„Die schöne Wohnung, alles kaputt“

Schockierende Eindrücke eines Vermieters und zweier Mieter in der Flut- nacht und am Tag danach – Wohnungen in Mittelstraße und Unterstraße von Bad Neuenahr massiv beschädigt

Hans-Jürgen Jansen

Der Damm zerreißt, das Feld erbraust. Die Fluten spülen, die Fläche saust.
„Ich trage dich, Mutter, durch die Flut. Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.“

So beginnt das zum Andenken an die siebzehnjährige Heldin Johanna Sebus verfasste balladenhafte Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe. Das junge Mädchen ertrank beim Eisgang des Rheins, als der Damm bei Kleve 1809 den Fluten nicht standhalten konnte und brach. Sie half ihrer Mutter und anderen Nachbarn, rettete sie aus den Fluten, und ließ dabei ihr junges Leben.

„Ein grausames Bild, zerstörte und in der Gegend herum liegende Autos, teilweise auf einander getürmt.“ – Bad Neuenahr, Platz an der Linde, am 16. Juli 2021 um die Mittagszeit.

An dieses Gedicht fühle ich mich erinnert, als ich mir über die Ausmaße der Flutkatastrophe im schönen Ahrtal hautnah ein Bild machen konnte.

Früh am Morgen des 15. Juli 2021 ruft mich meine Mieterin aus der Mittelstraße in Bad Neuenahr auf meinem Handy an. Mit bebender Stimme berichtet sie, ihre Wohnung stehe unter Wasser, sie besitze nur noch das, was sie anhabe, ihr Auto in der Tiefgarage sei „abgesoffen“ und sie werde zurzeit mit ihrem Sohn evakuiert. Schon am Morgen des 14. Juli 2021 gab es zwar Warnungen vor Starkregen, aber wirklich niemand hätte sich jemals vorstellen können, was sich durch die nicht enden wollenden Regenfälle in den Folgestunden ereignen würde. Gegen 11:30 Uhr wurde für das Einzugsgebiet der Ahr Hochwassergefährdung ausgerufen, aber dies war den Menschen in den Häusern nicht bekannt. Und wir hier, in der Oberen Grafschaft, wir hatten zwar auch unsere Befürchtungen hinsichtlich Starkregens, so wie wir ihn 2016 erlebt haben, als viele Keller vollliefen und er große Schäden anrichtete, aber das, was da unten im Ahrtal geschehen ist, davon machte sich hier oben keiner auch nur eine Vorstellung.

„Wat solle mer bloß maache!?“

Sie sitze gerade in einem Feuerwehrfahrzeug, berichtet meine Mieterin, und werde in eine Notunterkunft gebracht. Während sie spricht, kommt es bei ihr immer wieder zu Weinkrämpfen: „Ich habe alles verloren. Die schöne Wohnung, alles kaputt. Um uns herum schwimmen Autos mit blinkendem Warnlicht – überall Wasser. Leon (das ist ihr halbwüchsiger Sohn) hat schreckliche Angst – er spricht nicht mehr. Er starrt nur noch in die Gegend. Herr Jansen, wat solle mer bloß maache!?“

Ich bin sprachlos, überlege fieberhaft, wie ich helfen könnte. Fast wie außerhalb meiner selbst höre ich mich automatisch sagen: „Es wird alles gut. Behalten Sie die Nerven. Wichtig ist, dass Sie in Sicherheit gebracht werden. Um die Wohnung werde ich mich schon kümmern.“ Meine Gedanken eilen mir schon voraus und sind unterwegs nach Bad Neuenahr. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung davon, dass ein Überqueren der Ahr mit dem Auto in Bad Neuenahr für Wochen nur eingeschränkt möglich sein würde und jetzt zunächst für Tage überhaupt nicht. Und den mir bevorstehenden beschwerlichen und belastenden Weg hatte ich nicht in meine Überlegungen einkalkuliert.

Die Ahr-Arkaden in Bad Neuenahr zwei Tage nach der Flut

Wie unter Schock ziehe ich mich an, weiß immer noch nicht, was ich eigentlich tun soll. Ich rechne aus: Etwa 15 Minuten bis zur Mittelstraße, was wird mich dort erwarten? Was soll ich eventuell mitnehmen, überlege ich fieberhaft. Wo wird noch evakuiert?

