Die Steine des Heiligen Antonius

Eine mittelalterliche Erzählung mit historischem Hintergrund zwischen Rheineck, Sinzig, Wolfsschlucht und Krayer Hof

Hans-Jürgen Jansen

Man schrieb das Jahr 1381, als der Kölner Erzbischof, Friedrich von Saarwerden, alle Edlen des Landes in die Godesburg zu einem Hoffest eingeladen hatte. Dort kam es zwischen Johann VI. von Rheineck und dem Ritter Rollmann von Sinzig zu einem heftigen Streit, in dem Johann den Rollmann bezichtigte, sich seiner Ehefrau Irmtraud unsittlich genähert zu haben. Dieses frevelhafte Geschehen habe sich zugetragen, als sich Johann, dem Aufruf des Papstes Clemens folgend, mit Kaiser Karl IV. auf dem Kreuzzug gegen die Türken befand. Johann erstach in blindem Jähzorn den Nebenbuhler, worauf der Erzbischof ihn festnehmen und ins Verlies der Godesburg werfen ließ. Am folgenden Morgen hielt der Erzbischof Gericht über ihn, befand Johann ob der ruchlosen Tat für schuldig und verurteilte ihn zum Tod durch Enthauptung. Die Hinrichtung fand kurz darauf statt.

Johanns Ehefrau, Irmtraud von Rheineck, geb. von Salm, erhielt von den schrecklichen Ereignissen erst einen Tag später Kunde. Der Knappe des Ritters Jakob von Kray überbrachte ihr die verstörende Nachricht. Sie war daraufhin unfähig, ihre Haltung zu bewahren und schloss sich in ihren Gemächern ein. Erst als der Ritter Jakob von Kray sich bei ihr anmelden ließ, fand sie die Kraft, ihn zu empfangen und mit ihm zu sprechen. Der Ritter, ein bereits betagter Edelmann, schilderte ihr die genauen Abläufe des Vortags, sprach ihr sein aufrichtiges Beileid aus und wollte ihr Mut spenden. Zudem überbrachte er eine Botschaft vom Erzbischof. Dieser hatte nämlich die Burg und die damit verbundenen Lehen bereits an Heinrich IV. und dessen Ehefrau Irmwingis, geb. von Tomberg, übertragen. Irmtraud wurde aufgefordert, die Burg Rheineck baldmöglich zu verlassen.

Der Krayer Hof in der Nähe von Maria Laach (2021)

Ritter Jakob von Kray bot ihr angesichts ihrer verzweifelten Lage an, sich auf Burg Kray für die nächste Zeit einzurichten. Er war seit langem verwitwet. Jemand, der sich ein wenig mehr um seinen Haushalt kümmerte, wäre sowieso nötig. Irmtraud ihrerseits nahm dieses Angebot gerne an, denn sie war gerade vor ein paar Tagen von einer Amme über ihre Schwangerschaft in Kenntnis gesetzt worden. Eine sichere Unterkunft kam ihr sehr entgegen, noch dazu auf Burg Kray. Diese Burg war ihr bekannt und geläufig, da sie oft mit ihrem Mann bei Ritter Jakob zu Besuch verweilt hatte.

Irmtraud verlässt Burg Rheineck

Der Abschied von Burg Rheineck fiel Irmtraud dennoch schwer. Sie war dort glücklich gewesen, auch wenn sie als junge lebensfrohe Frau oft allein blieb. Jetzt musste sie alles hinter sich lassen. Es waren nur die wenigen persönlichen Dinge, die sie in einer kleinen Truhe unterbringen konnte. Das waren ihr Geschmeide und ihr Schmuck, wozu einige echte, sehr kostbare Edelsteine gehörten. Diese nähte sie kunstfertig in die Säume ihrer Roben und Kleider. Ihr Gold ließ sie einschmelzen und zu kleinen unförmigen Klumpen formen, die alsdann in verschiedenen graueißen Farbtönen bemalt wurden, so dass sie aussahen wie kleine Kieselsteine, die nicht weiter auffielen. So ausgerüstet, bezog sie ihre Wohnstatt auf dem Krayer Hof.

Lag die Burg Rheineck malerisch auf einer Felskuppe hoch über dem Rhein, so kann die Burg Kray als das genaue Gegenteil gelten. Umgeben von blühenden Wiesen und Weiden war diese romantische Burg nahe dem Laacher See in einer Niederung gelegen. Einerseits von einem Wassergraben umgeben, wurde der Burghof auf der süd-östlichen Seite zusätzlich durch eine hohe und breite Schutzmauer mit einer kleinen Pforte gesichert. Auf der gegenüberliegenden Seite gewährte eine Zugbrücke Zugang zur Burg. Das Hauptgebäude war ein zweigeschossiger nahezu quadratischer Bau, an dessen südwestlicher Ecke der Torturm angeschlossen war. Dicke Mauern mit Schießcharten bezeugten, dass die Burg für ihre Verteidigung gut gerüstet war.

„Irmtraud bezog ihre Wohnstatt auf dem Krayer Hof.“ Zeichnung von Roxana Khazdouzian

Im Obergeschoss mit Blick auf die Weiden, die sich bis zum Horizont ausdehnten, hatte Irmtraud einen der Räume bezogen und dort dem Umstand der zeitlich kurzfristigen Umsiedlung geschuldet, eine ihr angemessene komfortable Unterkunft gefunden. Sie war ihrem Gönner dankbar und bewies dies durch tatkräftige Mitarbeit in dessen Haushalt.

