Das Leben lügt nicht

Der aus Ahrweiler stammende Regisseur Anno Saul über seine Arbeit und seine Heimat

Gregor Schürer

1983 machte er am Peter-Jorres-Gymnasium in Bad Neuenahr sein Abitur: Anno Saul, der schon als Zwölfjähriger beschloss, Regisseur zu werden. Mittlerweile lebt er in Berlin und gehört zur ersten Garde der deutschen Filmemacher. Der 57-Jährige gab für das Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler ein ausführliches Interview.

Oft liest man über Sie: Das Thema des Erwachsenwerdens findet sich in vielen Arbeiten des Spielfilm- und TV-Regisseurs Anno Saul. Sehen Sie das selbst auch so?

Ich denke, das bezieht sich eher auf den ersten Fernsehfilm „Und morgen fängt das Leben an“, den ich in der Eifel gedreht habe und den ersten Kinofilm „Grüne Wüste“. Heute drehe ich historische Serien, aktuelle Dramen, Krimis, alle Genres. Und das, was sich durchzieht, ist ein ganz tiefes Interesse an Menschen, die etwas schwieriger, eckiger, schräger, lauter, leiser, bunter, unglücklicher, widersprüchlicher sind. Ich versuche, die Menschen wahrhaftig, vielfältig und genau zu zeichnen und sie dabei so wenig wie möglich zu bewerten. Die Bewertung überlasse ich dem Zuschauer. Bei mir darf erst mal jeder sein, wie er ist.

Gibt es einen Film oder eine Serie, auf den bzw. die Sie besonders stolz sind?

Ja, gibt es. Es ist die „Charité 2“, die am Ende des Zweiten Weltkriegs spielt. Da erzählen wir den Untergang von Nazideutschland bis zur Stunde null. Und was diese Zeit des radikalen Umbruchs, Krieges, Untergangs einer Diktatur mit den Menschen macht, wie sie sich positionieren, bedrohen, helfen, am Überleben halten: das zu erzählen hat in seiner Komplexität schon sehr große Freude gemacht.

Und gibt es etwas, das Sie gar nicht mehr oder anders drehen würden?

Nein. Das Leben lügt nicht. Ich versuche einfach nur, die verbleibende Zeit meiner Laufbahn für Geschichten zu nutzen, die mir besonders am Herzen liegen.

Anno Saul, „Charité 2“

Der Junge aus der Elligstraße will zum Film

Wollten Sie „schon immer“ Regisseur werden?

Ja. Schon als Kind. Ich habe als 12-Jähriger im Fernsehen die Mark-Twain-Verfilmung „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ gesehen und wollte in diese Welt eintauchen. Aber ich wusste schon damals, dass die so nicht mehr existiert und eben „Film“ ist. Also wollte ich – in aller Naivität – zum Film.

Weshalb haben Sie erst Philosophie studiert?

Weil „zum Film Gehen“ für einen Ahrweiler Jong nicht so einfach war. Von der Elligstraße kommend war das ungefähr so wahrscheinlich wie Astronaut zu werden. Deshalb brauchte ich zunächst einen Plan B. Und da dachte ich: Philosophie ist die Grundlagenwissenschaft aller Wissenschaften – das ist mal kein schlechter Start.

Die Liste der Filmstars, mit denen Sie gedreht haben, ist beeindruckend. Neben dem who is who der deutschen Branche finden sich auch internationale Stars darunter. Wie sind die Stars im Umgang?

Die Stars sind die am wenigsten Eitlen von allen. Was alle wirklichen Stars verbindet (Mads Mikkelsen, Ulli Noethen, Martina Gedeck, Jessica Schwarz, Nora Tschirner, Jürgen Vogel, Claudia Eisinger, Mala Emde, Heike Makatsch, Thomas Thieme, Robert Atzorn u.v.a.): Sie alle sind hart arbeitende, hervorragend vorbereitete, interessierte und hoch kooperative Schauspielerinnen und Schauspieler, die den besten Film wollen.

