Der Leyhöfer

Dr. Ludwig Mathar

Der Sturm auf die Kraftpost war jeden Morgen fürchterlich.

Es war ein Kampf auf Leben und Tod.

Wie eine Horde von Bestien stürzte sich ein Gewirr von lauernden, heimtückischen, gewalttätigen Wesen beutegierig auf des armseligen, längst ausgedienten, aber wieder in Dienst gestellten Ratterwagens unnatürlich schmale Tür.

„Waren das noch Menschen?

Wer nahm da Rücksicht auf die erbärmlich abgemagerten, blutlos blassen, im Kampf ums tägliche Brot verhärteten und verbitterten alten Jungfern, denen der Hunger aus den verstörten Augen stierte? Wer machte da den abgehetzten, verarbeiteten Frauen Platz, die sich für ein paar Kartoffeln todesmutig in das Kampfgewühl stürzten? Selbst Mütter mit Kindern, mochten sie auch noch so sehr flehen oder zetern, wurden nicht geschont. Weh den Kleinen, die in das furchtbare Gedränge eingeklemmt waren! Sie wurden erbarmungslos zurückgestoßen und gequetscht. Ihre verhungerten, aschgrauen Gesichter, ihre verzerrten Münder stießen vergebens Schmerzens- und Hilfeschreie aus. Mit Ellenbogen, Fußtritten und Fäusten halfen sich halbwüchsige Burschen, denen das Easter frech aus den habgierigen, wollüstigen Augen lachte. Wie einen Sturmbock stießen rücksichtslos Vierschröter ihren schwerbepackten Rucksack vor, brachen sich, ohne ein Wort zu verlieren, nur wölfisch um sich knurrend, bis zu dem vorspringenden Türgriff Bahn, der ihnen erst den Auftritt, dann das Einbrechen in den Wagen ermöglichte. Und doch stieß sie ein Gewaltmensch, der sich einen Riesenkoffer auf den Herkulesrücken geschnallt hatte, ein Boxer oder Hausknecht oder Sackträger, in furchtbarem Anprall auf Seite und erzwang sich so den heißumkämpften Eintritt. Was frommte da vertrauensseligen Besitzern amtlicher Dringlichkeitsbescheinigungen der mit ausgerecktem Arm hoch über die Köpfe der Kämpfenden geschwungene Zettel, der klipp und klar die Dienstfahrt bestätigte? Hohngelächter übertönte die entrüsteten Proteste der behördlich Bevorrechtigten. Pfiffig nach Durchlässen ausspähende Kenner des Kampfes wanden sich indessen, ihre Wohlgenährtheit artistisch vermindernd, Schrittchen für Schrittchen durch das erbitterte Gewühl, bis sie den untersten Wagentritt glücklich ergaunert hatten. Kriegsbeschädigte wiesen scheltend ihre Ausweise vor. Das Gedränge war zu wild, um sie durchzulassen. Da gebrauchten auch sie schonungslos ihre unversehrten Glieder.

So war es denn kein Wunder, daß zwei hungerblasse Kinder, ein hochaufgeschossener, schwindsuchtsdünner Junge und ein schreckhaft abgemagertes Mädchen, zitternd in der Morgenkälte eines regnerischen Maimorgens, eingeschüchtert durch die Roheit des Kampfes, bis in die letzten Reihen der Ringenden zurückgestoßen wurden.

Zu allerletzt stand gleichgültig, ja teilnahmslos ein erbärmliches Wesen. Eine nur aus Haut und Knochen zusammengehaltene Gestalt. Das greisenhaft verschrumfte und verrunzelte Gesicht ließ kein Alter erkennen. Die tiefeingesunkenen, struppig und schlohweiß umbuschten Augen hatten jeden Abglanz menschlicher Erregung, seelischer Empfindung verloren. Denn dieses klapprige Gestell aus Bein und Haut hatte keine Seele mehr. Der verwelkte, von grausen, grauen Stoppeln umwucherte Mund war zu schlaff, sich zu erbittern, ja zu dem Erstaunlichsten sich überhaupt zu äußern.

Nicht aus Verzweiflung, aus Ermattung war er stumm. „Wie von einem Totenschädel standen die schneeweißen Ohren ab. Die Backenknochen traten aus den zerknitterten, blutleeren Wangen wie verwitterte Felsklippen hervor. An dem dürren Halse schlotterte die faltige Haut. Die schmalen Schultern hingen hernieder, als trügen sie noch immer die schwerste Last. Aus der eingefallenen Brust brach zuweilen ein trockenes Husten hervor. Die dürren Beine drohten jeden Augenblick einzuknicken. Die mit den schmutzigsten Lumpen umschnürten Füße schienen mit Hilfe eines geschälten, knotigen Steckens jeden Schritt abzutasten, ehe sie sich auf unbekanntes Gelände wagten. Dieses unglaublich verdreckte und verkommene Wesen war in die armseligsten Lumpen gehüllt. Waren es Uniform-, waren es Zivilstücke gewesen? Das war nicht mehr zu erkennen. War es eine Weiberjacke oder ein Waffenrock, die den Oberkörper des Verlumpten umwatteten? Unzählige Male auf das gröbste geflickt, von Wind und Wetter jeder Farbe beraubt, umschloß es ein zerfetztes, verschmutztes Hemd, das eine grauhaarige Brust unbekümmert freiließ. Und diese mit Bastfäden umwickelte Beinkleidung, waren es Reste von Militärhosen oder eines Weiberrockes? Von Strümpfen keine Spur. Was braucht das nach Sträflingsart kurz geschorene verschorfte Haar eine Mütze? Und wozu Schuhe, wenn man Fußlappen hatte?

Ein menschliches Wrack.

Anderes kam ja aus Rußland nicht zurück.

Das war der von seinem Riesenroß gestürzte Apokalyptische Reiter: Das war der „Krieg“!

Auch der Hunger hatte seine klapperdürre Schindmähre verlassen und irrte nun in tausendfältiger Gestalt umher. Er stierte aus den verhärmten und verbitterten Augen der alten Jungfern. Er rannte hin und her in den abgehetzten Bettlerinnen, den ausgemergelten und verarbeiteten Frauen. Er lauerte in den aschgrauen Gesichtern der überall gestoßenen und fortgeschobenen Kinder. Er klagte in den verbitterten Mienen der abgehetzten oder pensionierten Beamten, der erbärmlich abgespeisten Rentenempfänger, der mit ein paar Papiermark „versorgten“ Hinterbliebenen der „auf dem Felde der Ehre Gefallenen“.

Er war überall.

Und die „Teuerung“ machte sich daneben rücksichtslos breit.

Das war die alles überflutende Masse der Hamsterer und Schieber, die aus dem Hunger ihrer Mitmenschen e.in glänzendes Geschäft machte. Das waren die arbeitsscheuen Gesellen, durch den Krieg verwilderte Burschen, die um ein Pfund Butter oder Kaffee, um ein Paket Zigaretten, ihre Haut zu Markte trugen, aber auch zu jeder Gewalttat entschlossen waren, wenn ein Zöllner oder Polizist ihnen ihre Beute abzujagen wagte. Was kam es denen auf ein Menschenleben an? Sie waren ja gewohnt, Handgranaten auf den Feind zu schleudern. Zu Hunderten stahlen sie sich tagtäglich über die Grenze. Besonders das Wald- und Moorgelände des Venns war ihr Revier. Sie standen im Solde von Großschiebern, die weitab vom Schuß durch sie riesenhafte Unternehmungen ohne Risiko betrieben. Was machte es für diese „Großkaufleute“ aus, wenn einmal einer dieser Waghälse durch eine Zöllnerkugel ausfiel? Neue meldeten sich ja genug. So konnte man den Schwarzen Markt fortlaufend engros beliefern. Schwärme von Halbwüchsigen, Betteljungen, Schulschwänzern leisteten diesen verwegenen Grenzpiraten Spähdienste, waren ihre Handlanger beim Heranschaffen der „Ware“, ihre Helfershelfer im Oberlisten und Hinhalten der Zöllner. Dabei machten sie aber auch, ihren Auftraggebern nachäffend, „Geschäfte“ auf eigene Faust mit den drüben erbettelten Centimes oder Cents. Wie Heuschrecken fielen sie über die jenseitigen Grenzstriche her.

Von diesem verwahrlosten und zu allem entschlossen Volk unterschieden sich die auf eigene Rechnung ausziehenden Schieber und Hamsterer durch ihr bürgerliches, harmloses Benehmen. Nur der Dickwanst, den sie aber klug zu verbergen oder wenigstens zu mindern trachteten, der Speckhals, den sie schamhaft im schäbigen Halstuch verhüllten, die wohlgenährten Backen, die sie unter werktäglichen Bartstoppeln verdeckten, verrieten dem Kenner ihr einträgliches Handwerk, das aber möglichst unauffällig und wie gelegentlich ausgeübt wurde. Diese „ehrsamen Kaufleute“ incognito waren die heimlichen Freunde der Fahrer, denen sie insgeheim, doch regelmäßig, Zigaretten oder Zigarren in die Tasche steckten. So ergatterten sie immer ihren Eintritt oder einen Sitz. Dabei gingen sie gegen die Hungerleider rücksichtslos vor. Was brauchten diese vertrockneten alten Jungfern, diese faulenzenden Ruhegehältler mit ihren Leichenbittermienen, diese Bettelweiber und ihre plärrende Brut einem ehrlichen Kaufmann den Platz vor der Nase wegzuschnappen? Mochten sie zu Fuß laufen! Für solch Gelichter war die Kraftpost doch nicht da! Dies Ungeziefer machte ja die Dörfer unsicher, die Bauern rabiat! Ein Glück, daß man, dank bester Beziehungen, seine festen Lieferanten hatte! Die machten einem diese Habenichtse nicht abspenstig, und mochten sie auch ihre verschlissenen Bettdecken und Kissenbezüge auspacken, ihre Nähröllchen, ihre Schuhwichse, ihr Persil, minderwertige Schundware, an den Mann zu bringen suchen! Die schlug man mit hochwertigen Anzugstoffen, mit prima Damenstrümpfen, mit erstklassigem Schuhzeug leicht aus dem Feld. Diese Biedermänner respektierten die Grenze. Sie waren keine Schmuggler, beileibe nicht. Ihre Kompensationsgeschäfte waren kein Schwarzhandel, wahrhaftig nicht. Sie tauschten nur auf reelle Art gute Ware gegen gute Ware ein. Überpreise forderten sie nicht, wenn sie sich selbstverständlich auch ihre Spesen, Reisekosten und Unannehmlichkeiten bezahlen ließen. Waren sie an der Teuerung schuld, wenn dies dreckige Papiergeld von Tag zu Tag schlechter wurde? Konnten sie dafür, wenn diese habgierigen Bauern für ihre vermanschte Butter, ihren ranzigen Speck, ihr stickiges Mehl, ihre winzigen Eier Phantasiepreise verlangten? Mag verrecken, der nicht zahlen kann!

Im hochfeudalen Wagen fuhr die „Teuerung“ selbst.