Da wird mir so langsam bewusst, dass das Szenario in der Mittelstraße auch die umliegenden Straßen und die andere Ahrseite betreffen müsste. „Oh, Gott!“, sage ich zu mir selbst. Ich will gerade ins Auto steigen, da schellt wieder mein Handy. Viel zu laut schrillt der Klingelton in den frühen Morgen hinein. Es klingt jetzt wie ein Hilferuf. Ich drücke schnellstens die Annahme. Es ist der Mieter aus der Unterstraße. Er befinde sich in einem Haus auf der Hochstraße in Bad Neuenahr, kann ich gerade so aus dem Lärm im Hintergrund heraushören. Auch er, ein älterer Herr, ist evakuiert worden und musste alles zurücklassen. Er benutze das Handy eines anderen Evakuierten, sagt er mit zittriger Stimme, er selbst besitze keines und hätte nicht mehr mit seinem Festnetz-Telefon telefonieren können, „dat litt jetz em Wasser“, stößt er hervor. Er bittet mich, seine Enkelin, eine Nachbarin von mir, im Laufe des Tages zu kontaktieren und ihr zu sagen, es gehe ihm gut. Er selbst wolle sie nicht anrufen, nicht in dem jetzigen Zustand und nicht zu so früher Stunde. Seine Wohnung sei hinüber – unbewohnbar. Seine Möbel, seine Unterlagen, einfach alles ist weg … und die vielen Menschen, die jetzt keine Bleibe mehr haben, fügt er schluchzend hinzu.

Nachdem die Wohnungen entkernt worden waren, mussten sie monatelang getrocknet werden. – Bad Neuenahr, Unterstraße 2, am 20. September 2021

Ununterbrochenes Sirenengeheul, gleißendes Blaulicht

Ich verspreche, alles zu tun, um ihm irgendwie zu helfen und weiß nicht wie. Natürlich würde ich seine Nichte im Laufe des Tages anrufen, sage ich noch, indem ich ins Auto steige. Die Ruf-Nummer habe ich in seiner Akte hinterlegt. Als er sie mir für Notfälle vor Jahren gab, habe ich mir nichts dabei gedacht, jedenfalls nicht, dass ich sie jemals gebrauchen würde – zumindest nicht in solch einer Situation.

Dann fahre ich los. Auf meinem Weg dröhnt ein fast ununterbrochenes Sirenengeheul von Polizei oder Rettungsfahrzeugen an mein Ohr. Das gleißende Blaulicht trifft von allen Seiten auf meine Augen und blendet oftmals. Unten am Kreisel erwarten mich Szenen und Bilder, die mich Schreckliches erahnen lassen. Feuerwehr, Polizei und gestrandete Fahrzeuge. Alles voll Schlamm. Ich komme hier nicht weiter, parke meinen Wagen am Straßenrand, irgendwo nahe der Heerstraße und mache mich zu Fuß auf, weiter in die Stadt. Dass ich mir besser geeigneteres Schuhzeug hätte anziehen sollen, wird mir jetzt erst klar, als ich durch den Schlamm stapfe, den die Fluten der über viele Meter angewachsenen Ahr in die Straßen gespült haben. Ich bin schon bis zu den Knöcheln voller nassem Schlamm. Was ich sehe, lässt mich erschauern.

Durch dicken braunen Schlamm waten

Erschüttert von den sich mir bietenden Bildern einer zerstörten Stadt, nicht achtend auf meine nassen Füße und die durch Schlamm und Dreck schwer gewordenen Beine, wate ich durch dicken braunen Schlamm. Mir bietet sich ein grausames Bild, nur zerstörte und in der Gegend herum liegende Autos, teilweise auf einander getürmt, oder auf dem Rücken liegend wie riesige tote Insekten, zerborstene Glasscheiben der Läden rechts und links, die Straßen voller Schutt im tiefen schmutzigen Schlamm. Ich schaffe es bis zur Ahr. Da, wo einmal die Brücke von der evangelischen Martin-Luther- Kirche herüber zum Steigenberger-Hotel führte, nur noch totale Zerstörung. Das Rauschen der immer noch tobenden, gejagt dahinrasenden, übervollen Ahr, die auf das mehrfache ihrer sonstigen Breite angewachsen ist, tönt mir noch heute in den Ohren. Wo ist die Brücke geblieben? Ich mache sie – umspült von den Wogen der Ahr – unterhalb des Spielkasinos aus. Welche Kraft hat dies vermocht?

