10 Jahre Erinnerungs- und Begegnungsstätte Ehemalige Synagoge Niederzissen

Richard Keuler

„Now I have a family in Niederzissen“ (Nun habe ich eine Familie in Niederzissen). Mit diesen Worten schloss vor rund 10 Jahren, am 18. März 2012, Harvey Berger, der in San Diego (USA) lebende Enkel des letzten Vorstehers der einstigen jüdischen Gemeinde, seine Ansprache beim bewegenden Festakt zur Eröffnung der ehemaligen Synagoge als Erinnerungs- und Begegnungsstätte und berührte damit alle Anwesenden sehr. Gemeinsam mit seinem Freund Dr. Larry Friedman enthüllte er das von ihnen der Gemeinde geschenkte Bronzerelief „Holocaust – never again“. Ein ausführlicher Bericht über die Eröffnungsfeier erfolgte im Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 2013.

10 neue und gute Jahre im heute 180 Jahre alten Haus

Seither sind 10 Jahre vergangen, in denen sich gezeigt hat, wie mit Beharrlichkeit und gutem Konzept innerhalb weniger Jahre etwas scheinbar Unmögliches wahr werden kann. Auch deshalb stellte der Autor dieses Beitrags als damaliger Ortsbürgermeister zu Beginn der Eröffnungsfeier die Frage: „Wer hat das, was wir heute erleben, ernsthaft für möglich gehalten?“ Eine Frage, die symbolhaft die vergangenen 10 Jahre begleitete und nun beantwortet ist.

Die Entscheidungsträger der Gemeinde, die 2009, trotz heftigem Gegenwind und mit hilfreichem Druck eines erfolgreichen Bürgerbegehrens den Ankauf des Gebäudes beschlossen, sahen in dem vom Kultur- und Heimatverein Niederzissen erarbeiteten Konzept eine gute Basis. Deshalb vertrauten sie ihm und damit seinen Mitgliedern das Haus an, um es für die Gemeinde zu führen und zu nutzen. Dieses Vertrauen ist bis heute das gemeinsame Fundament.

Außenansicht der ehemaligen Synagoge

Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen

Hoffnungsvoll, aber auch mit klaren Vorstellungen, die ehemalige Synagoge zu einem Haus des Erinnerns und Gedenkens, der Begegnung und Kultur, des Lehrens und Lernens werden zu lassen, startete der Vorstand des Vereins nach der Eröffnung unverzüglich mit einem ersten Kulturprogramm, mit Konzerten, Lesungen, einer Kunstausstellung und der Herausgabe des Buches „Zeugnisse jüdischen Lebens in Niederzissen“. Es war ein zukunfts- und richtungsweisender Beginn. Bei allem spielte eine solide Bewirtschaftung mit kostendeckender Finanzierung eine entscheidende Rolle. Alle Wünsche und Erwartungen wurden mehr als erfüllt.

Dauerausstellungen und Jüdisches Museum

Mit der bereits zur Eröffnung 2012 gestalteten ersten Dauerausstellung zum Gedenken an die ehemaligen jüdischen Einwohner und einer Auswahl der Dachbodenfunde gelang der museale Start, der sich im Oktober 2014 mit der Eröffnung des Jüdischen Museums zu einem überregionalen Alleinstellungsmerkmal entwickelte. Bewusst wurde der Titel „Tagein tagaus“ gewählt, da die gezeigten Objekte dem Alltag der Juden entstammen und jüdischer Alltag bis heute durch eigene Bräuche und Festtage geprägt ist. Die vielfache Beschränkung und Einengung der jüdischen Geschichte auf die wenigen Jahre des Nationalsozialismus und den Holocaust hat sich durch das Niederzissener Jüdische Museum, das Wirken vor Ort und, erweitert um die Sicht auf eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte, gewandelt. Eine ausführliche Beschreibung des Jüdischen Museums erfolgte im Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 2017.

Mut, Teamgeist und starke Projektunterstützung

Um das Haus als Zentrum für jüdische Geschichte, für Toleranz und gegen Rassismus jeder Art zu entwickeln, waren nicht nur Mut und Teamgeist, sondern auch ein starker Partner gefragt. Das war und ist der 2012 durch die Initiatoren des 2009 erfolgreichen Bürgerbegehrens gegründete Förderverein Kulturgut ehemalige Synagoge Niederzissen. Er hat von Beginn an das Wirken des Kultur- und Heimatvereins maßgeblich unterstützt. Dazu gehörten, neben anderem, die Planung, Entwicklung und Finanzierung des zeitgemäßen jüdischen Museums, die Finanzierung und der Druck der Bücher „Ein langer Weg“ und „Jüdisches Leben in Niederzissen“ sowie die Digitalisierung mit der Gestaltung der deutsch- und englischsprachigen Webseite.