Längst hatte man den lahmen Klepper gegen einen blitzschnellen Maybach-Wagen umgetauscht, die Waage hatte man zum alten Eisen geworfen. Man machte nur ganz große Geschäfte.

Diesem Leyhöfer, dem verbohrten Hinterwäldler droben an der Grenze, wird man seine zerfallene Baracke, seine versteppten Viehweiden, seine steinigen Äcker, sein abgemagertes Vieh, für einen Spottpreis abkaufen, der dem Dummkopf natürlich eine Riesensumme dünkt. Ein riesiges Kaufhaus wird man dann drüben mit Hilfe belgischer und holländischer Freunde errichten. Man hat so seine Verbindungen. Die Firma „Teuerung“ ist ja überall zu Haus. Dafür hat der brave Genösse von ehedem, der „Krieg“, ja gesorgt. Und wenn die Zöllner auf beiden Seiten auch die Kränke kriegen, der „Bon marche“, das „Kaufhaus Billig“ wird gebaut! Mitten im Venn, hübsch im Walde versteckt, ein allbekannter Treffpunkt für Käufer und Verkäufer. Der Leyhof wird dann zum Hotel, wo Geschäfte vorbereitet und abgeschlossen werden. In allen Ehren, natürlich. Die Zöllner werden zuletzt doch die Augen zudrücken. Wer gut schmiert, gut fährt. Ein verächtliches Lächeln spielte um des Großschiebers wohlgeschabte Lippen: Ein paar blaue Lappen tun bei diesen Preußen Wunder; diesen Hungerleidern muß man nur ein paar Brocken zuwerfen!

Im Vorgefühl seines Triumphes schwelgend, lehnte er seine Hünengestalt, die in feinstes englisches Tuch gewandet war, in die Samtpolster seines fürstlichen Maybach zurück: Ja, der widerspenstige Alte vom Leyhof ist jetzt weich! Und wenn er erst seinen Sohn, den Heimkehrer aus Rußland, erblickt, dies menschliche Wrack, dann ist er reif! Dann kann ich ihn wie ’nen Apfel vom Baum rupfen!

Er hob mit der feisten Rechten, die von den kostbarsten Ringen blitzte, eine herrlich duftende Havanna-Importe zu dem wulstigen Mund, der widerlich grinste: Was hofft er denn noch von seinem Hof? Der Jerret, des Rußlandfahrers einziger Sohn, ist zwar nach seinem Großvater getauft, taugt aber zum Bauer wie der Esel zum Pflug. Und Matthes, der Vater, ist keinen Schuß Pulver mehr wert. Der macht keine Kinder mehr. Den bringt selbst Bärb, sein kuraschiertes Weib, nicht mehr auf die Beine. Ja, wenn Meies, des Leyhöfers Zweiter, noch lebte! Der hatte des Alten Muck in den Knochen. Aber der ist schon längst in Polen verfault. Hat auch von der Gertrud, seiner zimperlichen Frau, einer Lehrerstochter, die auf den Leyhof paßt wie ’ne Faust aufs Äug‘, nur ein Töchterchen, die zwar einen Jungen spielen könnte, hinterlassen. Und Lambert, der Dritte, ist bei Stalingrad vermißt. Ein Kerl wie ein Baum. Immer kreuzfidel. Ein Luftikus. Kommt niemals wieder.

Befriedigt blies er kunstvolle Ringe in die Luft: Nein, Leyhöfer, dein Stamm ist verdorrt. Was rackerst du dich ab? Der neuen Zeit mach‘ Platz! Hier — ein paar Hunderttausend, das ist kein Pappenstiel! Und dein neues Haus im Dorf, fix und fertig bau‘ ich dir’s auf! Brauchst dir um Holz und Steine, Bretter und Dachpfannen, Türen und Fenster, Glasscheiben und Tapeten keine Sorge zu machen. Aufs billigste beschaff ich dir das! So’n Haus hat der Pastor von Kalterscheid nicht!

Behaglich streckte er die langen Beine, um die der Hosen Bügelfalte sich vornehm fügte, die Latschen der Füße, die in feinstes Chevreau-Leder sich angenehm schmiegten, vor sich aus: Darauf fällt der Tölpel rein! Der Leyhof ist mein!

Just in diesem Augenblick überholt der Maybach die Kraftpost, die in einem Dorfe am Fuße der Voreifel Halt machte.

Mit raschem, verächtlichem Blick überschaute der Schieberkönig das fürchterliche Gedränge: Wie es sich stößt und tritt, das Pack!

Und er reckte und streckte sich um so behaglicher: Ja, i c h bin noch nicht so auf den Hund gekommen wie mein einst so großmächtiger Genösse, der Krieg! Mein Weizen blüht!

Er sah noch, wie der Fahrer ein paar arme, blasse Frauen abschnauzte: Besetzt!

Was wollen diese Heulweiber auch im Venn? Meinen Trabanten Konkurrenz machen, wie? Aber d i e kommen schon mit!

Mächtige Rauchwolken stieß er aus: Die brechen sich schon Bahn! Die wissen’s mit dem Fahrer schon zu machen! Die werden auch mit den Zöllnern fertig!

Seine Glotzaugen funkelten vor Triumph: Wer im Dienst der „Teuerung“ steht, ist, wie ihr Meister, ein gemachter Mann!

„Wat halten Se denn hier?“ brüllt er seinem reichlivrierten Chauffeur in die Ohren. „Warten Se drau*f, bis einer von dem Pack mir ’nen Pflasterstein durch die Scheiben an den Kop schmeißt?“

Und als der Livrierte noch nicht prompt parierte: „Wat? Vorfahrtsrecht? Hinter uns bleibt jeder zurück!“

Mit Volldampf stob der Wagen davon ….

Jerret Heidbüchel, der Leyhofer, stand auf der Höhe der Vennkuppe, von der er sein stattliches Besitztum überschaute. Er hatte seinen gewohnten Morgenrundgang beendet, auf dem er unerbittlich nach dem Rechten zu sehen pflegte.

Im Kuhstall hatte er gründlich, wie er zu sagen liebte, „seinen Augen die Kost gegönnt“. Blitzsauber mußte da alles gefegt sein. „Ein Kuhstall ist kein Schweinestall!“ Das hatte Zei, die Kuhmagd, das mannstolle Mensch, das mit einem großschnauzigen Zöllner liebäugelte und gleich Heiratsflausen im Kopf hatte, sich sagen lassen müssen. Im Haus hielt Bärb, die Schwiegertochter, alles im Schwung. Die sah dem Angenieß, der Küchenmagd, die am liebsten den ganzen Tag den Rosenkranz gebetet hätte, gehörig auf die Finger. Weh!, wenn der Küchenflur nicht schieferblau geschrubbt, das Kupfer- und Messingzeug nicht spiegelblank gescheuert, das Eichenholz in der Wohnstube nicht wie neu gebohnert, das Bettzeug in den Schlafzimmern nicht frisch überzogen war! Ja, die Bärb, darauf konnte man sich verlassen! Das war die Rechte für den Matthes, der so leicht den Kopf hängen ließ. Das von manchem Lebenskampf, von manchem Vennsturm verwitterte Gesicht des Leyhöfers überflog ein Schatten: Wenn er nur wiederkommt! Den bringen wir schon wieder hoch!

Ein Funke schoß aus seinen scharf spähenden grauen Augen: Wo der Jerret nun schon wieder steckt? Hockt gewiß wieder irgendwo in einem Baum, ein Buch in der Hand. Und das Vieh treibt sich rum! Ein Glück, daß es sich, von den Steinwällen umhegt, nicht verlaufen kann!

Seine schwielige Faust umklammerte den Knotenstock: Aber das werd‘ ich ihm austreiben!

Wie flüchtiger Sonnenschein aus Gewitterwolken huschte es über des Alten runzlige Züge: Aber das ist ja das Drückchen, die wilde Hummel! Nie wird die Gertrud, die Mama, ein Madämchen aus dem machen. Wie’n Junge schaut’s wieder aus. Einen verwaschenen Hut auf dem Struwelkopf, eine verschlissene Jacke um die schmalen Schultern, Schäftestiefel um die langen Beine! Wenn der Meies, der Vater, das sah‘! Seine helle Freude ward‘ er an dem Weibsbild haben!

Grimmig pfiff sein Knötenstock durch die Luft. Aber der hört und sieht ja nichts mehr! Liegt irgendwo in der Polackei im Dreck!

Unsägliche Verachtung zuckt um seinen tiefumkerbten Mund: Und wofür? Für den Größenwahn eines Hergelaufenen! Haß sprühte aus der Tiefe seiner weißumbuschten Augen: Der mir auch den Lambert gemordet hat!

Schwer lehnte er sich auf seinen Knorenstock. Und nun haben wir die Bescherung! Nun steckt der Karren im Dreck! Halb Deutschland verloren, das übrige ganz aus dem Geleis! Verdorben, verhungert, verzweifelt! Schmuggel, Schwarzhandel Trumpf! Diebstahl, Bestechung an der Tagesordnung! Und ich hier oben, hart an der Grenze, mit den Weibsleuten allein!

Doch jäh reckte er seine Hünengestalt auf: Aber ich, Jerret Heidbüchel, steh‘ fest! Mich schmeißt keiner um!

Wie eine Waffe schwang er seinen Knotenstock: Zöllner und Schmuggler, Schwarzhändler und Schieber, alle halt‘ ich mir vom Leib!

Breitbeinig, wie in der heimischen Scholle verwurzelt, stand er da: Hunderte von Jahren haben die Heidbüchels hier oben im Venn auf dem Leyhof gehaust. Selbst die Lotharinger, die Beutemacher, die entmenschten Horden des Dreißigjährigen Krieges, haben sich nicht an den Leyhof herangewagt. Und da sollte ich, lange Jahr‘ Ehrenbürgermeister von Kalterscheid, dem selbst die Braunen nichts anhaben konnten, mit diesem Gesindel von Faulenzern und Verbrechern nicht fertig werden!

Mit berechtigtem Stolz überschaute er seinen stattlichen Besitz, der vom Pannensterz, der Küpe des Venns, bis zum Leyloch, der Geröllschlucht des Ermesbaches, hinabreichte und der wie eine Festung mit hohen Steinwällen ringsum gesichert war: Von den Vorfahren, freien, alteingesessenen Bauern, ererbt hab‘ ich diese Scholle! Mit meiner Hände Arbeit hab‘ ich sie verbessert und vermehrt! Einen mächtigen Hof hab‘ ich an Stelle des engen, verfallenen Vennhauses erbaut! Solch‘ eine Scheune gibt’s nicht weit und breit! Solch einen Kuhstall sieht man nicht auf dem ganzen Venn! Meine Schutzhecke ist die schönste im ganzen Monschäuerland! Und meine Weiden strotzen vor Grün; sie leuchten aus dem braunen Venn heraus. Und mein Vieh! Das beste auf jeder Ausstellung! Und mein Stier, ein Prachtexemplar!

