Das Are-Gymnasium und die Flutkatastrophe: Der Schulleiter erinnert sich

Heribert Schieler

Mittwoch, der 14. Juli 2021: Letzte Schulwoche vor den Sommerferien: Traditionsgemäß findet am Mittwoch in der letzten Woche immer ein Wandertag statt. Es ist der 14. Juli 2021 und es regnet in Strömen. An eine Wanderung ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Der Schulhof erinnert eher an die Mecklenburger Seenplatte. Die Kanalisation ist mit den Wassermassen hoffnungslos überfordert, überall stehen riesige Wasserlachen und eine Wetterbesserung ist nicht in Sicht.

Wir diskutieren, wie wir mit der Situation umgehen. „Das wird sicher Hochwasser geben.

Werden morgen die Busse überhaupt zum Are- Gymnasium fahren können? Sollen wir schon heute aus Sicherheitsgründen den Unterricht absagen?“ Wir besprechen uns mit den Schulleitungen der benachbarten Schulen. Wir sagen den Unterricht für den Donnerstag ab.

Gegen 15:30 Uhr mache mich auf den Heimweg. Ich wohne in der Eifel, oberhalb von Schuld und fahre an diesem Nachmittag durch das gesamte Ahrtal bis nach Antweiler. Die Ahr ist schon zu einem reißenden Strom angewachsen, aber immer noch weitgehend in ihrem Flussbett. Ich fahre durch Dernau, Rech und Mayschoß, links die Ahr, rechts die Weinberge. Es fällt auf, dass von den Bergen reichlich Wasser herunter auf die Straße läuft. „Wo kommt nur das ganze Wasser her?“, denke ich. Das mulmige Gefühl, dass das nicht mehr lange gut gehen wird, steigert sich von Kilometer zu Kilometer, die ich weiter ins hintere Ahrtal fahre. Es ist kurz nach 16:00 Uhr als ich die Ortschaft Schuld in Richtung Antweiler passiere. Das Wasser strömt immer noch von den Hängen auf die Straße und kurz vor Antweiler steht mein Wagen bereits bis zu den Türen im Wasser. Ich komme noch über die Brücke in Antweiler und bin heilfroh, dass ich vom Tal auf die Höhe fahren kann. Es regnet immer weiter.

Unter größtem Einsatz geplant und errichtet: die Containerschule des Are-Gymnasiums als Zwischenlösung in der Gemeinde Grafschaft

Donnerstag, der 15. Juli 2021

Kurz nach 06:00 Uhr in Frühe klingelt mein Handy. „Wer ruft mich in aller Herrgottsfrühe schon an?“ denke ich und nehme noch leicht verschlafen das Handy zur Hand und melde mich. Auf der anderen Seite meldet sich meine Sekretärin, Frau Menzen: „Hallo Herr Schieler! Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben überlebt!“ Ihr Haus in Walporzheim, direkt an der Ahr gelegen, ist vollkommen zerstört und sie haben die Nacht im Hotel Hohenzollern auf dem Berg verbracht. Das waren die ersten Nachrichten, die mich erreicht haben. Langsam realisiere ich, dass etwas Furchtbares passiert sein muss. Wir haben Stromausfall und aus dem Wasserhahn kommt kein Wasser mehr. Ich versuche zur Schule zu fahren. Eine fixe Idee, wie sich bald herausstellt. Alle Straßen ins Ahrtal sind von den Rettungskräften und der Polizei bereits abgeriegelt. Nirgendwo ist ein Durchkommen. Auch der Mobilfunk ist in weiten Teilen ausgefallen. Was ist eigentlich in dieser Nacht passiert? Erste Augenzeugenberichte von vollkommen erschöpften Feuerwehrleuten lassen uns fassungslos zurück. Wir müssen helfen, irgendwie und irgendwo!

Wir versuchen über unsere digitalen Kanäle Kontakt mit allen Familien und dem Kollegium aufzunehmen. Es ist schwierig und erst nach einigen Tagen haben wir die Gewissheit, dass niemand aus unserer Schulfamilie ums Leben gekommen ist. Das ist bei allem Elend eine große Erleichterung für uns.

Montag, der 19. Juli 2021

Ich komme zum ersten Mal wieder nach Bad Neuenahr zum Are-Gymnasium. Wir kommen über den Johannisberg herunter in die Mittelstraße. Den Anblick, der sich mir dort bietet, werde ich niemals mehr vergessen. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen. Unglaubliche Müllberge, zerstörte Autos, ein Haus ohne Vorderfront stand da, wie ein überdimensionales Puppenhaus und über allem, ein beißender Gestank von Heizöl und Benzin.

Unser Are-Gymnasium darf nicht betreten werden. Von außen versuche ich mir ein Bild über die Schäden zu machen. Was ich sehe, treibt mir unweigerlich die Tränen in die Augen Die Zerstörung ist einfach unvorstellbar. Die Keller sind vollständig überflutet und das Wasser stand im Erdgeschoß 1,50 m hoch. Alle Gebäude und das komplette Gelände sind mit einer knöcheltiefen, stinkenden Schlammschicht bedeckt. Ich realisiere langsam, dass hier nichts mehr zu retten ist. Heute ist der erste Tag der Sommerferien, aber unbeschwerte Ferien wird es nun auf lange Zeit nicht mehr geben.