Weg in die Moderne durch Digitalisierung

Kurz vor der pandemiebedingten Schließung aller öffentlichen Einrichtungen im Frühjahr 2020 kam die Digitalisierung zum genau richtigen Zeitpunkt. Die annähernd 24.000 Aufrufe der Internetpräsentation in Deutsch www.ehem-synagoge-niederzissen.de und mehr als 57.000 Aufrufe der englischen Fassung www.ehem-synagoge-niederzissen.com in den ersten beiden Jahren 2020 und 2021 sprechen für sich. Damit sind die ehemalige Synagoge, das Jüdische Museum und die Geschichte des Judentums im Brohltal zeitgemäß und beispielgebend in der virtuellen Welt vertreten.

Onlinebesichtigungen alleine ersetzen aber nicht den Besuch vor Ort, die Begegnung mit der Geschichte, das Erleben eines historischen Hauses, seit 1841 für fast 100 Jahre eine Synagoge, die 1938 während der Novemberpogrome durch Zerstörung im Inneren entweiht, von 1939 an fast 70 Jahre als Schmiede und Werkstatt genutzt wurde und vor dem Ankauf durch die Gemeinde Gegenstand teils heftiger Auseinandersetzungen war.

Bei der Feier zum 175-jährigen Bestehen des Synagogengebäudes 2016 waren Nachfahren aus Mexiko, Israel, Südafrika, Niederlande und Deutschland zu Gast.

Seit der Eröffnung 2012 bis Mitte 2022 haben 11.778 Personen die ehemalige Synagoge besucht, wobei es trotz der pandemiebedingten Einschränkungen 2020 immerhin noch 211 und 2021 448 Besucher waren. Dieser positive Trend setzte sich von März bis Juni 2022 mit bereits 331 Besuchern fort. Zusätzlich können im Gebäude selbst neue technische Möglichkeiten online genutzt werden, wie QR-Codes für vertiefende Informationen. Besonders Schulklassen schätzen diesen Service zur Unterstützung des außerschulischen Unterrichts vor Ort.

Stärkung des kulturellen Lebens in Niederzissen und der Region

Vom ersten Tag an war die Stärkung des kulturellen Lebens ein großes Ziel der neuen Veranstaltungsstätte. Mit bisher 124 Veranstaltungen, darunter 69 Konzerte von Klezmermusik über Klassik, Jazz, Chansons und Folkmusik sowie Improvisationstheater und insgesamt 13 Vorträgen und Lesungen wurden die Erwartungen bis zum Lockdown 2020 weit übertroffen.

Begegnungen mit jungen Menschen als wesentliches Element

Höhepunkte bei allen Besichtigungen, Workshops und Unterrichtsstunden vor Ort, auch in Kooperation mit dem 2015 gegründeten Förderverein Ahrweiler Freiheitswochen, waren stets die Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern, kirchlicher und anderer Jugendgruppen bei bisher insgesamt 46 Veranstaltungen dieser Art. Besonders hervorzuheben sind dabei die Begleitveranstaltungen zu Ausstellung mit Themen der Zeit.

Begegnungen mit Nachfahren – Heimatort und weltweites Netzwerk

Ein weiteres wichtiges Element besteht in den Kontakten zu den Nachfahren der einstigen jüdischen Einwohner Niederzissens und des ganzen Brohltals, nicht nur bei ihren Besuchen hier, sondern auch bei ihnen im Ausland. Was in den 1970er-Jahren mit ersten, vorsichtigen Kontakten begann, ist inzwischen zu einem weltweiten Netzwerk geworden. Bei unterschiedlichsten Gelegenheiten besuchten Nachfahren aus USA, Mexiko, Israel, Südafrika, England, Niederlande und Deutschland Niederzissen als die neu gewonnene Heimat, die den Eltern und Großeltern genommen wurde. Dabei kam es zu bewegenden Momenten, da sich einige, obwohl eng verwandt, zum ersten Mal begegneten. Der Zuspruch und ihre Anerkennung sind überwältigend. Die entstandenen intensiven Freundschaften sind Lohn für das vorbildliche Engagement.

Schülerinnen der Schönstätter Marienschule Vallendar präsentieren während der Festveranstaltung Gedanken über ihr Schulprojekt und religiöse Toleranz.

Erinnerungsarbeit und Wissenschaft

Aber auch über die emotionalen Momente hinaus ist die ehemalige Synagoge heute ein fester Bestandteil der lokalen und überregionalen Erinnerungsarbeit, die sich in allen Veranstaltungen vor Ort, aber auch in der Mitarbeit bei landes- und bundesweiten Erinnerungsinitiativen widerspiegelt.