Wie ein Riese der Vorzeit ragte er vor dem klaren Frühlingshimmel: Keiner hat aber auch so geschuftet wie ich! Wenn die Sonne über den Pannensterz lugte, riß mein Pflug den steinigen Boden auf. Wenn der rote Ball über’m Vennwalde versank, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und schichtete Stein auf Stein, die ich dem Venn abgerungen, zu einem ewig festen Wall, mit dem ich das neugerodete Land umzog. Und meine Söhne plagten sich gleich mir! Der Matthes, stumm wie’n Ochs im Joch. Der Meies, ohne müd‘ und mürrisch zu werden. Der Lambert, mit einem Liedchen in der Kehle. Hätt‘ ich nur kommandiert, sie hätten die Spitzhacke doch bei Sonnenuntergang hingeschmissen. Aber wenn sie mich dann wie besessen weiterrackern sah’n, dann schämten sie sich, zurückzubleiben. Und so haben wir’s geschafft!

Voll Ingrimm stieß er seinen Stock in den Grund: Und wo sind sie jetzt? Hat das Drückchen denn den Teufel im Leib? Dem störrischen Stier vor die Stirn zu schlagen! Wenn der wild wird, dann spießt er sie auf die Hörner und schmeißt sie in die Luft.

Aber Kurasche hat das wilde Ding. Und schau! Der grimme „Cäsar“ duckt den mächtigen Kopf.

Hätt‘ der Jerret nur ’n bißchen von der!

Mit Riesenschritten eilte der Großvater auf die Enkelin zu :„Beß de jeek? Weeßde net, wie weld da weade kann?“

„Da? Vreßt mirr Jras uß dr Hangk!“ lachte das Mädchen und klatschte den Stier übermütig auf die Hinterbacke.

„On wao eß Jerret?“ runzelte der Alte die schlohweißen Brauen.

„Da?“ wirbelte die Tolle ihren Eichenknüpel, mit dem sie widerstörrisches Vieh vor den Kopf schlug, „an dr Hill! Zitzele plöcke!“

Ander Hill! Am Grenzbach! Narzissen pflücken! Und sein Vieh im Stich lassen! Dem Leyhöfer loderte der Zorn ins Gesicht. Er ballte die Fäuste: „Waat merr!“ Doch Drückche lachte den Jähzornigen, dem dann jedermann aus dem Wege ging, ohne Angst und Zittern an: „Beß net kott, Jroßvatter! Mr weaden och aohne da noch veadig!“

Da mußte der Ergrimmte aber doch lächeln: „Mirr!“ Ja, an der ist ein Junge verloren.

Plötzlich schaute der Wildfang den Großvater bittflehend an: „Ich söölt enn e Pangßjonaat! Bei de Bijinge!“

Sie strampelte mit den Beinen wie ein verzogenes Kind: „Onn wä hott hee de Köh?“

Der Alte klopfte der Erbosten beruhigend auf die Schulter: „Enn e Pangßjonaat? En Kohmaat?“

Und lächelnd stapfte er von dannen, der Gertrud, ihrer Mutter, diesem überspannten Fraumensch, einmal gründlich den Kopf zu waschen.

Wie eine Einsiedlerin hauste sie in dem stattlichen Hof, den ihr Mann, der Meies, sich unten im Leyloch, aber noch auf dem Boden des väterlichen Besitztums, erbaut hatte.

Auch der Krieg war über die kränkliche, blasse, stille Frau hinweggebraust. Er hatte ja auch den Leyhof, der wie Kalterscheid im Vorfeld des Westwalles lag, ziemlich verschont. Selbst die kurze Evakuierung durch die Amerikaner, als die Rundstedt-Offensive auch diesen Teil des Venns zu verwüsten drohte, hatte sie nicht aus ihrer Vereinsamung herausgerissen. In einem stillen Dörfchen der Wallonie, dessen Pfarrer aus Kalterscheid stammte, hatte sie wie eine Begine still für sich gelebt, nur durch Drückchens Streiche bekümmert. Bei dem hochgelehrten Pastor, einem weitbekannten Heimatforscher, hatte Jerret wie im Paradies gelebt. Wie eine Magd hatte Bärb im Pfarrhaushalt Hand angelegt. Nur der Leyhöfer war wie geistesabwesend umhergegangen.

Jerret Heidbüchel scheuchte mit Hieben seines Knotenstockes diese bösen Erinnerungen von sich: Wenn ich’s nicht der Frauen und Kinder wegen getan hätt‘!

Rasch schritt er bergab! Gut, daß es vorbei ist! Ein Glück, daß der Leyhof so gut davongekommen ist!

Da lief ihm die Angenieß atemlos entgegen: „Leyhöfer! ’ne vrämde Hähr eß dao! Da well üch spräche! Ha hätt‘ et iilig!“

Keinen Schritt schneller ging der Leyhöfer: Ein fremder Herr, der es eilig hatte! Wohl wieder solch ein Schmarotzer vom Ernährungsamt, der unter dem Schein strenger Haussuchung ein Pfund Butter zu ergattern sucht! Oder solch ein Erpresser vom Finanzamt!

Er verlangsamte sogar noch seinen Schritt: Eilig! Der Leyhöfer hat Zeit!

„Wat kost‘ der janze Schwindel?“

Der König der Schieber war großartig aus seinem Maybach ausgestiegen, der vor dem Eingangstor der Schutzhecke hielt. Breitbeinig stand die massige Gestalt vor dem Leyhöfer, der unwillig die Stirn runzelte und kein Wort erwiderte.

Verächtlich wies die von kostbaren Ringen blitzende Rechte der „Teuerung“ über den Leyhof hin: „Die paar Lappen Land!“

Da trat Jerret Heidbüchel ganz nahe an den Eindringling heran: „Den Leyhof verkauft man nicht!“

Mitleidig lächelnd zog der Fürst der Schwarzhändler seine gespickte Brieftasche aus feinstem Juchtenleder hervor, riß einen Packen Tausendmarkscheine heraus, blies mächtig in die Backen und schrie: „Iß dat ’n Pappenstiel?“

Der Leyhöfer kehrte dem Großsprecher kurz den Rücken und schritt gelassen auf die Gattertür seines Wohnhauses zu.

Wie verzweifelt stürzte der Großm*kler hinter dem „Grobian“ her: „Aber nu hören Se doch! Da drüber läßt sich doch noch reden!“

Der Leyhöfer schlug ihm das Gatter vor der Nase zu.

Doch der Abgefertigte ließ sich nicht die Tür weisen: „Aber nu nehmen Se doch Vernunft an!“

Der Leyhöfer krachte auch die Tür der Wohnstube zu.

Schon stand der Hartnäckige im Küchenflur. Selbst Bärbs: „Wat wellt dann da hee?“ schüchterte ihn nicht ein. Schon drang er in die Wohnstube ein. Sogar das ,,’raus!“ des Leyhöfers, der sich drohend vor ihm aufpflanzte, trieb ihn nicht zurück.

Erregt warf er ein paar Packen Tausender auf den Tisch: „Auf ’n paar hundert Mille kommt’s mir nicht an!“

Der Leyhöfer sah den Haufen Scheine nicht mal an: „Ich hab‘ Ihnen doch schon gesagt, der Leyhof wird nicht verkauft!“

Da schlug der Händler mit der Faust auf den Tisch: „Aber ich brauch’n doch! Für meine Jagd!“

Scharf blickte der Leyhöfer den Lügner an: „Für Ihren Schwarzhandel, meinen Sie wohl. Dafür liegt er ja hübsch an der Grenze.“

Da geriet der Durchschaute ganz aus der Fassung: „De Jagd hab‘ ich mir gepachtet! Wat der Prym kann, dat kann ich auch!“

„Um hier oben Schmuggel und Schwarzhandel im Großen treiben zu können“, durchbohrte den Schwindler des Leyhofers Blick.

Sein letztes Wort war unsägliche Verachtung: „Der Leyhof ’n Schmugglerzentral‘!“

Da wurde das verschlagene Gesicht der „Teuerung“ zur teuflischen Fratze: „Ich geh‘! Aber ich komm‘ wieder! Wenn Ihr verreckt seid! Dann werden Eure Weibsbilder — von Euren Söhnen kommt doch keiner zurück — auf den Knien vor mir rutschen: Kauft den Leyhof doch! Wir wissen ja doch nix damit anzufangen. Aber dann mach‘ ich den Preis!“

„’raus!“ brüllte der Leyhof er und hob die Faust zum Hieb.

Hastig stopfte der König der Schieber seine Tausender wieder in die juchtenlederne Tasche. Mit einem Sprung war er aus der Stube, in ein paar Sätzen durch den Küchenflur und das Buchentor. Dort drohte er mit der geballten Faust zum Leyhof hinüber: „Wart‘ nur, ich komm‘ wieder!“ Großmächtig befahl er dann dem Livrierten: „Nach Kalterscheid! Zum Bürgermeisteramt!“ Drinnen murmelte er rachsüchtig: „Dich krieg‘ ich schon, Grobian!“ Schadenfroh rieb er sich die beringten Hände: Was wird der Augen machen, wenn er seinen Matthes wiedersieht!“ Pfiffig lächelte sein widerwärtig feistes Gesicht: „Wat der Prym kann, dat kann ich auch!“

Als sein Maybach in Kalterscheid vor dem Bürgermeisteramt anlangte, da war auch die Kraftpost gerade angekommen. Mit unverhohlener Bewunderung, ja Ehrfurcht schauten die Schwarzhändler und Schmuggler ihrem „Chef“ zu, wie er, einem Potentaten gleich, aus dem feudalen Wagen stieg und wie ein Triumphator auf das Tor des Bürgermeisteramtes zuschritt. Ein großartiger Kerl! Un‘ wat für’n Wagen! Wer ‚t doch auch soweit brächt‘! Mächtig angefeuert, schwärmten sie zu neuen Taten aus, die Schwarzhändler ins Dorf, die Schmuggler an die Grenze.

Unter den Letzten, die aus dem Postwagen stiegen, waren die beiden hungerblassen Großstadtkinder, der hochaufgeschossene, schwindsuchtsschmale Junge, das schreckhaft abgemagerte Mädchen.

Ängstlich hielten die Geschwister sich an der Hand. Ob’s noch weit bis zum Leyhof ist? Wie wird die Tante uns aufnehmen? Und wie kommen wir dorthin?

Ratlos schauten die Verschüchterten sich im Kreise um.

Doch keiner der zahlreichen Zuschauer, die wie üblich den Postwagen umringten, nahmen von den beiden „Bettelkindern“ die geringste Notiz.

Aller Augen starrten den Zerlumpten an, der als Letzter die Kraftpost mühsam verließ: Wat iß dat denn für einer? Wat will denn der hier?

Wahrscheinlich einer von den Faulenzern, die um ein Stück Brot betteln, aber gleichzeitig ein Stück Speck verschwinden lassen.

Wer hätte denn auch in diesem menschlichen Wrack den Matthes Heidbüchel, den Sohn des Leyhofers, erkannt?

So war noch nie ein Kriegsgefangener zurückgekommen. Die meisten waren ja gutbekleidet und wohlgenährt aus England oder Frankreich heimgekehrt. Aus Rußland hatte noch keiner heimgefunden.