Weiter kann ich nicht gehen. Erst jetzt bemerke ich eine gewisse Furcht in mir aufsteigen, mir wird mehr als deutlich, was die Naturkräfte hier bewirkt haben. Ich bin tief erschüttert und bewegt, ich möchte hier weg, das ist einfach zuviel für mich, kaum zum Aushalten. Die anderen Menschen um mich herum, die Feuerwehrleute oder auch die Bewohner der Häuser, sehe ich nur schemenhaft. Ich wende mich ab. We- der die Telegrafenstraße, noch die Lindenstraße sind passierbar. Es war schon sehr schwer durch die Poststraße vorwärts zu kommen, aber durch diese muss ich jetzt wieder zurück. Mir wird so langsam klar, dass ich meinen Mietern auf der anderen Ahrseite ad hoc nicht helfen kann. Ein beklemmendes Gefühl, das noch verstärkt wird, durch die in meinem Kopf auftauchenden Bilder von den vielen Betroffenen.

Mieter im Mai 2022 immer noch anderweitig untergebracht

Bedauerlicherweise muss ich im Mai des Folgejahres, also fast ein Jahr nach der Flut- und Hochwasserkatastrophe berichten, dass zwar vieles aufgeräumt werden konnte, einiges wieder hergestellt wurde, aber die Folgen des unglückseligen Naturereignisses höchstens ansatzweise als „angegangen“ bezeichnet werden können. Es wird noch eine lange Zeit, bestimmt Jahre, dauern bis man von „überwunden“ sprechen kann.

So sind meine traumatisierten Mieter immer noch anderweitig untergebracht beziehungsweise aus Bad Neuenahr fortgezogen, weil sie mit dem erlittenen Leid und der ständigen Nähe zu den Verwüstungen nicht zurechtkamen. Lediglich die Mutter mit ihrem Sohn fristet ein bescheidenes Dasein in ihrer Behelfsunterkunft und wartet dort darauf, dass ihre alte Wohnung baldmöglichst wiederhergestellt wird. Wehmütig schwärmt sie, wie wohl sie sich in ihrer Wohnung gefühlt habe und wie sehr sie sich wünschte, dieses Wohlbehagen baldigst wieder zu erlangen. Ihr Sohn, der auf eine nahegelegene Schule geht, stellt täglich die Frage nach der Rückkehr in die alte schöne Wohnung.

Ich stehe mit dieser Mieterin in ständiger Verbindung und unterrichte sie über den jeweiligen Fortschritt. Nur – da tat sich bis heute nicht viel. Nachdem die Wohnungen entkernt worden waren, mussten sie monatelang getrocknet werden. Meine Mieterin fuhr des Öfteren zu ihrer früheren Wohnung, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Dann ruft Sie an und klagt: „Herr Jansen, da stehen immer noch die Trockner!“

Auch ich mache mir immer wieder ein Bild von der Lage. Zwischenzeitlich wurden neue Heizungen eingebaut oder die Häuser an die Fernwärme angeschlossen. Die externen Heizungsanlagen konnten abgeschaltet werden. Die Aufzüge wurden erneuert und die Strom- und Wasserversorgung funktioniert in den meisten Häusern wieder. Keller und Tiefgaragen sind aber bis heute nicht nutzbar. Die Eingangstüren und Treppenhäuser mit den Briefkästen bieten bis heute das gleiche desolate Bild wie nach der Flut.

Da das Haus, in dem sich die Wohnung meiner Mieterin befindet, elementarversichert ist, fanden sich im Mai 2022 Fachleute der Versicherung mit Sachverständigen dort ein. Die Besichtigungen und Schätzungen ziehen sich leider aber sehr in die Länge. Es gibt nirgends eine Auskunft über den Stand der Dinge. Erst vor ein paar Tagen kam die Nachricht vom Verwalter, dass eine Firma gefunden werden konnte, die sich der Wiederherstellung der Wohnungen im Erdgeschoss widmen wird. Zuvor müssen aber noch viele Dinge geklärt werden. Als vermietender Eigentümer muss ich den Zustand der Wohnung vor ihrem Untergang nicht nur beschreiben, sondern auch belegen, möglichst mit Fotos.

Meine Mieterin war überglücklich, als ich ihr mitteilen konnte, dass eventuell mit der Widerherstellung ihrer Wohnung, also mit dem Wiedereinzug Ende des Jahres gerechnet werden kann. Um dies zu gewährleisten, darf aber auch nichts dazwischenkommen.