Der Schein trügt

VON LEO STAUSBERG

Dafür, daß diese Geschichte keineswegs erfunden sei, sondern sich in einem Dorf unseres schönen Ahrkreises wirklich zugetragen habe, wollte sich mein Gewährsmann verbürgen. So soll sie denn als wahre Begebenheit erzählt werden. „Zu ärgerlich! Die ganze Osterfreude könnte einem verdorben werden, wenn man kein guter Christ wäre“, dachte Hochwürden, als er den Telefonhörer etwas unsanft auflegte. Soeben hatte ihm der Pater Superior des Klosters X. mitgeteilt, daß der als Beichtvater für heute nachmittag vorgesehene Pater Wunibald plötzlich dringend verhindert sei und daß leider auch kein Ersatz gestellt werden könne. Wirklich ärgerlich, gerade heute, am letzten Samstag in -der österlichen Zeit, da erfahrungsgemäß die einjährigen „Osterlämmer“ sich nach langem Zaudern endlich zum sauren Gang in den Beichtstuhl entschließen würden! — „Ein Pater wird im Beichtstuhl aushelfen“, hatte er vergangenen Sonntag von der Kanzel verkündigt. Das zog immer, und nun besonders, da die Aussicht bestand, Pater Wunibald werde diese Aushilfe sein, der gute alte Pater Wunibald, voller Menschenkenntnis, Erfahrung, Nachsicht und Güte, der zudem etwas schwerhörig war.

„Wenn ich mich in den Beichtstuhl setze, beißen die Mannsleut nicht an“, dachte der Herr Pastor. Und da hatte er recht: Nicht, als ob es alle schwarze Schafe wären hier in der ländlichen Gemeinde; nein, im Grunde waren es durchweg biedere Menschen, deren Verstöße gegen Gottes Satzung sich in erträglichen Grenzen hielten. Aber, wer möchte gerne dem verehrten Ortspfarrer, dem man tagtäglich begegnete, seine Seele offenbaren? In allen weltlichen Dingen ließ es sich gar prächtig mit ihm plaudern. Seine Kenntnis von Feld und Vieh und sein Verständnis für die Sorgen und Nöte des Landmannes waren erstaunlich, und er teilte mit seinen Pfarrkindern getreulich Freud und Leid, Dafür zehnteten sie ihm aber auch bereitwillig, wie es ihre Ahnen getan, obgleich der Lehensstaat von einst längst dahin war. Von jedem geschlachteten Schwein wanderte eine Probe ins Pfarrhaus, und auch die Eiersteuer zu Ostern kam in erfreulicher Fülle ein. Aber mit der Osterbeicht, das war ein leidiges Kapitel. Der gute Pfarrherr zerbrach sich den Kopf: „Woher nehme ich nun einen Pater?“ — Not macht erfinderisch. Das sollte sich auch in dieser Verlegenheit erweisen. Ein Gedanke glomm in seinem Hirn auf, und seine Stirnfalten glätteten sich zusehends. So müßte es gehen! Fast fröhlich rief er seiner treuen Haushälterin: „Fräulein Käthchen!“ — „Ja, Herr Pastor?“ — „Da stehen doch auf dem Regal in der Speichertreppe die Sandalen, wissen Sie, die ich damals für die Kneippkur benutzt hab‘, wenn ich morgens durch die Wiesen gehen mußte. Holen Sie die mal runter!“ — „Aber, Herr Pastor, die sind doch ganz hin! Die können Sie doch nicht mehr anziehen!“ — „Doch! Doch! Reinigen Sie die Treter, und dann her damit! Ich brauche Sie dringend!“ — Kopfschüttelnd machte sich Fräulein Käthchen an die Ausführung der pfarrherrlichen Anordnung. Eine halbe Stunde vor dem festgesetzten Beginn des Beichthörens verfügte sich der Herr Pastor durch den Pfarrgarten ungesehen in die Sakristei. Hier entledigte er sich, so schnell es bei seiner Leibesfülle ging, seiner Schuhe und Strümpfe, schlüpfte in die mitgebrachten Sandalen und begab sich zum Beichtstuhl, seinem „Wochenendhäuschen“, wie er wohl scherzweise zu sagen pflegte. Noch war kein Beichtkind in der kühlen, dämmerigen Kirche anwesend. Er zog den violetten Vorhang zu und steckte seine Beine so aus, daß die in den Sandalen steckenden nackten Füße unter dem Vorhang gerade hervorguckten. Noch nicht lange hatte er Platz genommen, als die ersten Beichtkinder die Kirche betraten: der hagere Bauer Mechel und der dicke Schneider Tünn. Demütig, wie es sich für reuige Sünder geziemt, knieten sie auf der letzten Kniebank nieder und beteten. Ein mehrmaliges aufmunterndes Räuspern aus dem Beichtstuhl bewog schließlich den Tünn, sich demselben zu nahen. Ein flüchtiger Blick streifte die Sandalen und die daraus hervorschauenden Zehen. „Pater Wunibald“, konstatierte der Tünn, „aber er scheint in diesem Jahr noch wenig über Land gewesen zu sein, die Füße sind noch zu weiß.“ Auch schien es ihm, als seien sie diesmal nicht von solch asketischer Magerkeit, wie sie zu Pater Wunibalds übrigem Erscheinungsbild paßten. Dann kauert der Tünn vor dem Gitter nieder und beginnt seine Beichte. Mitten in dieser heiligen Handlung stockt er unvermittelt: Der, dessen Kopf sich, vom Schweißtuch fast verhüllt, ihm entgegenneigt, ist doch nicht Pater Wunibald. Dessen Haarkranz ist doch unverkennbar. „Weiter!“ mahnt der Beichvater. „Un dat is die Stemm von ooserem Här!“ denkt Tünn. „Aber die nackten Füße und die Sandalen?“ Ehe er aber ausgegrübelt hat, hört er die ihm zudiktierte, überraschend milde Buße und vernimmt die lateinischen Worte der Absolution. Dann sieht er, wie der Beichtvater zum Schlüsse den Zeigefinger bedeutsam und gebieterisch über die Lippen legt als Gebot des Schweigens. — Tünn versteht; Tünn befolgt die stumme Bitte. Er denkt: „Den Reinfall gönne ich den ändern auch!“ Unbewußt schmunzelt er; fast hätte er laut gelacht. Nun folgt der Mechel, und so geht es fort, denn inzwischen haben sich die Bänke gefüllt. Den Wartenden fällt auf, daß die aus dem Beichtstuhl Zurückkommenden durchweg ein Lächeln auf den Gesichtern zeigen. Sie deuten es als die verklärten Mienen derer, die soeben ihre Sünden quitt geworden sind. Daß aber einer um den ändern sich noch mal verstohlen nach den Sandalen von Pater Wunibald umschaut, aus denen die gewichtigen großen Zehen fast heiter hervorragen, ist ihnen weniger einleuchtend. — Noch lange bildete der geniale Einfall von Hochwürden ein viel belachtes Stammtischthema.