Mein Gott, sah dieser Mensch aus! Das war ja nur Haut und Knochen. War das ein Mann oder ein Greis? Wer lief denn so in Lumpen herum? Da wandelte manchen der Zuschauer doch ein Mitleid an: Man müßte ihn doch mal satt machen!

Der Zerlumpte aber schaute nicht mal auf. Wie ein Blinder tastete er sich mit seinem Stecken vorwärts. Zu keinem sprach er ein Wort.

Der Kirchwirt, der in der Tür stand, schüttelte den Kopf: Wo will denn der hin? Der biegt ja auf den Weg zum Leyhof ab!

Da sprachen ihn die beiden Großstadtkinder an, wohin es denn zum Leyhof ginge. Unwillig wies, Johannesjoseph hinter dem „Vagabunden“ her: Auch wieder solch Gelichter, das über die Grenze will!

„Siehst du denn nicht, wie die ausseh’n?“ schalt Kathringche, seine dicke, gutherzige Frau, und sie watschelte schnell in die Küche, den armen Kindern ein paar Butterbrote zu machen.

„Schnell, loof!“ befahl sie dem Jretchen, ihrem nicht minder mitleidigen Töchterchen, „du hölls se noch enn!“

Knurrend ging der Kirchwirt wieder an seinen Auslug: Die hetzt uns noch das ganze Gesindel auf den Hals!

Er kratzte sich das stopplige Kinn: Der Kerl in Lumpen kommt mir so bekannt vor ….

Doch der hatte nicht lange Zeit zum Nachdenken. Lärmend lümmelten sich ein paar halbwüchsige Grenzläufer herein. Stürmisch verlangten sie nach Schnaps. Als der Kirchwirt brummend erwiderte, keinen im Haus zu haben, warfen sie lachend einen Haufen schmutziger, zerrissener Scheine auf das Blech der Theke: „Her damit!“

Finster schob Johannesjoseph das Papiergeld zurück: „Bei mir jibts keinen Schnaps!“

Da scharrte der Anführer der Burschen höhnisch die Scheine zusammen: „An dr Jrenz! Un keine Schabau!“ Ein anderer tippte auf die Stirn: „Hengerem Maond!“ Pfiffig raunte ein Dritter: „Wat zahls de vörr de Flasch‘?“

Draußen ertönte ein Pfiff. Im Nu war die Bande verschwunden.

Schon stand ein Zöllner vor der Theke: „Sie haben doch keinen Schnaps aus-jeschenkt?“

Der Kirchwirt brummte grob: „Bin ich von der Sort? Wären Se länger hier, dann kannten Se mich!“

„Nix vür unjut!“ machte der Grüne gut Wetter, „aber det Jesindel is zu allem fähig. Dat wissen Se doch.“

„Ich halt‘ se mir vom Leib!“ knurrte der Kirchwirt, „wenn’t sein muß, mit der Mistjabel!“

„Uii‘ wir mit ‚m Karabiner!“ reckte sich der Zöllner, „immer unverschämter wird das Pack!“ Zwei Finger an die Mütze schnellend, ging er hinaus.

„Haben’s ja nicht leicht, die Grünen!“ schaute der Kirchwirt aus der Türe ihm nach, wie er eiligst auf der Straße nach dem Leyhof hinabstob. Mit Handgranaten setzten die rabiaten Burschen sich gegen die Zöllner zur Wehr.

Mürrisch ließ er einen dorfbekannten Schwarzhändler ein, dem er seine Wirtschaft ja nicht verbieten konnte.

Als auch der Schnaps verlangte und Seidenstrümpfe für die Frau zum Tausch für eine Flasche Schnaps anbot, ließ der Kirchwirt ihn stehen.

„Hinter’m Mond!“ schrie der Händler erbost und schlug die Tür hinter sich zu.

Atemlos berichtete das Jretchen in der Küche, daß die beiden Kinder zur Tante auf den Leyhof wollten, daß die Mutter in Köln gestorben und der Vater in Rußland gefallen sei.

Gerührt wischte Kathringchen, die Mutter, sich ein Tränchen: „Jestorve? Dat Zillche? Dat ärem Deer! Hat en singem Leäve nett vell Freud gehatt! ’ne Musikant, da drengkt! Dorömm woolt‘ och die Jertrud vom Leyhof, die vornehm‘ Schwester, nix von der Musikantenvrau wesse. E Jlöck, dat e jevallen eß! Ävver die Kengk, die arm Kengk!“

Ob sie auch mit dem fremden Mann gesprochen hätte, forschte der Vater. Da tropften auch dem Jretchen die Tränen: „Erbärmlich sah da aus! Wie’t Leiden Christi!“

Den Kirchwirt überkam plötzlich eine furchtbare Ahnung: Großer Gott! das wird doch nicht der Matthes vom Leyhof gewesen sein! Das war doch kein Mensch mehr! Furchtbares hatte man ja schon von Rußland gehört. Aber so! Nun überkam auch den Johannesjoseph das Mitleid: Armer Freund! Was hast du mitgemacht! Und warst doch ein Kerl wie ein Baum Und treu wie Gold! Mir der liebste Kamerad!

Und hast mich nicht mal angeguckt! Mich, deinen Johannesjoseph, mit dem du zusammen bei den 25ern gedient hast, mit dem du zusammen durch dick und dünn gegangen bist!

Hast du mich denn nicht erkannt? Oder hast du nichts mehr von mir wissen wollen? Geschämt hat er sich! Ein Leyhöfer in Lumpen!

Vom Nagel riß er seinen Hut. Den Weg zum Leyhof stürmte er hinab: Ich muß ihn sprechen! Ich muß ihm sagen, daß er auch in Lumpen für mich der Matthes, der liebste, beste Kamerad geblieben ist!

Wie ein Roboter stapfte der Heimkehrer indessen dahin. Nur heim!, war sein einziger Gedanke. Die Lumpen vom Leib! Sich mal satt essen! Sich mal ausschlafen!

An Frau und Kind dachte er kaum. Das Wiedersehen mit dem Vater erregte ihn nicht. Erst wieder Mensch werden!

Aber er war noch zu matt, um seine Schritte zu beschleunigen. Wie ein Kranker tastete er sich voran.

So hatten ihn die beiden Kinder bald erreicht. Mitleidig blieb das Mädchen stehn: „Können wir dir helfen?“ Voller Teilnahme schaute der Knabe ihn an: „Ihr werdet müde sein. Habt Ihr noch weit?“

Da leuchtete es zum ersten Mal in des Rußlandfahrers Augen auf: „Bald bin ich daheim!“

„Matthes, Matthes!“ scholl es da hinter ihm her. Und Johannesjoseph stürzte auf ihn zu, sah ihm in die Augen, rüttelte, schüttelte ihn, um sich zu überzeugen, ob er noch lebte. „Jott, dat de dao beß! Jott, dat de dao beß!“ stieß er immer wieder hervor.

Da huschet es wie Sonnenschein über des Zerlumpten verwitterte Züge: „Enne hat mich da doch erkannt!“

Aber gleich wurde das verwüstete Antlitz wieder starr und grau: „Wie ’ne Lomp senn ich uß!“

„Huck noch, ävver morrje net mie!“ drückte der Freund herzinnig die zerschun-dcnen Hände, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

„Morje beß de weer Heedböchels Matthes, dem Leyhövver singe Jong!“ hielt der Kirchwirt die Hände des Kameraden umklammert.

„Wenn Vatter mich su sitt!“ stöhnte der Heimkehrer.

„Dann vreut e sich, dat de weer dao beß!“ preßte Johannesjoseph die geliebten Hände, die so vieles erlitten.

Dann ließ er sie los: „Doch nu jangk! On loß Bärb on Jerret net waade!“

Bärb! Jerret! Wieder schoß ein Strahl aus den abgestumpften Augen.

Und zum ersten Mal schritt der Heimkehrer lebensfroher gradeaus.

„Ohm Matthes“ lachte das Mädchen ihm zu, „nimmst du uns mit? -Wir sind Cäciliens Kinder.“

Es zuckte in dem verrunzelten Gesicht: „Da kott mett!“

Tapfer schritt der Knabe nebenher: „Ohm Matthes! Meinst du, wir könnten auf dem Leyhof bleiben? Vater ist gefallen, Mutter ist tot!“

Freudig klang da des Kirchwirts Stimme: „Matthes, da weß de jao direkt, wat de ze donn haß!“

Noch einmal drückte er des Freundes Hand: „Ävver nu maat, dat ‚r op d’r Leyhoff kott! Atschüß!“

Und er machte jählings kehrt, um seine Rührung zu verbergen: Ohm Matthes, wie kindlich das klang! Da hat der Herrgott ihn ja wieder zum Vater gemacht.

Er gewahrte die wüsten Scharen der Grenzläufer nicht, die johlend und pfeifend an ihm vorbei lümmelten: Das wird ihm gleich über vieles hinweg helfen!

Er übersah auch die Zöllner, die schwerbewaffnet auf Motorrädern an den Schmugglerhorden vorüberstoben: Da hat der Jerret ja liebe Geschwister! Er überhörte die gemeinen Schimpfworte, die drohend hinter den Beamten herschallten: Da hat das wilde Drückchen ja eine sanfte Gespielin!

Auch Matthes Heidbüchel beachtete die lärmende Horde nicht: Cäciliens Kinder! Da hat der Jerret ja gleich Bruder und Schwester!

Fester stieß er seinen Knotenstock auf: Natürlich bleiben sie da! Da kann der Vater doch nicht nein sagen! Und der Gertrud werd‘ ich den Kopf waschen. Die Kinder ihrer verstorbenen Schwester fast verhungern zu lassen!

Wieder verfinsterten sich die vergrämten Züge: Ob die weiß, was Hunger ist?

Dann blühte ein zärtliches Lächeln über seines Antlitzes Verwüstung: Aber nun müssen sie sich einmal rundherum sattessen! Das Mädchen muß wieder rund und rosig, der Junge wieder voll und stark werden! Und der Jerret läuft nun auch nicht mehr mutterseelenallein herum!

Wieder verloren die Augen den aufleuchtenden Glanz: Aber ob Bärb das mitmacht? Das bringt doch nichts ein! Zum Ackerknecht, zur Stallmagd sind die doch nicht zu gebrauchen!

„Ohm Matthes“, fragt da eine sanfte Mädchenstimme, „bist du noch nicht müd‘?“

Hat das in den Jahren der Knechtschaft je ein Mensch zu mir gesagt?

„Ohm Matthes“, bangte da eine hüstelnde Knabenstimme, „meinst du, sie behielten uns da?“

Sie behielten uns da! Hat je ein Menschenantlitz in all den Jahren der Fron so vertrauensvoll zu mir aufgeschaut? Und er nahm den Zagen wie ein Vater an die Hand: „Wo ich bleib‘, da bleibst du auch!“

Da hing das Mädchen sich zärtlich in seinen Arm.

So kamen die drei an das Brückchen, das heuwagenbreit hoch über den schäumenden Vennbach führt. Schon tauchte im Leyloch das Haus Gertruds, der Schwägerin, auf. Wie immer waren die Fensterschläge verschlossen. Nein, gelobte Matthes sich, da laß ich die beiden nicht einsperren! Rascher schritt er bergauf.