Samstag, 24. Juli 2021

Wir haben die Erlaubnis erhalten, das Are- Gymnasium zu betreten. Noch immer ist die gesamte Schule voller Schlamm und zerstörtem Mobiliar. Unser Ziel ist es, den Neubau vom Schlamm zu befreien. Wir haben nur intern um Hilfe gebeten, werden aber an diesem Tag von Helfern förmlich überrollt. Plötzlich sind hunderte von Menschen aus ganz Deutschland am Are und helfen wie selbstverständlich mit, die Schule zu räumen. Es ist eine sehr dreckige und anstrengende Arbeit, aber alle Helfer*innen sind bester Laune und fröhlich. Am späten Nachmittag sind das gesamte Erdgeschoß und das Freigelände vollkommen vom Schlamm befreit. Alle Räume sind leer, das gesamte Mobiliar ist entsorgt. Ein riesiger Müllberg auf dem TWIN-Gelände wächst immer weiter an. Es ist unfassbar, was an diesem Tag geleistet wurde.

Wie soll es nun weitergehen?

Die zuständige Ministerin, Frau Dr. Hubig, besucht persönlich das Are-Gymnasium, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Die Schulbehörde entwirft Pläne für das neue Schuljahr. Niemand kann genau sagen, wie diese Pläne realisiert werden können. Schließlich fällt die Entscheidung, dass wir an der IGS Remagen unterkommen. Man stellt uns drei Container auf den Schulhof für unsere Verwaltung. Die Schüler*innen haben Wechselunterricht ab 13:30 Uhr, d.h. eine Woche kommen die Klassen 5-9 und die nächste Woche hat die Oberstufe Unterricht. In der Praxis bedeutet das, dass wir weniger als 50 Prozent unseres regulären Unterrichtes erteilen können. Die Schüler*innen sind aufgrund der katastrophalen Verkehrsverbindungen teilweise bis zu zwei Stunden unterwegs, um die Schule zu erreichen. Manchmal fahren auch überhaupt keine Busse. Viele von ihnen haben ihr Zuhause verloren und wohnen in teilweise weit entfernten Ausweichquartieren. Unsere Hauptaufgabe besteht zunächst darin, unseren Schüler*innen eine möglichst konfliktfreie Normalität zu bieten. Wir veranstalten viele Exkursionen und Klassenfahrten, um den Kindern viele positive Erlebnisse und etwas Lebensfreude zu verschaffen. Psychologen*innen aus ganz Deutschland sind vor Ort und helfen bei der Bewältigung der Probleme. Unzählige Hilfsangebote und Spenden erreichen uns aus dem gesamten Bundesgebiet.

Schulfamilie: Gemeinsames Aufräumen auf dem Schulgelände in Bad Neuenahr, hier am 24. Juli 2021

Am 13.09.2021 fällt die Entscheidung, dass eine Containerlösung in der Grafschaft errichtet wird. Die beteiligten Firmen, die Verantwortlichen der Kreisverwaltung Ahrweiler und der Gemeinde Grafschaft arbeiten unter größtem Einsatz selbst an den Wochenenden, um unsere Containerschule fertigzustellen. Und dann ist es endlich so weit: Pünktlich zum neuen Jahr 2022 können wir am 3. Januar unsere neue Schule beziehen. Die Freude darüber ist bei allen riesig. In meinen 35 Jahren als Lehrer habe ich noch nie erlebt, dass sich Schüler*innen so auf ihre Schule freuen. Endlich haben wir wieder einen gemeinsamen Platz, an dem wir nun zuhause sind. Es ist für uns in der derzeitigen Situation die beste aller Möglichkeiten und wir sind den Verantwortlichen, die dieses Großprojekt in so kurzer Zeit realisiert haben, sehr dankbar.

Das Leben in der Containerschule

Es ist schon eine gewaltige Umstellung und eine große Organisationsaufgabe den Umzug einer ganzen Schule zu bewältigen. Es fehlen zu Beginn noch tausend Sachen, die besorgt oder bestellt werden müssen. Die Abläufe müssen sich einspielen. Die Fertigstellung der Mensa verzögert sich aufgrund von Lieferschwierigkeiten, die Sporthalle und die naturwissenschaftlichen Fachräume sind ebenfalls noch im Bau und der Schülertransport ist zu Beginn eine einzige Katastrophe (Stand Mitte Juni 2022). Nebenbei hält uns Corona auch weiterhin fest im Griff. Wir lassen uns aber davon alle nicht entmutigen und arbeiten jeden Tag gemeinsam daran, dass unsere Schule immer ein wenig besser wird. Unsere Schüler*innen brauchen Optimismus, Mut und Zuversicht für die Zukunft und dabei wollen wir sie nach Kräften unterstützen. In dieser Zeit entsteht ein neuer Leitspruch, den wir uns zu eigen machen: Das Are-Gymnasium ist kein Gebäude, sondern eine große Schulfamilie, die auch in schwierigen Zeiten immer zusammenhält.

Im Flur vor dem Sekretariat hängt seit einigen Tagen eine Luftaufnahme unseres Are- Gymnasiums vor der Flut. Oft sehe ich dort Schüler*innen stehen, die wehmütig ihre alte Schule betrachten. Es wird sicher noch eine lange Zeit dauern, aber es wird der Tag kommen, wo unsere Schule und das ganze Ahrtal wieder aufgebaut sein werden und in neuem Glanz erstrahlen. Es gibt eine Zukunft. Diese Hoffnung gibt uns Kraft und Zuversicht.