1938 zu- nächst noch weiter gestattet, allerdings nicht von Schlaf- und Speisewagen4).

Wenig später fielen die letzten Schranken. Am 15. September 1941 trat eine von Reinhard Heydrich im Namen des Reichsministers des Innern unterzeichnete „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ in Kraft, die den Menschen jüdischen Glaubens das gut sichtbare Tragen des gelben „Judensterns“ an der Kleidung vorschrieb5). Dieser Schritt kann als Endpunkt der Entrechtung und Ausgrenzung und als Vorstufe zum letzten Schritt, der Deportation in Ghettos und Vernichtungslager, angesehen werden.

Die entrechtete Minderheit

Dazwischen lagen jedoch weitere Monaten mit immer schärferen Restriktionen: Die Verbote zum Führen und Halten von Pkw und Krafträdern, zum Bezug von Zeitungen und zum Kauf von Büchern, zum Halten von Haustieren und zum Betreten von Frisörgeschäften, zur Benutzung von Telefonzellen und Parkbänken sowie zum Besitz von Fahrrädern, Pelzen, Wollsachen, Schreibmaschinen, Rundfunk- und optischen Geräten seien nur exemplarisch genannt. In Verbindung mit starken Beschränkungen bei Arztbesuchen, Rechtsberatungen und Einkäufen sowie dem Verbot zum Besuch von Bibliotheken, Kinos, Theatern, Museen und Schwimmbädern machten all diese Maßnahmen aus der jüdischen Bevölkerung eine immer stärker gehetzte Minderheit, die sich in ihrer angestammten Heimat kaum noch auf die Straße traute6).

Situation brennglasartig beleuchtet

Das erwähnte Schreiben vom 28. Januar 1942 fällt in diesen Zeitraum und beleuchtet brennglasartig die Situation im Kreis Ahrweiler. Dazu ist zu erwähnen, dass bereits seit Oktober 1941 Deportationszüge aus Deutschland in Richtung Osten liefen; die systematische Massenvernichtung als dritte Phase der nationalsozialistischen „Judenpolitik“, zunächst noch als „natürliche Verminderung“ verharmlost, wurde auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 beschlossen7).

Schreiben vom 28. Januar 1942: Erschütterndes Dokument aus dem Giftschrank der jüngeren deutschen Geschichte

Mithin lief der Massenmord bereits auf Hochtouren, als das o.a. Schreiben an die Brohltalbahn verfasst wurde. Noch im Frühjahr 1942 wurde Juden der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Brohltalbahn fast gänzlich versagt:

Ein Erlass des Reichsinnenministers vom 16. Februar 1942 besagte, dass die Benutzung der Verkehrsmittel durch Juden „auf das äußerste zu beschränken sei“8). Am 24. März 1942 schließlich wurde die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Juden noch weiter eingeschränkt. Sie bedurften auch im Ortsverkehr einer schriftlichen Erlaubnis der Polizei.

Diese Erlaubnis wurde nur erteilt bei einem Arbeitseinsatz, und zwar wenn die Arbeitsstätte von der Wohnung mehr als 7 km entfernt war (bzw. bei Schülern, wenn der Weg zur Schule mehr als 5 km betrug)9). Bereits zuvor mussten sie „Ariern“ auf Bahnstationen den Vortritt lassen und bei Überfüllung zurückbleiben. Das Schreiben aus Ahrweiler „passt“ sehr genau in dieses Umfeld. Sein geradezu sarkastischer Unterton spricht für sich und entbehrt der Notwendigkeit jeden weiteren Kommentars.

Sammellager Brohl

Wiederum kurze Zeit später begann die Deportation der jüdischen Bürger aus dem Kreis Ahrweiler: Die unter 65-jährigen Juden wurden ab dem 26. April 1942 deportiert, die über 65-jährigen ab dem 22. Juli 194210). Zunächst noch in fahrplanmäßigen Zügen in das „Sammellager Brohl“ auf Schloss Brohleck verbracht (andere Zeitzeugen berichten, dass sich ein Teil des Sammellagers in einem Brohler Lokschuppen befunden haben soll)11), mussten die Menschen diese letzte Reise ohne Wiederkehr ab Sommer 1942 mit Sonderzügen der Reichsbahn antreten, für die zynischer Weise zwischen der Abteilung 4a des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA) unter der Mitwirkung Adolf Eichmanns und der Direktion der Deutschen Reichsbahn Gesellschaft (DRG) ein kilometergestaffelter Fahrpreis „einfacher Fahrt“ ohne Rückfahrt (!) abgerechnet wurde.

Perfide Behauptungen zum Auftreten von Nie- derzissener Juden in den Zügen der Brohltalbahn: Bahnhof Niederzissen

Nach Niederzissen kehrte keiner zurück

Nach Niederzissen kehrte keiner der Deportierten zurück. Die Spur fast aller Juden aus dem Kreisgebiet verliert sich ab dem Sommer 1942 „im Dunkel des Holocaust“12). Erst durch das im Jahr 1986 veröffentlichte Gedenkbuch des Bundesarchivs“ sowie der „Central Database of Shoah Victims“ der Gedenkstätte Yad Vashem, dem „World Holocaust Remembrance Center“ in Jerusalem sowie der 1987 vom Kreisarchiv des Landkreises Ahrweiler publizierten Liste der „Opfer des Holocaust“ des Kreises Ahrweiler kann das Schicksale einiger Juden aus dem Kreisgebiet bis zum Ort und Tag ihres gewaltsamen Sterbens dokumentiert werden.