Er vergaß, um seiner Schützlinge willen, daß er vor dem Wiedersehn mit dem Vater bangte, daß er verdreckt und zerlumpt, daß er kaum ein Mensch mehr war: Unter meinen Augen will ich sie haben!

Schon leuchtete die Buchenhecke vor ihm auf. Und im Tor des frühlingszarten Grüns stand breitbeinig, stirnrunzelnd, wie in feindseliger Abwehr, der Leyhöfer da.

War das schon wieder solch ein Vagabund, einer von diesen lumpigen Bettlern und frechen Faulenzern, wie sie Tag für Tag den Leyhof belästigten? Einer von den Verschlagenen, die ihre Bälge mitschleppten, um das Mitleid der Weibsbilder zu erregen?

Wie der Kerl aussieht! Keinen Hut auf dem struppigen Kopf! Keine Schuhe an den strolchenden Füßen! Rock und Hosen nichts als dreckiges Gelump! Und ein Gesicht! Ist das noch ein Mensch?

Den Hund sollte man auf so einen loslassen! Einsperren sollte man das Gelichter, daß es, statt durchs Land zu betteln, sich an’s Arbeiten gewöhnt. In ’ne Besserungsanstalt mit der Brut! Schuften von morgens früh bis abends spät, daß sie zu ordentlichen Menschen und nicht zu solchem Gesindel wird, das über die Grenze strolcht und den Handlanger der Schmuggler macht!

So’n hochaufgeschossener Junge ist doch alt genug, um im Stall oder in der Scheune zuzupacken oder ein ehrliches Handwerk zu erlernen! Und das Mädchen, so armselig es aussieht, könnte doch auch schon in der Küche mithelfen! Aber nein! Betteln ist bequemer! Das Gesicht zum Heulen verzieh’n, sein eingetrichtertes Sprüchlein herunterleiern! Ja, das kennt man. Ein Stück Brot oder hintenherum ein Stück Speck in den Bettelsack und dann — husch! husch! — über die Grenze! Da drüben das gleiche Spiel zu treiben und mit den erbettelten Centimes Schwarzhandel zu „organisieren“!

Der Leyhöfer stellte sich, den Eingang versperrend, mitten ins Buchentor. Nein, das mach‘ ich nicht mehr mit!

Doch die drei kamen immer näher.

Des Leyhöfers finstere Augen funkelten vor Zorn: Bin ich für die denn Luft? Purpurrot vor Zorn wandte er sich um und schrie in den Hof: „Bärb, maach d’r Nero laoß!“

Schon sauste der Nero, der Hüter des Hofes, ein grimmer Wolfshund, kläffend an seinem Herrn vorüber. Gierig schoß er auf die „Eindringlinge“ los.

Ist das Vieh verhext? Das springt ja schweifwedelnd, vor Freude wie toll, an dem Kerl empor! Und der streichelt es, drückt es an sich, das Biest!

Erregt sprang der Eeyhofer ein paar Schritte vor: Da hört sich aber alles auf!

Wild kläffend raste der Nero zu seinem Herrn zurück. Auch ein Fußtritt dämpfte seinen Jubel nicht.

Nun stand der „Vagabund“ dem Leyhöfer Auge im Auge gegenüber.

Der Leyhöfer sah nur ein zuckendes fremdes Gesicht, eine zerlumpte, verdreckte Gestalt. Schon hob er die Faust zum Schlag.

„Vatter!“

Das flehte wie der Schrei eines Versinkenden aus der Tiefe einer verzweifelten Seele empor. Das schoß wie ein Blitz aus den weitaufgerissenen Augen. Das griff mit beiden zitternden Händen nach eines Retters Heil.

Da erkannte der Vater in dem Verkommenen seinen Sohn. Er taumelte zurück. Seine Arme griffen in die Luft. „Matthes!“ keuchte er aus der röchelnden Brust.

„Vatter!“ fing der Zerlumpte den Wankenden auf.

Und die beiden Kinder sprangen hinzu, ihm zu helfen.

„Su köß du heem!“ stieß der Verstörte hervor. Ein wirrer Blick tastete über das verrunzelte, verwitterte Gesicht des Sohnes, über die armseligen Lumpen, über die abgemagerte Gestalt.

„Vatter!“ flüsterte die aufquellende Liebe des Sohnes, „wie vröu ich mich, dat ich weer hee benn!“

Und der Nero leckte mitleidig die schlaff herabhängenden Hände seines Herrn.

Und die beiden Kinder traten voll Besorgnis näher heran.

Doch schon hatte der Bauer sich wieder aufgereckt. Der Leyhöfer war er wieder ganz. „Komm!“ befahl er fast barsch, „su brucht dich kenne ze senn!“

Und er leitete den Zerlumpten um die Schutzhecke herum zu einem Seitenaus-gang des Hofes.

„Onn da Jong? On dat Mättche?“ blickte er auf die zagenden Kinder, „haß de die uß Rußland mettbraat?“

„Dem Zillche sing Kengk!“ raunte bittflehend, aber entschlossen der Sohn, „hann kenne Vatter on keen‘ Motter mie!“

„Komm, komm!“ drängte der Alte, „enn d’r Schür kaß de dich ömmtrecke, dat Bärb brucht dich su net vörr de Ooge ze krie!“

„Onn e Kölle mösse se verhongere!“

„Wie ’ne Beddeler sißde uß!“

„Onn d’r Jerret hätt‘ Broder onn Schwester.“

„Och d’r Jerret daasch si Vatter net esu senn!“

„“Wat maat ha? Scheckt ha sich jott? Eß ha jrueß woade?“ brach die väterliche Sorge sich nun Bahn.

„Jrueß, jao, ävver ’ne Buur noch immer net!“ offenbarte sich des Großvaters Groll, „doch komm, dat de weer Mingsch wiesch!“

Und er zog den von Lumpen Entstellten zu dem Hintertörchen hinein.

„Kott mett!“ rief er dabei unwirsch Cäciliens Kindern zu, „verbergt üch henger de Schür, beß ich üch roffe! D’r Nero blievt bei üch!“ Und der kluge Hund wedelte verständnisvoll mit dem Schweif.

Unbemerkt schlüpften Vater und Sohn dann in die Scheune hinein. Indess‘ der Vater sich in sein Schlafzimmer stahl, Wäsche, Kleider aus dem Schrank zu reißen, setzte der Sohn sich aufatmend in einen düsteren „Winkel der weiten Scheune. So, das erste ist vorbei! Freude wallte in ihm auf: Bald bin ich wieder ein Mensch! Tief verkroch er sich ins Heu. Denn auch ihn, den Bauernsproß, überfiel nun wie den Vater die Scham, wie ein Vagabund vor Frau und Kindern dazustehen. Nein! Dies entsetzliche Bild durften sie nicht seh’n! Ewig würde ihnen diese Schmach vor Augen bleiben! Tiefer noch wühlte er sich hinein. Wie ein Dieb verbarg er sich, der sich umstellt weiß und vor der Entdeckung bangt.

Ja, der Vater hat recht: So darf keiner den Sohn des Leyhöfers sehn! Darum hat er mich auch nicht erkannt. Unfaßbar war es ihm ja, daß ein Verlumpter, Verdreckter sein Sohn sein könnte! Ein Heidbüchel ein Vagabund! Schlimmer als das Gesindel, das tagtäglich um den Hof herumlungerte! Wie konnte er wissen, ob sein Sohn nicht auch vor lauter Elend so verkommen war! Ein Eeyhöfer ein Eump!

Vor Scham versteckte er sich ganz: In dieser Erbärmlichkeit darf mich keiner finden! Vor allem Bärb nicht! Ihr Bauernstolz würd‘ das nie verwinden! On d’r Jerret! Der arme Junge würde nie mehr lachen! Cäciliens Kinder, die sind schon an so was gewöhnt. So was sieht man in Köln alle Tage.

Eine große Freude erfüllte ihn ganz: Kott mett!, hat er gesagt. Das heißt: Bleibt hier! Es wurde ihm ganz warm: Ein neues Eeben fängt dann auf dem Eeyhof an! Cäciliens Sohn scheint ein feiner, kluger Junge zu sein. Da hat der Jerret den rechten Kamerad. Cäciliens Tochter, ein sanftes, liebevolles Mädchen, wird selbst Bärb zusagen, wird dem Drückchen, Gertruds wilder Tochter, eine Freundin zum Guten sein. Der Gertrud aber werd‘ ich schori die Eeviten lesen, die Kinder in Köln fast verhungern zu lassen!

Da stand der Vater vor ihm. Kleider, Wäsche hatte er auf dem Arm. Schäftestiefel trug er in der Hand! Grimmig lächelnd wies er auf seinen Sonntagshut: „Da wird d’r wähl passe?“ — „Wo stech’s de dann?“ knurrte er, die Stimme dämpfend, „baald bruch’s de dich net mie ze verkruffe!“

Und als der Zerlumpte aus dem Heu herauskroch, warf er ihm die Kleidung hin: „Nu flott, dat de weer Mingsch wiesch! Ich stelle mich an de Dur on passen op!“

Wie ein Wächter pflanzte er sich vors Scheunentor. Vor Scham kehrte er dem sich Umwandelnden den Rücken zu. Auch er, der Vater, wollte des Sohnes Schande nicht mehr sehn! Wie Sträflingskleidung riß der Zerlumpte sich die Fetzen vom Eeib! Der aus schmutzigen Eappen zusammengeflickte Rock, das verdreckte, zerrissene Hemd flogen in die Ecke. Voll Ekel wurde die schmierige Hose abgestreift und wie verpestetes Zeug fortgeschleudert. Das Gelump, das die mißhandelten Füße umschnürte, ward verächtlich bei Seite geworfen. In erbärmlicher Nacktheit stand der einstige Sowjetsklave da. „Ein Glück, daß Vater mich so nicht sieht!“, schoß dem bis auf die Rippen abgemagerten Fronknecht die Scham ins Gesicht.

Fieberhaft zog er sich an. Ha, wie umfing das reine, kühle Hemd die schlotternden Glieder! Eine Unterhose! Wie ein General kommt man sich vor! Und Strümpfe an die Füße! So was trägt ja in Rußland nicht mal ’n Lagerkommandant! Das ist ja Vaters Sonntagshose! Das Beste ist ihm für mich nicht gut genug! Und das ist sein bester Rock! Daran sieht man, wie lieb er mich hat! Kragen und Schlips, nun, das gehört dazu. Hau‘ nie gedacht, daß mir das nach all den Jahren so sauer würd‘! Mit den Schäftestiefeln geht’s flott; das kennt man vom Kommis. Aber so’n Hut? Muß das sein? „So, fertig!“

Voller Erwartung drehte der Leyhöfer sich um: Gott sei Dank!, nun sah er wieder menschlich aus! So konnte er sich den Seinen wieder zeigen! War er auch schrecklich abgemagert, die Lumpen waren ‚runter! Auch der verstörte Blick war wieder freier geworden! War er auch noch nicht ganz der alte Matthes, wenigstens glich er ihm!

