Der Tod kam rasend schnell

Das Lebenshilfehaus in der Pestalozzistraße in Sinzig bot Menschen mit Beeinträchtigungen 30 Jahre lang Geborgenheit und ein Zuhause – bis zur Flutnacht

Christina Steinhausen

Immer noch liegt die Trauer über dem Haus der Lebenshilfe in der Pestalozzistraße in Sinzig. Immer noch fließen Tränen, weil alles wieder so schnell hochkommt, wie vor einem Jahr die Ahr. Dieses eigentlich romantisch dahinplätschernde Flüsschen im Tal der roten Trauben riss zwölf der 36 Bewohner des Lebenshilfehauses, Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung, jäh in den Tod.

In der Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler starb ein weiterer Mann, der von der Lebenshilfe betreut wurde, in seiner Wohnung. Diese 13 Menschen sowie mehr als 120 weitere haben die Sonne nie wieder aufgehen sehen. Die Ahr war zu einem reißenden Strom geworden, unpassierbar für alle, die helfen wollten, die Not und Elend vor Augen hatten, aber nichts tun konnten. Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 hat für viele alles verändert. Viele sind traumatisiert, werden dies wohl nie vergessen können. Die Flutkatastrophe hinterlässt Zerstörung und Leid in bisher nicht gekanntem Ausmaß. In einem prosperierenden, landschaftlich reizvollen Landkreis entsteht im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht ein Tal der Trümmer, Tränen und Traumata.

Ein Ort der Fröhlichkeit

Weil das Lebenshilfehaus in Sinzig durch die Flut massiv beschädigt wurde, hat die Lebenshilfe ein ehemaliges Hotel in Remagen-Rolandseck angemietet.

Bis zu dieser Nacht war die Pestalozzistraße 7, das Lebenshilfehaus, ein familiärer Ort für seine Bewohner und deren Betreuer, ein Zuhause, ein Ort des Lebens und der Fröhlichkeit, ein Ort, an dem sich die Bewohner sicher und geborgen gefühlt haben. Weggespült – wie so vieles. 250 Meter liegen zwischen dem Lebenshilfehaus und der Ahr. Beim so genannten Jahrhunderthochwasser 2016 blieb der Fluss in weitem Abstand zum Gebäude. Dass die Ahr mal bis zur Decke des Erdgeschosses im Haus stehen würde, hat sich schlicht keiner vorstellen können. Viele dachten, so schlimm wird es nicht werden. Es wurde schlimmer, viel schlimmer. Noch am Abend des 14. Juli 2021 war alles ganz ruhig im Lebenshilfehaus, normale Abläufe wie immer, Routine. Der Tod kam mitten in der Nacht, rasend schnell, binnen Minuten laufen Keller voll, Wassermassen sprengen Fenster und Türen, reißen Autos, Gastanks, Bäume mit sich.

Die Keimzelle der Lebenshilfe

Das Lebenshilfehaus in der Pestalozzistraße war für den Verein mehr als nur ein Gebäude, es war die Keimzelle der Lebenshilfe im Kreis Ahrweiler. 1985 haben Gerd Jung, Dr. Paul Reuther und Ellen Pfeiffer die Kreisvereinigung der Lebenshilfe im Kreis Ahrweiler mit 17 Mitgliedern im Schützenhof Ahrweiler gegründet. 1992 erfolgte der Spatenstich für den Bau des Lebenshilfehauses in der Pestalozzistraße in Sinzig.1994 konnten die ersten Bewohner einziehen. Für den heutigen Vorstand ist klar, dass dieses Gebäude nicht mehr als Wohnheim genutzt werden kann. Zum einen, weil das Gelände als Überschwemmungsgebiet ausgewiesen ist, zum anderen wegen der psychischen Belastungen für Bewohner und deren Verwandte, Betreuer und Mitarbeiter.

Nur Zwischenlösungen

Die Überlebenden wurden am Tag nach der Flutnacht kurzfristig im Heinrichhaus im Kreis Neuwied untergebracht. Jetzt, im Juli 2022, hat die Lebenshilfe eine Wohneinrichtung der Caritas in Mendig angemietet, sowie bis Ende 2024 ein ehemaliges Hotel, den Düsseldorfer Hof in Remagen-Rolandseck. Der musste noch baulich hergerichtet werden (Barrierefreiheit, Brandschutz) und wurde im Januar 2022 bezogen.

Die Überlebenden des Lebenshilfehauses drück- ten ihre Trauer um die Verstorbenen gestalte- risch aus.

„Das sind allerdings nur Zwischenlösungen, die uns etwas Luft für die nächsten zwei bis drei Jahre verschaffen“, betont der ehrenamtliche Lebenshilfe-Vorsitzende Ulrich van Bebber. Trotz aller widrigen Umstände leisten die Mitarbeiter der Lebenshilfe eine sehr engagierte und emphatische Arbeit, um den Bewohnern das Gefühl des Zuhauseseins zu vermitteln. Sie versuchen so viel Normalität wie möglich zu schaffen. Der Verein will neue Nutzungskonzepte für das Wohnen ausprobieren, an deren Entwicklung Angehörige, Mitglieder, Betroffene und Beschäftigte teilhaben sollen und so mitgestalten können. Gerade wurde auch die Frühförderung für Kinder mit Entwicklungsstörungen oder Behinderungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler neu eröffnet.

Verzweifelte Grundstückssuche

„Unsere größte Herausforderung ist allerdings der Bau einer neuen Wohneinrichtung, damit unsere Bewohnerinnen und Bewohner wieder in einem stabilen Umfeld leben können. Hier suchen wir verzweifelt nach einem Grundstück“, erklärt der Vorsitzende. Dies soll wenn möglich in Sinzig liegen, wo sich die Bewohner wohl gefühlt haben und deshalb gerne wieder dort leben möchten. Sie waren in die Stadt integriert, nicht irgendwo im Nirgendwo abgeschoben, sondern mittendrin. Und da gehören sie auch hin.