„München Mord“, „Nord, Nord, Mord“, „Neben der Spur“, „Der Kommissar und das Meer“ – Sie haben schon zahlreiche Krimis gedreht. Sind Sie nicht krimimüde wie manche Zuschauer?

Das bin ich auch. Aber Krimis werden von den Sendeanstalten in Auftrag gegeben, weil sie die höchsten Einschaltquoten generieren. Deshalb versuchte ich oft, den Krimi um ein gesellschaftliches oder psychologisches Thema zu bereichern. Z.B. haben wir bei „Eiserne Hochzeit“ erzählt, wie deformativ sich ein dunkles Familiengeheimnis auf spätere Generationen auswirkt. Und in „Wo bist Du Feigling!?“ haben wir einen Fall behandelt, in dem der Mörder einfach nicht überführt werden kann. Man muss versuchen, die Grenzen des Krimis zu sprengen.

Was fasziniert Sie, was die Zuschauer so sehr an Verbrechen?

Der Zuschauer will die Gerechtigkeit am Ende und ist fasziniert vom Blick in den Abgrund – aber natürlich nur vom sehr sicheren und gemütlichen Fernsehsessel aus.

Man darf Sie mit Fug und Recht als arrivierten Regisseur bezeichnen: Gab es einen Punkt in Ihrer Karriere, an dem Sie gedacht haben „Jetzt habe ich es geschafft“?

Nein. Ich habe bis heute nicht das Gefühl, es „geschafft“ zu haben. Ich habe noch sehr viel vor.

Bedeuten Ihnen Auszeichnungen/Preise etwas? Oder macht die Sehbeteiligung den Erfolg aus?

Im letzten Jahr gab es eine Emmy-Nominierung für die „Charité 2“. Das ist schon etwas ganz Besonderes. Preise sind wichtig, um Aufmerksamkeit zu generieren. Es geht ja auch immer um die Akquise des nächsten Projektes. Und wenn viele Menschen meine Filme sehen, dann freut mich das. Aber daran denke ich nicht beim Drehen.

Sie sind ja auch Drehbuchautor. Macht Ihnen das mehr Spaß als die Regiearbeit?

Ich schreibe deutlich seltener, als ich Regie führe. Schreiben ist einsam, und ich bin eher ein Teamplayer, von meinem Charakter her. Aber Schreiben ist manchmal wichtig, damit der Film so werden kann, wie ich ihn gut finde.

Wer oder was hat Sie am meisten beeinflusst in Ihrer Karriere? Gibt es Vorbilder, die Sie bewundern, Lieblingsregisseure oder -filme?

Oh ja. Es gab einerseits die Filmemacher, die ich bewundert habe: Fellini, Godard oder Scorsese. Und es gab andererseits die Filmemacher, deren Handwerk ich begreifen wollte: Claude Miller, Ettore Scola, Bernhard Wicki, Michelangelo Antonioni, Nikita Michalkov. Deren Filme habe ich wieder und wieder angeschaut, um zu begreifen, wie sie erzählen, vor allem emotional erzählen, ohne zu verkitschen. Das ist eine seltene Kunst.

Gibt es jemanden, mit dem Sie auf jeden Fall noch zusammenarbeiten wollen?

Ich würde sehr gerne einen Film mit Colin Firth machen. Er weiß nur leider nichts davon.

Vom Ahrtal nach Hollywood

Würde Sie eine Karriere in Hollywood reizen?

Nach dem Film „Die Tür“ mit Mads Mikkelsen war ich eine Zeitlang in Hollywood unterwegs und dort im Management von Susan Solomon vertreten. Aber alles, was mir angeboten wurde, waren eher Stoffe im Horrorgenre, und das interessierte mich nicht. Dann kamen Angebote aus Europa und ich bin wieder hier gelandet. Ich habe mich oft gefragt, ob das ein Fehler war. Aber ich glaube nicht. Übrigens traf ich in dieser Zeit so einige Menschen aus dem Ahrtal in Hollywood: Klaus Badelt, der damals noch bei Mediaventures komponierte und Paul Graeff, der mit seiner Frau Xina grade eine sehr renommierte Werkstatt für visuelle Effekte namens CHE aufgebaut hatte. Tolle Menschen.

Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der den Traum hat, Filme zu drehen?

Nimm eine Kamera und fange an, zu drehen. Zeige, was in Dir steckt. Heute, wo man kein Geld mehr für Filmmaterial braucht, ist das einzige Limit die eigene Phantasie. Jeder, der Geschichten der Welt erzählen will, kann es heute einfach tun.

Was war Ihr letzter Film, was ist das nächste Projekt?

Ich habe grade einen Film über die Corona-Pandemie gedreht. Es ist ein Einzelspiel für das ZDF. Wir hatten das Gefühl, dazu sollte etwas erzählt werden. Es war das erste Mal, dass mir ein Redakteur sagte: Die Quote spielt keine Rolle – wir verfilmen einfach nur dieses wunderbare Buch von Dorothee Schön. Kommt im Herbst. Davor wird die ARD meine Masurenfilme ausstrahlen: wunderschöne mystische Geschichten mit einer besonderen Hauptfigur, gespielt von der großartigen Claudia Eisinger. Von diesem Gesicht kann man einfach nicht den Blick lassen, so anders und einzigartig ist es. Und grade habe ich eine Thrillerserie für HBO und RTL Plus in Arbeit.

Hobbies, Familie und Heimat

Was machen Sie privat – gibt es ein Hobby, eine Leidenschaft?

Ich koche sehr gerne. Und ich interessiere mich für Architektur. Außerdem liebe ich das Theater, klassische Konzerte und Tanz und sammele zeitgenössische Kunst. Außerdem habe ich tolle Freundschaften, die ich pflege und meine Familie, die ich liebe und zu der ich regelmäßig Kontakt habe.

Claudia Eisinger (2.v.l.), Anno Saul, Sebastian Hülk, „Masurenkrimi 1“

Wo kommen die Ideen für Ihre Filme und Drehbücher her?

Aus der Welt. Meistens von hervorragenden Autorinnen und Autoren, manchmal aus mir: Es macht „Klick“ und dann ist da der Nukleus einer Idee. Da der Prozess von der Idee zum Buch zum Film langwierig ist, gehen viele Dinge auch wieder verloren, mitunter ganz wunderbare Geschichten, die dann nicht verfolgt oder finanziert werden.

Waren oder sind Sie coronageschädigt, also hatte die Pandemie konkrete Auswirkungen auf Ihre eigene Arbeit und Situation?

Nicht von der Menge her. Ich arbeite viel. Aber das Virus möchte ich nicht fangen. Wer weiß, wie viel Ärger es mir machen würde. Und Ärger können wir doch alle nicht gebrauchen.

Nun zu Lokalem? Gibt es noch Verbindungen zum Ahrtal, zu Verwandten, Freunden? Wie oft sind Sie hier und was machen sie dann?

Aber natürlich gibt es noch diese Verbindung. Meine Eltern leben am Kalvarienberg und die besuche ich mehrmals im Jahr. Mein Bruder, meine Schwester und ihre wunderbaren Familien leben in Bonn. Dann habe ich noch viele Menschen hier, denen ich tief verbunden bin: Der Familie Volkermann/Glöde vom Hohenzollern, Familie Stenz, Uthoff, Glöckner und viele mehr. Außerdem liebe ich die Wanderrouten, die zahlreichen kulinarischen Highlights incl. Steinheuers in Heppingen. Alle hohen Festtage werden im Ahrtal begangen. Auch wenn ich nicht hier wohne: Ahrweiler ist in meinem Herzen meine Heimat. Und das wird auch so bleiben.

Der Beitrag entstand im Frühsommer 2021.