So wird Bärb ihn wiedererkennen. So entsetzt der Jerret sich nicht.

„Dat Lompezüch wied morjen en aller Herrgottsvröh verbrannt!“ wies er verächtlich auf den armseligen Haufen. Schamrot verscharrte Matthes es im Heu.

Dann traten die beiden aufatmend aus der Scheune: Gottlob, keiner hatte etwas bemerkt! Nun galt’s, die Frauen zu überlisten. Durchs Hintertörchen heraus und in weitem Bogen um die Schutzhecke herum! *Wie von Kalterscheid kam man dann durchs Buchentor hinein.

„Und die Kinder?“ fragte fürsorglich Matthes, der sich seiner Eigensucht schämte.

„Die kommen nachher dran!“ lächelte der Leyhöfer, „der Nero sorgt ja dafür, dat Ihnen nix passiert.“

Da wußte der Sohn, daß der Vater Cäciliens Kinder nicht im Stich lassen würde.

„Onn d’r Jerret?“ fiel er wieder aus dem fremden Hochdeutsch ins heimische Platt zurück.

„An d’r Hill, Zitzele plöcke!“ brummte der Großvater, „uß dam moßde enns ene Buur maache! Böcher läsen oder em Venn ‚römstriife! Onn et Veeh lett’n em Pleck!“ Jerrets Vater seufzte verstohlen: Bücherlesen und im Venn ‚rumstreifen! Hatte man das nicht früher selbst getan? Man hätte ja lieber auch selber studiert und dem Meies, dem Zweiten, das Bauerspielen überlassen. Aber das hatte nun mal so sein müssen. Der Älteste gehörte ja auf den Hof. Das hatte man dann ja auch eingesehn. Mit dem Vater war ja auch nicht gut Kirschen essen gewesen.

Er sann vor sich hin, indem er langsam neben dem Alten einherschritt: Ja, wenn die Bärb …. Oder wenn der Lambert wiederkam’….

Aber aus Stalingrad war noch keiner zurück ….

Da krachte es droben an der Grenze, ein zwei, drei Mal, eine ganze Reihe von Schüssen! Der Heimkehrer fuhr zusammen: Mein Gott! Das ist ja ein Feuergefecht!

Der Leyhöfer ballte die Faust: „Immer dreister wird das Pack!“

Erbleichend blieb der Rußlandkämpfer stehn: „Da schmeißen sie ja mit Handgranaten!“

Der Leyhöfer lachte grimmig auf: „Se hann et jao im Kreech jeliert!“ Hastig berichtete er dem Heimgekehrten, was oben auf dem Venn, in dem Urwald an der Grenze, auf dem Pannensterz Tag für Tag vor sich ging, wie Horden großstädtischer Schmuggler, halbwüchsige Burschen aus dem Ruhrgebiet, Kriegsteilnehmer, denen das Landsknechtstum noch in den Knochen steckte, Schwarzhändler, die im Vennwalde die geschmuggelte Ware in Empfang nahmen und mit Pistole oder Handgranate gegen die Zöllner verteidigten, Waghälse, Verbrecher, denen es auf ein Menschenleben nicht ankam, die den Grenzbeamten wahre Schlachten lieferten, bei denen es auf beiden Seiten Tote und Verwundete gab.

„Onn d’r Jerret eß an d’r Hill?“ stieß Matthes, von der Angst gepackt, hervor.

„Merr welle hoffe, dat e zeröck es!“ erbleichte der Großvaetr.

Von der gleichen Sorge gehetzt, stürmten die beiden dem Leyhofe zu: Großer Gott, wenn der Junge dazwischen geraten war‘!

Da kam ihnen schon Bärb, die Mutter, aus dem Buchentor entgegengelaufen: „Hurt ‚r dat Schüüße da nett? Onn d’r Jerret eß em Venn!“ Mit einem Blick erkannte sie ihren Mann: „Matthes!“ Sie fiel ihm nicht um den Hals. Dazu war sie zu aufgeregt. „Hurt ‚r? Da kraacht et weer?“ Sie fragte auch nicht: Woher kommst du? Wie ist es dir ergangen? Die Angst um ihr Kind drängte jede Frage zurück. Keinen Liebesblick gönnte sie dem nach Jahren Heimgekehrten. Wie eine Furie fuhr sie Schwiegervater und Gatten an: „Onn dao spazeert irr su jemächlich d’r Berg erop!“

„Eß d’r Jerret da noch net heem?“ stammelte der Alte. Er war weiß wie die Wand.

„Wörr ich üch dann entschän jeloofe?“ kreischte die Verzweifelte.

„Onn dat Drückche? Onn dat Veeh?“ wischte der Leyhöfer sich den kalten Schweiß von der Stirn.

„Wat jeht mich dat doll Vraumingsch aa!“ zeterte die sonst so Kühle aus Rand und Band, „watt litt mirr an ührem Veeh!“

Rasend fiel sie über den todbleichen Matthes her: „Onn du stehs‘ dao, wie wenn de vaßgewaaße wösch! Haß d’r jao och Zick jelosse, vörr heem ze komme! Watt jeht dich Doudeeßem och Vrau on Kengk aa!“

Der Matthes erwiderte kein Wort.

„Wäo jeht et naom Pannesterz?“ fragte er den Vater gelassen.

„Wie kaßde da!“ schüttelte der den Kopf.

„Ich moß e holle jaon!“ erwiderte der Sohn entschlossen.,

„Blief hee!“ widersprach der Alte heftig, „dat eß ming Saach!“

Die Schwiegertochter schnaubte: „Wenn ‚r net baald vüraa maat, da jaon ich!“

Da machten die beiden Männer sich eiligst auf den Weg. Verbissen sah Bärb ihnen nach. Dann rannte sie besessen auf den Hof.

Und wieder krachte es auf dem Pannensterz. Wie wahnwitzig drohte Bä.rb mit der Faust….

Von furchtbarer Ahnung gehetzt, hasteten Vater und Sohn über die Weiden des Leyhofes zum Venn hin. Doch Matthes hatte seine Kräfte überschätzt. Die furchtbaren Leiden der letzten Jahre hatten seinem ausgemergelten Körper doch zu sehr zugesetzt. Keuchend mühte er sich hinter dem Vater her. Aber er biß die Zähne zusammen; er wollte nicht klein beigeben. t

Ha! Da dröhnte wieder aus dem Vennwalde ein Schuß. Großer Gott, wenn Jerret dazwischen gerät! Der Großvater stürmte auf den Venngipfel zu. Mochte der Matthes sehn, wie er mitkam! Helfen konnte er doch nicht viel. Ich muß beibleiben um jeden Preis, riß Jerrets Vater sich voran. Schon waren sie bei der Viehherde, die vor Schreck über die Schüsse hin und her rannte. Wild peitschte der Schweif des Stieres Weichen. Mit dem Knüppel trieb Drückchen den Ungebärdigen vor sich her: Willst du wohl!

Der Leyhöfer hatte keine Augen für sein Vieh. Wie leicht konnte eine Kugel den Jerret treffen!

Der Matthes konnte nicht mehr. Alles schwamm ihm vor den Augen. Vor Schwäche zitterten ihm die Knie. Er mußte sich setzen.

Das Drückchen, in der Meinung, einen Vagabunden vor sich zu haben, schwang drohend ihren Knüpel: „Wat hast du hier verloren?“

„Dat eß doch Ohm Matthes!“ schrie der Großvater, den Kopf wendend.

Das Drückchen schüttelte verächtlich die rotblonden Locken: „Da?!“ Und sie trieb ihre Herde mit Knüttelhieben vor sich her.

Die Schießerei beunruhigte sie nicht. Das hatte man schon so oft erlebt.

„Wo eß Jerret?“ rief der Großvater im Laufen. Sie wies mit ihrem Knüppel in die Richtung der Hill. Mein Gott! Der ist ja ganz aus dem Häuschen! Wo soll der Träumer denn anders stecken? Hockt wohl mitten im Bach auf einem Wacken, ein Buch in der Hand, und vergißt, daß es einen Leyhof auf der Welt gibt.

Ein verstohlener Blick schoß nach dem Fremden hinüber: Das soll Ohm Matthes sein? Dieser Jammerlappen? Der sich kaum auf den Beinen halten kann!

Der Fremde hatte sich auf den niederen Steinwall gesetzt, den er einst mit dem Vater und den Brüdern in harter Arbeit aus gerodeten Brocken geschichtet hatte. Verzweiflung übermannte ihn: Nun hock‘ ich hier, und der Jerret irrt vielleicht herum zwischen Leben und Tod!

Der Leyhöfer hatte die Grenze erreicht, die längs eines vergrasten Karrenweges, einer vergessenen‘ Römerstraße, durch den Vennwald über den Kamm des weiten Höhenrückens hinüberführte.

Da scholl ihm aus dem Dickicht ein Halt entgegen. Schon hob sich eines Karabiners Lauf: „Halt!“ Der Leyhöfer störte sich nicht daran. Blind! Die erste Warnung. Da krachte schon der Schuß. In weiten Sätzen hetzte er zur Hill hinab.

Hau Auf dem schmalen Pfädchen, das aus der Tiefe des Vennbaches zum Pannensterz hinaufführte, hatte er den Jerret erkannt, der mit einem großen, um seinen Stecken gebundenen Strauß Narzissen ganz gemächlich heraufkam.

„Jerret!“ Jubelnd hallte des Großvaters Erkennungsruf übers Venn.

„Großvater!“ gab der Knabe fröhliche Antwort.

„Halt!“ donnerte des Zöllners zweite Warnung hinter dem Leyhöfer her.

„Jerret!“ jauchzte dem Winkenden die Freude des Wiedersehens entgegen.

„Halt!“ warnte ein blinder Schuß zum dritten Mal.

„Jerret!“ klang’s wie der Schrei eines Erlösten.

Da hallte der Todesschuß. In den Rücken getroffen, warf der Leyhöfer die Arme empor. Dann brach er wie eine gefällte Eiche nieder.

„Großvater! Großvater!“ schrie der Jerret in höchster Verzweiflung. In gestrecktem Lauf stürmte er heran. Schluchzend warf er sich über den Sterbenden: „Nicht sterben, Großvater! Nicht sterben!“

Der Großvater konnte nicht mehr sprechen. Er röchelte nur. Aber er erkannte den Knaben noch. Er schaute ihn an mit einem letzten, innigen Blick. Dieser Blick sprach mit einem Male alles das aus, was der strenge Mund im Leben verschwiegen: Was dein Vater nicht hat werden dürfen, das sei dir nun vergönnt! Leben darfst du nun in deiner eigenen, einer höheren Welt! In der Welt deiner Bücher! In der Welt deiner Träume! Aus dem Leyhof leuchte dein Licht zu den Menschen hinaus!

„Großvater Großvater!“ beugte der Knabe sich tief über den Scheidenden, „du mußt leben bleiben! Vater ist doch noch nicht da! Und wir brauchen dich so sehr!“

Der brechende Blick erstrahlte in seinem schönsten, reinsten Glanz: Er ist da! Er wird gesund und stark werden! Für euch!