Pietà in Wolfsschlucht des Brohltals gefunden

Die Hirten aus den umliegenden Ortschaften, die die weiten Graslandschaften mit ihren Schafen und Ziegen nutzten, wurden nicht selten von Irmtraud bewirtet, wenn sie in der Nähe der Burg Rast machten. Sie hatte im Laufe der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen aufgebaut, so dass es nicht sonderlich verwunderte, als eines Abends einige von ihnen um Einlass in die Burg baten. Sie berichteten aufgeregt von einer Pietà, die sie in der Wolfsschlucht des Brohltals gefunden hätten. Sie waren in der herannahenden Dämmerung durch ein ungewöhnliches Leuchten in einem Dornbusch auf diese aufmerksam geworden. Einer von ihnen habe es gewagt, sich dem Leuchten zu nähern und beobachtet, dass dort ein Bildnis der schmerzhaften Mutter Gottes Maria mit dem in ihrem Schoß liegenden Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus stünde. Vor ihnen, so schilderte er erregt, haben die beiden Heiligen Antonius und Wendelin gekniet.

Irmtraud war mehr als überrascht und hätte gerne die Hirten zu dem angegebenen Ort in der Wolfsschlucht begleitet, aber wegen ihrer bald zu erwartenden Niederkunft – sie befand sich im neunten Monat ihrer Schwangerschaft – bat sie die Hirten, die Pietà zu ihr in die Krayer Burg zu bringen. Man würde dann gemeinsam entscheiden, wie weiter vorgegangen werden sollte.

Und so geschah es. Das Bildnis war wunderschön und niemand vermochte zu deuten, wie es wohl in den Dornbusch gelangt war und was damit beabsichtigt sein könnte. Keiner wagte es auszusprechen, aber in ihren Herzen breiteten sich wundersame Gedanken und Gefühle aus, die die Anwesenden an so etwas, wie an ein Mysterium glauben ließen.

In der oberen Etage des Torturms schaffte man Platz, um dort die Pietà, eingehüllt in schützende Tücher, unterzustellen. Irmtraud hatte vorgeschlagen, sich am nächsten Tag an ihren Freund Wigand von Panau, Abt des nahegelegenen Benediktiner-Klosters Maria Laach, zu wenden, um dessen Rat einzuholen. Denn, wo würde wohl besser in dieser Angelegenheit eine Empfehlung ausgesprochen, als in einem Gotteshaus, das der heiligen Mutter Gottes gewidmet war?

Einer ihrer Diener brach schon früh morgens nach Maria Laach auf und kam mittags mit dem Abt Wigand und seinem Klosterbruder, dem Mönch Thomas von Geisbusch, zurück. Irmtraud verfügte einem Diener, die Pietà herunterzubringen, um sie dem Abt zu zeigen. Kurze Zeit später stürzte dieser aufgeregt und fassungslos in den großen Wohnraum und stammelte, die Pietà sei nicht mehr an ihrem Platz.

Große Betroffenheit breitete sich unter den Anwesenden aus und zunächst herrschte atemlose Stille. Der Abt fand als erster die Fassung und beauftragte den Mönch Thomas damit, den Fundort der Pietà aufzusuchen und dort nach möglichen Hinweisen zum Verbleib des Bildnisses zu suchen.

Wie erstaunt waren die im Krayer Hof Wartenden, als der Mönch mit einigen der Hirten zurückkam und die Pietà stolz präsentierte. Genau dort, wo sie einen Tag zuvor im Dornbusch durch ein Leuchten auf sich aufmerksam gemacht hatte, genau dort wurde sie wieder vorgefunden. Gerührt und ergriffen sah man nun die beiden Kirchenmänner beim Anblick der Pietà. Nachdem sie sich mehrfach bekreuzigt hatten, gingen die beteiligten Personen im großen Wohnraum der Burg daran, über das weitere Vorgehen zu beraten. Abt Wigand war verständlicherweise daran gelegen, einem solchen Schatz in seiner Klosterkirche in Maria Laach den gebührenden Platz einzurichten. Das war auch für alle anderen einsehbar und so wurde die Pietà an einen sicheren Ort im Benediktiner-Kloster verbracht.

Doch auch dort war sie am folgenden Morgen auf unerklärliche Weise verschwunden. Diesmal machte sich der Abt persönlich auf, die Pietà wieder zu beschaffen. Er glaubte fest daran, sie an ihrem ursprünglichen Ort anzutreffen. Und so war es auch.

Die beiden Kirchenmänner Abt Wigand und Mönch Thomas waren sich einig. Die Pietà sollte wohl nach dem Wunsche einer höheren Macht genau an diesem Orte in der Wolfsschlucht ein ihr angemessenes und würdiges Heim erhalten. Man entschloss sich, eine Kapelle zu errichten. In dieser sollte die Pietà eine der Gottesmutter, St. Antonius und St. Wendelinus geweihte Heimstatt finden. Irmtraud, die ihre Dankbarkeit gegenüber ihrem weltlichen Gastgeber und Gönner für eine sichere Unterkunft auf Burg Kray und ihrem himmlischen Herrn für seine ihr verliehene Glaubenskraft bezeugen wollte, spendete ihre Edelsteine und die wie Kieselsteine aussehenden Goldstücke zum Bau der Kapelle. Dies führte zur Namensgebung der am 17. Januar 1390, am Festtag des heiligen Antonius eingeweihten Tönnissteiner Kapelle. Aus dem Namen Antonius bildete sich durch die Mundart „Tönnis“ und aus der Edelstein – und Kieselsteinspende Irmtrauds der Name Tönnis„steiner“ Kapelle.