Interessant ist die Reaktion der Brohltalbahn auf das Schreiben aus Ahrweiler. Ihr Direktor Hermann Hartmann nahm diese Funktion durchgehend von 1922 bis 1949 wahr. Weiterer Schriftverkehr aus dem Aktenbestand der BEG lässt erkennen, wie er sich in der damals sogenannten „Vertrauensratssitzung“ mit den Vertretern der betrieblichen „Gefolgschaft“ und auch in seinem Antwortschreiben an die NSDAP-Kreisleitung vom 18. Februar 1942 dreht und windet und ganz offenkundig sehr bemüht ist, den Anschuldigungen und Vorwürfen der NSDAP-Kreisleitung einerseits zu entgegnen, ohne sich auch selbst zu belasten oder den Mitarbeitern sowie dem Parteiapparat gegenüber illoyal zu wirken.

Der Tenor des Antwortschreibens an die Kreisleitung lautet dann auch, dass man trotz „genauer Untersuchung keine Unregelmäßigkeiten“ festgestellt habe. Andererseits tritt er nach innen mit einer gewissen Härte auf, um vor seinen Mitarbeitern eine Unnachgiebigkeit zu demonstrieren, die ganz sicher nicht seiner inneren Haltung entsprach.

Ein Problem war natürlich der auch unter Teilen der Belegschaft offen zu Tage getragene Antisemitismus und der unverblümte Judenhass. So soll ein langjähriger Triebwagenführer der BEG als sogenannter „Zellenleiter“ ein glühender Verehrer Adolf Hitlers gewesen sein, der seine Abneigung gegenüber den Juden offen vor sich her getragen habe und auch verschiedentlich denunziatorisch tätig gewesen sein soll. Vor ihm habe man sich „gehörig in Acht nehmen müssen“, um nicht selber größten Ärger zu bekommen. Er sei, wie die Rheinländer das heute noch gerne umgangssprachlich ausdrücken und dabei das Adjektiv „schwer“ anstelle des Wortes „bedeutungsvoll“ verwenden, „ein ganz schwerer Nazzi“ gewesen13).

Sicher Grund genug für Direktor Hartmann, innerhalb der Belegschaft angesichts des zu erwartenden Denunziantentums dem Wunsch der Kreisleitung nach Härte und Unnachgiebigkeit nachzukommen. Dass der Kreisleiter selbst „verschiedentlich festgestellt habe“, dass Juden noch immer entsprechend befördert würden, ist doch eher unwahrscheinlich. Vielmehr ist davon auszugehen, dass auch hier Denunzianten aus der Mitte der Belegschaft „tätig“ waren.

Insofern lässt uns das Schreiben heute fassungslos zurück; gleichzeitig mahnt es angesichts von populistischen und radikalisierenden Tendenzen in der Gegenwart, sich an die Ereignisse von vor acht Jahrzehnten zu erinnern und daraus zu lernen.

In den Jahren 1925 und 1935 beschaffte die Brohltalbahn insgesamt drei Triebwagen, mit denen der Personenverkehr im Brohltal bis 1961 abgewickelt wurde. Die Aufnahme gibt einen für diese Zeit typischen Personenzug der Brohltalbahn wieder, hier in Kempenich.

Anmerkungen:

  1. Vgl. Webseite https://www.ehem-synagoge-niederzissen.de/die- synagoge/
  2. Beate Meyer: „Ausgrenzung und Vernichtung der Deutschen Juden“; in: „Die Geschichte der Juden in Deutschland“, hrsg. von Arno Herzig und Cay Rademacher, Hamburg 2007, S. 201f.
  3. ebenda, S. 204f.
  4. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 18/14. Bl. 151 ff.
  5. Beate Meyer: „Ausgrenzung und Vernichtung der Deutschen Juden“; in: „Die Geschichte der Juden in Deutschland“, hrsg. von Arno Herzig und Cay Rademacher, Hamburg 2007, S. 205.
  6. siehe dazu auch: Frank Bajohr: „,Arisierung’ und wirtschaftliche Existenzvernichtung in der NS-Zeit“; in: „Die Geschichte der Juden in Deutschland“, hrsg. von Arno Herzig und Cay Rademacher, Hamburg 2007, S. 224 ff.
  7. Klaus Hildebrand: „Das Dritte Reich“, in „Oldenbourg – Grundriss der Geschichte“, hrsg. von J. Bleicken, L. Gall, H. Jakobs und J. Kunisch, Band 17, München und Wien 1980, 2. Aufl., S. 82 ff und „Fragen an die Deutsche Geschichte – Ideen, Kräfte, Entscheidungen von 1800 bis zur Gegenwart“, Ausstellungskatalog, hrsg. vom Deutschen Bundestag, 12. Aufl., Bonn 1986, S. 317.
  8. http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1942/februar.html
  9. http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1942/maerz.html
  10. Rudolf Menacher: „Unbekannt wohin verzogen“ – Die Deportationen der Juden aus dem Kreis Ahrweiler 1942, in: Heimatjahrbuch des Kreis Ahrweiler 2017, S. 148-154 und Rudolf Menacher und Hans-Ulrich Reiffen: „Weihrauch und Knoblauch – Juden und Christen in Sinzig 1914 – 1992“, Bonn 1996, S. 171. ebenda, S. 172. Zynischerweise wurden die Deportationen im offiziellen Sprachgebrauch und Verwaltungsjargon als „Auswanderung“ verbrämt. Eine andere Form der sprachlichen Bagatellisierung der Deportationen und der industriellen Vernichtung menschlichen Lebens bestand in dem amtlichen und an boshafter Ironie kaum zu überbietenden Vermerk: „Unbekannt verzogen“.
  11. So äußerten sich zwei Zeitzeugen und langjährige Eisenbahner des Betriebsdienstes aus dem Kreis der Belegschaft der BEG mehrfach in längeren Gesprächen gegenüber einem der Autoren (Stephan Pauly).