„Großvater! Großvater!“ flehte der Knabe mit der ganzen Inbrunst seiner Seele, „was ist der Leyhof, was sind wir ohne dich?“

So herrlich erschimmert die Abendsonne über’m Venn, eh‘ sie glutrot verscheidet: Ich werde leben in euch! Meine Treue, mein Fleiß, meine Kraft! Und ihr werdet leben in mir! So treu, so emsig, so stark wie ich!

Dann streckte er sich in seiner Hünenlänge aus, als wolle er noch im Tode eins werden mit seinem geliebten Venn, mit der Scholle, die seine Ahnen sich erkämpft, die er selbst mit seinen drei Söhnen der Wildnis abgerungen, die er Kind und Kindeskind zur Hut überließ.

Und lag still.

Erschütternd war die Leidenschaft, die mit Naturkraft aus dem stillen Knaben hervorbrach: „Großvater, wach auf, wach auf! Du darfst uns nicht verlassen! Was fangen wir an, wenn du nicht mehr bist?“ Er neigte sich über den friedlich Gestreckten, er spähte verzweifelt in das teure Antlitz, das die Majestät des Todes verklärte.

Dann schluchzte er verzweifelt auf: „Tot, Tot!“ Ein Strom von Tränen stürzte aus seinen verstörten Augen: „Und ich bin’s schuld! Mich hat er gesucht! War‘ ich nicht ungehorsam, leichtsinnig gewesen, dann hätt‘ die Kugel ihn nicht getroffen, dann lag‘ er nicht hier!“

Rasend sprang er auf. Wild drohte er mit der Faust zur Grenze hin: „Und einer von euch hat ihn gemordet!“ Sein Gesicht war vor Wut verzerrt: „Ihr heimtückischen Mörder! Macht man so auf Menschen Jagd? Feuert man so aus dem Hinterhalt?“ Schaum stand ihm vor dem Mund: „Wer gibt euch Hergelaufenen das Recht dazu? Warum muß hier eine Grenze sein? Ist das nicht unser Venn? Ist unsere Heimat nicht hüben und drüben? Das gleiche Moor! Der gleiche Wald! Mit welchem Recht habt ihr dazwischen eure Grenzsteine gesetzt?“

Da zerrissen wieder Schüsse in nächster Nähe die Totenstille. Grausig lachte der Knabe auf: „Ist des Mordens noch nicht genug? Geht ihr wieder von neuem auf die Menschenjagd?“ Rache funkelte aus den lodernden Augen: „Wenn doch einmal euch eine Kugel, eine Handgranate traf!“

Mit geballten Fäusten stürzte er dem Grenzbeamten entgegen, der sich bis dahin gegen eine Horde bewaffneter Schmuggler hatte zur Wehr setzen müssen, der sich aber dann, sobald er die Unholde in die Flucht gejagt hatte, zum Überschreiten der Grenze entschloß, um Hilfe zu leisten: „Was wollt Ihr hier? Nachsehen, ob Ihr auch gut getroffen habt? Ihr könnt zufrieden sein: Euer Schuß hat ins Schwarze getroffen! Euer Menschenwild ist tot!“

Der Zöllner prallte zurück: „Tot?“ Schaudernd warf er einen scheuen Blick auf den Gefallenen: „Das hab ich nicht gewollt!“

„Aber getan!“ höhnte der Jerret, „und ein edles Wild habt Ihr zur Strecke gebracht! Den Leyhöfer habt Ihr gemordet!“

„Wen?“ starrte der Beamte, der noch neu in der Gegend war.

„Ja, den Leyhöfer, meinen Großvater, den Besitzer des größten Vennhofes, den Ehrenbürgermeister von Kalterscheid!“ fiel der Jerret den Todbleichen an.

„Den?“ murmelte der Zöllner, „den hab‘ ich nicht erkannt.“

„Schießt man so auf Menschen?“ schrie der Knabe zu ihm auf.

Wie etwas auswendig Gelerntes sprach der noch junge Beamte vor sich hin: „Ich hab‘ nach dreimaligem Halt scharf schießen müssen! Dienstvorschrift!“

„Dienstvorschrift!“ funkelten Jerrets Augen ihn an, „ist das Dienst, die Leut‘ hinterrücks zu ermorden?“

„Setz‘ ich nicht auch mein Leben aufs Spiel!“ wehrte sich der Beamte, „soeben noch hätten die Schmuggler um Haaresbreite mich erschossen!“

Scharf schaute er dem Knaben ins Auge: „Und was treibst du dich hier herum?“

„Uns gehört das Venn bis zur Hill!“ entgegnete des Leyhöfers Enkel trotzig-stolz; höhnisch wies er auf den Narzissenstrauß: „Oder kostet das auch Zoll?“

Finster erwiderte der streng-eifrige Beamte: „Jeder Grenzübertritt ist verboten, das weißt du doch!“

„Haben wir die Grenze gemacht?“ trotzte der Jerret.

„Dienst ist Dienst!“ reckte sich der junge Beamte.

Doch als sein Blick auf den Toten, das Opfer seines harten Dienstes, fiel, da regte sich Trauer, Mitleid in ihm. Er salutierte wie vor einem Vorgesetzten. Dann streckte er dem Enkel des Toten die Hand hin: „Komm, tragen wir ihn zum Leyhof hinunter!“

Und der Jerret stieß die Hand nicht zurück, als er aufrichtigen Schmerz in des Anderen Auge sah.

Mit größter Anstrengung trugen die Beiden dann den schweren Mann über die Grenze hinüber.

Da keucht ihnen ein Fremder, den Angst vorwärts hetzte, entgegen. „Vater! Jerret!“ röchelte ein heiserer Schrei.

Der Knabe hatte seinen Vater erkannt. Doch er ließ den toten Großvater, den er an den Füßen trug, nicht los. Er brachte kein Wort über die Lippen. Tränen erstickten seine Stimme.

Der Zöllner wagte nicht, dem Fremden in die Augen zu blicken. Langsam senkte er den Leichnam dessen, den er hatte erschießen müssen, zu Boden. Wie ein Schuldbewußter blieb er stehn.

Im Schmerz überwältigt, sank der Sohn des Getöteten in die Knie. Wie von Sinnen murmelte er: „Warum — nicht ich? Werd‘ doch — nicht mehr froh! — Bin doch — zu nichts mehr gut. . . .“

Da schlangen sich Jerrets Arme um seine Schultern: „Für mich ist er gestorben! Für dich ist er nicht tot! Und wir alle leben durch ihn!“

Verstört schaute der Vater zu dem Sohne auf: „Meinst du — ich könnt‘ — weiterleben? Wo er — gestorben ist?“

„Darum ist er ja für mich gestorben“, drückte den Vater der Sohn an sich, „daß ich dir nicht verloren ging‘!“

„Kamerad“, sprach da der Zöllner mit innigem Ernst, „er ist gestorben wie ein Held! Ich möcht‘, mich hätt’s statt seiner getroffen! Hält’s mir nicht nach, Kamerad! Hab‘ nur meine schwere Pflicht getan, wie du die deine getan.“

Vor dem toten Helden stand er stramm.

„Mög‘ Gott mir verzeih’n!“ murmelte er, aufs tiefste erschüttert. Dann wandte er sich und schritt rasch zur Grenze zurück.

In der Wohnstube lag der Leyhöfer aufgebahrt. Wie ein Herrscher ruhte er, lang gestreckt, auf den Kissen. Nun waren sie noch einmal alle versammelt, von dem Haupt der Familie, von dem Herrn des Hofes Abschied zu nehmen. Nun beteten sie noch einmal alle miteinander den Rosenkranz, den Glorreichen: Der du von den Toten auferstanden bist!

Zur Rechten des Sarges kniete der Matthes. Man sah ihm an: Ich bin nun des Hofes Herr! Das war nicht mehr der Zerlumpte und Verkommene, den der eigene Vater nicht erkannt, der an seinem Menschentum Verzweifelte. Stolz und aufrecht kniete er. Nun gilt’s, des Vaters Erbe mit fester Hand zu übernehmen, die heimische Scholle, den Hof der Vorfahren zu sichern und zu mehren. Unverwandt schaute er dem Toten in das majestätische Angesicht: Dein getreuer Sohn will ich in allem sein!

Ja, wahrhaft war er auferstanden!

Er kniete zwischen dem Jerret, seinem eigenen Sohn, und dem Lambert, dem Sohn Cäciliens. Diese beiden werden fürderhin Brüder sein! Der Jerret wird das werden, was der Vater nicht hat werden dürfen: Auf Hohen Schulen, in Amt und Würden Kalterscheids Stolz! Der Lambert wird Namen und Hof der Heidbüchel erben! So hat der neue Leyhöfer es bei den Frauen in kurzen, festen Worten durchgesetzt. Und Bärb hat sich gefügt. Das ist der verträumte Matthes nicht mehr, der sie auf dem Hof als Herrin schalten und walten ließ. Das ist der Leyhöfer, der Alte, mit Haut und Haar. Wie der weiß er, was er will. Wie der setzt er’s durch. Von der der Frauenseite fliegt ihr Blick in verstohlener Bewunderung hinüber: In dem ist der Vater wieder auferstanden!

Frau Gertrud dämmert’s jetzt auch, wie verwerflich sie an der Schwester und ihren Kindern gehandelt hat. Aber nun hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Armes Zillchen, warum hast du mich denn nicht aufgesucht, warum hast du denn die Kinder nicht zu mir geschickt? Aber warum hast du dich denn auch so weggeworfen? Und die Kinder, konnten sie denn nicht eher zu mir kommen? Die Tant‘ Gertrud hätt‘ euch schon nicht im Stich gelassen. Selbstgefällig streift die Schwägerin ein strafender Blick: Aber die Bärb, was hat die für’n Spektakel gemacht, als sie die Kinder hinter der Scheune entdeckte! Was gingen sie Zillchens Kinder an? Ins Leyloch zu ihrer Rabentant‘ sollten sie sich scheren!

Rabentant‘? Rabenmutter! Dem Jerret hat sie doch die Höll“ auf Erden gemacht!

Aber Gott sei Dank! Sie hat sich kuschen müssen. Endlich hat der Matthes ihr den Herrn gezeigt. Ihr gerührter Blick verweilte lange auf ihrem Drückchen und seiner neuen Schwester: Jetzt schon ein Herz und eine Seel‘. Solch ein sanftes, schmiegsames Wesen, es ergänzt Drückchens lebhafte Art. Das wird ’n echtes Hausmütterchen werden. Für’s Leyloch wie geschaffen.

Auf dem Leyhof soll die bleiben? Ja, damit die Bärb ’ne billige Magd an der hätt‘! Daraus wird nichts. Ich bin die Tant‘, und damit basta!