Ein wichtiger Anteil fällt der Forschung zu. Dafür steht besonders die 2010 bis zu Beginn der Renovierungsarbeiten vom Dachboden geborgene Genisa. Sie gilt als eine der größten und bedeutendsten Funde dieser Art. Die Fundstücke bieten vielfältige Einblicke in das Leben der jüdischen Gemeinde sowie in die Sozialgeschichte und Kultur der Region und darüber hinaus. Sie ist ein schier unerschöpfliches Reservoir zur Erforschung des Landjudentums. Unter den entdeckten Schätzen befanden sich neben jüdischen Handschriften und Büchern liturgische und andere Textilien, Marktkalender, Viehhandelsverträge, Eheverträge, Geschäftspapiere und vieles mehr. Die Herausgabe einer Dissertation über die Textilfunde hat der Kultur- und Heimatverein unterstützt und finanziell gefördert.

Regionale und bundesweit bedeutende Ausstellungen

Der nationale und internationale Bekanntheitsgrad hat inzwischen zu mehreren regionalen und bundesweiten Leihanfragen geführt. Ein absoluter Höhepunkt war die temporäre Verlagerung des Fund- und Aufbewahrungsortes der gesamten Genisa vom September 2021 bis August 2022 nach Köln in das Kolumba, dem Kunstmuseum der Erzdiözese Köln, als bedeutender Bestandteil der Ausstellung „In die Weite – Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland“.

Seit 1. Juli 2022 ist ein wichtiges Objekt für sechs Monate im Deutschen Historischen Museum in Berlin im Rahmen der Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Kämpfe um politische Zugehörigkeit in Deutschland, Frankreich und Polen im 19. Jahrhundert“ zu sehen.

Haus der Kultur – mitten in der Gemeinde angekommen

In den vergangenen 10 Jahren hat sich eindrucksvoll gezeigt, dass die ehemalige Synagoge einen wichtigen Platz im Kultur- und Vereinsleben einnimmt, aber auch mit dem räumlichen Angebot eine wertvolle Ergänzung bietet. Vereine und Einrichtungen, auch kommunale Organisationen, nutzen das Haus für Versammlungen, Lehrgänge, Chorproben, Vorträge und mehr. Im vergangenen Jahr fand sogar die flutgeschädigte Musikschule im Kreis Ahrweiler mehrere Wochen Unterschlupf. Der Würde des Hauses entsprechend, ist dort vieles möglich. Dazu passt auch die Abbildung des Gebäudes als ortsbildprägendes und kulturhistorisch bedeutendes Denkmal in der entsprechenden Serie der Niederzissener Karnevalsorden.

Bedeutender Tag für die Gedenkarbeit im Brohltal

Am 7. und 8. Mai 2022 fand in Niederzissen und im Nachbarort Burgbrohl, dort durch die Enthüllung einer Gedenktafel, ein bedeutendes und miteinander abgestimmtes, vorbildhaftes Wochenende des Erinnerns statt. Die Feiern zum 10-jährigen Bestehen der Erinnerungs- und Begegnungsstätte begannen mit einem Klezmerkonzert am Samstag und endeten am Sonntagnachmittag mit einem Festakt, der per Liveübertragung weltweit ausgestrahlt wurde. Damit konnten besonders alle nicht persönlich anwesenden Nachfahren teilnehmen.

Im Rahmen des Festaktes zeigte sich, unter anderem durch die Präsentation einer Schülerinnengruppe, welche Möglichkeiten das Haus als lebendiges Zentrum des Gedenkens, der Begegnung, des Lehrens und Lernens, aber auch anspruchsvoller Kultur bietet. Wie dem Tenor der Ansprachen, dem Feedback bei den anschließenden Gesprächen und den Berichterstattungen zu entnehmen ist, wurde in den 10 Jahren wegweisende Arbeit in der Gedenk- und Erinnerungskultur geleistet. Zum Jubiläum wurde auch eine Festschrift mit Rückblick, Vorausschau und interessantem Bericht über ein Schulprojekt veröffentlicht. Sie kann beim Kultur- und Heimatverein Niederzissen angefordert werden.

Gegenwart und Zukunftsperspektive

Die ehemalige Synagoge und das Jüdische Museum nehmen in der überregionalen Museumslandschaft, in der Gedenkstättenarbeit und als Kulturort einen festen Platz ein. Es gilt, dieses Kleinod als Ganzes, als Gebäude und als Institution zu bewahren und gemeinsam mit dem Förderverein zukunftsfähig auszubauen. Wesentlich wird sein, junge Menschen einzubinden, ihnen neben dem Lernen aus der Geschichte genauso das heutige jüdische Leben aufzuzeigen, Toleranz und gegenseitiges Wissen zu lehren um dadurch dem wachsenden Antisemitismus die Stirn zu bieten. In Niederzissen ist der Blick nach vorne gerichtet.