Matthes, der Leyhof er, betrachtet die beiden Kinder mit väterlicher Sorge: Wie bleich und hager die aussehn! Bald hätte des Apokalyptischen Reiters Pfeil auch sie hinweggerafft, wie mich des „Krieges“ Rossehuf schier zertrampelt hätte. Aber das hat nun ein End‘! Die Herrschaft der Reiter ist hier vorbei. Hat der Lambert erst ein paar Wochen auf dem Leyhof hinter sich, so sieht er anders aus. Ein rechter Bauer mit starken Armen, klaren Augen, mit festem Willen und klugem Blick soll er werden! Eine Eiche, fest verwurzelt im Venn! Und Apollonia, die Schwester, sie soll wie die schönste Blume erblühen! Mag Frau Gertrud noch so sanft tun, sich noch so selbstlos stellen, in meinen Garten pflanz‘ ich sie ein! Dann ersprießt aus des Vaters Opfertod uns allen das Glück!

In großer Ehrfurcht, voll inniger Dankbarkeit schaute der Sohn auf das marmorbleiche, von der Hoheit des Todes verklärte Angesicht: Du bist der Friede! Hat der „Krieg“ dich auch als Letzten gefällt, du triumphierst doch über ihn! Gesiegt hast du über den Haß, weil du die Liebe warst! Und er selbst wurde von einer starken Kraft, einer lauteren Liebe erfüllt. Wie opferfroher Jubel klang sein Gruß: Der du von den Toten auferstanden bist!

Feierlich wurde der Leyhöfer begraben. Kanz Kalterscheid hatte sich aufgemacht, seinem einstigen Bürgermeister die letzte Ehre zu erweisen. Daß er einem so verhängnisvollen Unglück zum Opfer gefallen, vermehrte noch des Dorfes Mitgefühl. Kopf an Kopf harrte das Volk des Venns vor des Leyhofes Buchentor.

Vier Zöllner trugen den Sarg; vier andere schritten daneben, zum Wechseln bereit.

Zwischen Jerret und Lambert ging der Sohn des Verstorbenen, der neue Herr des Hofes, ernst und aufrecht hinterdrein.

Voll freudigen Staunen blickte Johannesjoseph, der Kirchwirt, auf den Freund: Ist das derselbe, der zerlumpt, abgestumpft, ohne Lebenskraft und Lebensmut wie ein Blinder sich heimtastete? Der ist ja wie auferstanden!

Als Apollonia, das fremde Mädchen, dem Drückchen zugesellt, daherkam, wischte Kathrinchen, die Kirchwirtin, die in der ersten Reihe der Frauen harrte, sich die Tränen: Wer hätt‘ dat jedacht, dat der Leyhöfer sterben mußt‘, um den mutterlosen Kindern eine Heimat zu bereiten! Kirchwirts Gretchen, die Tochter, die ihrer Mutter nicht von der Seite wich, nickte der Fremden wie einer alten Bekannten zu: Siehste, nun ist doch alles anders gekommen! Und wie rasch!

Bärb und Gertrud, die beiden Streitbaren, ein einträchtiges Paar, wenigstens vor der Leute Augen! Ja, ist denn ein Wunder gescheh’n? Hat der Matth.es dat fertig gebracht, fragte manch staunender Blick, dat Bärb hat doch früher das Regiment geführt! Ja, seufzte manches Frauenherz, dafür hat der Leyhöfer sterben müssen!

Und auch die Männer kamen nicht aus dem Staunen heraus: Der Matthes und nicht Bärb ist jetzt der Herr! Und der ist doch wie’n Wrack auf dem Leyhof gestrandet! Ja, wenn einer Erbe eines solchen Hofes wird!

Der Leichenzug ordnete sich. Unabsehbar waren die Scharen. Selbst die Behörden der Kreisstadt fehlten nicht. Der Landrat, ein Mann aus dem Volke, schritt als erster voran.

Droben, auf Kalterscheids Höhe, schwangen die Glocken in den Doppeltürmen des „Venndoms“, den der Krieg wunderbar verschont hatte: Der du von den Toten auferstanden bist!

Den Glorreichen, nicht den Schmerzhaften Rosenkranz stimmten die Bruderschaftsmeister mit blitzenden Stäben an, als ob sie das Wunder dieser Auferstehung erahnt hätten. Und die Reihen der Beter und Beterinnen fielen freudigen Herzens ein. Sie alle fühlten es: Dieser Tod ist eine Auferstehung worden!

Dem Zöllner, der den verhängnisvollen €chuß hatte feuern müssen, dem vordersten Träger, ward die Last, die ihm anfangs übermenschlich schwer dünkte, mit jedem Schritt leichter und leichter: Weil ich meine Pflicht getan hab‘ wird mir verzieh’n!

Als der Leichenzug, der kein Ende zu nehmen schien, die Rurbrücke überquerte, zwang er einen prächtigen Kraftwagen zum Halten, der in rücksichtsloser Fahrt die Kalterscheider Landstraße an den Reihen der Beter vorübergesaust war. Erbost steckte der Herr des Maybach-Wagens seinen protzigen Kopf heraus: „Wat iß denn hier los? Habt noch net Rosenkranz jenug jeleiert?“ Der König der Schieber, der Herr der „Teuerung“ war’s. Zum Leyhof wollte er, einmal hören, ob der widerborstige Alte inzwischen zu Kreuz gekrochen war. Seine Brieftasche war zum Platzen gespickt. Diesmal mußte es klappen!

Da erkannte er den Sarg. Der kam ja vom Leyhof herab! Und diese unübersehbare Menschenmenge, wem konnte sie anders als dem Leyhöfer gelten? Der Leyhöfer tot! Dann ist der Hof ja frei! Doch nichts dergleichen kam ihm in den Sinn. Der Leyhöfer tot. And ich lauf ihm in den Weg! Den Abergläubischen überlief es eiskalt: Er reißt mich mit! Er läßt mich nicht mehr los! Er stürzt mich ins Grab!

„Dreh’n!“ brüllte er dem Livrierten ins Ohr. „In Dreiteufelsnamen, dreh’n!“ Und als dem schweren Wagen das Rückzugsmanöver nicht sogleich gelang, schwoll er krebsrot an: „Dreh’n, Kerl, oder ich verreck‘!“

Winselnd duckte die Teuerung sich dann in des Wagens Hintergrund: Nur den Sarg, den Unglückssarg nicht seh’n! Heulend hielt er sich die Ohren zu: Nur das Geplärr des Leichenzuges nicht hören! Hat er mich gepackt, er läßt mich nicht mehr los! Mit seinen Riesenfäusten erdrosselt er mich!

Endlich hatte der Wagen gedreht. In seinen Plüschpolstern röchelte es: „Laß los! Laß los! Ich ersticke!“ In wilder Fahrt brauste der Wagen davon ….

Wie von einer furchtbaren Gefahr befreit, atmeten die Leidtragenden auf: Der kommt nie mehr wieder!

Der Matthes schritt aufrechter daher: Den hat der Tote in die Flucht gejagt!

Als der Leichenzug sich dem doppeltürmigen „Venndom“ näherte, den „Herr Johannes“, der Apostel des Friedens, in Vorausahnung des schrecklichsten aller Kriege ebenso wie das Riesenkreuz im Venn, errichtet hatte, strömten pfeifend und johlend nach der Ankunft der Kraftpost die Horden der Grenzläufer heran. Und schau! Sie, denen keine Kirche, kein Kreuz, keine Prozession heilig war, sie rissen die schmierigen Kappen von den Köpfen, sie verstummten auf einmal insgesamt, sie schlugen die frechen Augen, die keine Ehrfurcht, keine Scham kannten, verstört zu Boden, sie schlichen wie verprügelte Hunde vorbei.

„Der du von den Toten auferstanden bist!“ blitzten die Silberschildchen der Bruderschaftsstäbe über sie hinweg.

Und die Glocken läuteten wie am Ostermorgen . . .

Langsam sank der Sarg in die Tiefe.

Da schaute der Matthes sie noch einmal hoch über’m Venn, die Apokalyptischen Reiter. Wie in toller Flucht kehrten sie aus der Rheinebene zurück. Nach Westen stoben sie unaufhaltsam dahin.

Der „Krieg“ hielt sich kaum in den Bügeln, ja im Sattel. Seine Kleidung war zerfetzt. Sein Antlitz war verzerrt und von Blut überströmt. Jeden Augenblick schien er in die Tiefe zu stürzen. Lange konnte er sich nicht mehr halten. Dann mußte er beim Fall in den Abgrund zerschmettern.

Und wie sah die „Teuerung“ aus! Leichenfahl war das von Wein und Schnaps gedunsene Gesicht. Die habgierigen Augen waren weit aufgerissen vor- Todesangst, auf dem zum Skelett abgemagerten Gaul das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber in die Tiefe zu taumeln. In diesem Augenblick entfiel die einst so übermütig geschwungene Waage seiner kraftlosen Hand. Die erbärmliche Schindmähre streckte alle Viere von sich, als versänke sie in der bodenlosen Leere.

Der „Flunger“ war nur noch ein entmenschtes Gerippe. Aus seinen erloschenen Augenhöhlen grinste der Tod. Wie aus allen Fugen geraten, schlotterte das ganz entblößte Gebein, das im Nu auseinanderzuwirbeln drohte. Wie um eine Vogelscheuche flatterten die armseligsten Lumpen, deren sich ein Rußlandfahrer schämen würde. Schon streiften die Hufe der klapperdürren Mähre, deren Knochen ohne Fleisch und Fell in den Gelenken krachten, den Steppenboden des Venns. Im nächsten Augenblick mußte das Jammergestell zusammenbrechen. Dann stob auch das Gerippe des „Hungers“ zusammen.

Eben schleuderte die „Pest“ ihren Bogen fort. Verzweiflung verzerrte das heimtückische Gesicht: Bald ist’s aus! Immer wieder versagt mein Pfeil! Wie hab‘ ich die beiden Kölner Kinder verfolgt! Und nun stehen sie hoffnungsfroh am Grab des Vennkönigs da, vor dem die „Teuerung“ so jämmerlich kapituliert hat! Und nun wachsen sie der Genesung entgegen! Ist denn meine ganze Kunst umsonst?

Und des Alten Sohn, den der „Kri^g“ zum Wrack gemacht, auch ich hab‘ ihm nicht den Garaus machen können! Wie er dasteht! So stark wie eine Eiche im Venn! Ist denn alles verhext?

Da bäumte das Roß, vor dem zusammenbrechenden Gaul des „Hungers“ scheuend, sich hoch empor. Mit einem gewaltigen Schwung warf es seinen Reiter, der den Halt verlor, über seine gesträubte Mähne hinweg in die Tiefe, in den grünen Abgrund des Vennwaldes, hinab.

Vom Entsetzen gepackt, schaute der neue Herr des Leyhofes himmelwärts. Da erblickte er hoch über der Urwaldklippe der Richelsley das Riesenkreuz. Das Kreuz des Friedens, das „Herr Johannes“, der Apostel des Venns, Kalterscheids unvergessener Seelenhirt, vor mehr denn fünfzig Jahren, dem Truppenübungsplatz Eisenborn zum Trotz, alles überragend großgetürmt. Und grade über dem Mal der Erlösung, über der Felsengrotte, in der Maria, die Königin des Friedens, thronte, zerstob der höllische Spuk!

Matthes Heidbüchel fuhr auf.

Schon polterte die erste Scholle auf des Leyhöfers Sarg.

Der Himmel war klar und still. Hoch über’m Venn schimmerte das Kreuz.