Pastor i. R. Kirchenrat Lic. Sachsse

VON FRIEDRICH HENNES

Alle Pfarrstellen in den Evangelischen Kirchengemeinden des Landkreises Ahrweiler haben in den letzten Jahrzehnten wiederholt ihren Inhaber gewechselt. Ein einziger Pfarrer ist in dieser Zeit geblieben und für den Kreis — wie selbstverständlich — Helfer und Berater in allen Fragen geworden, die den evangelischen Bevölkerungsteil besonders betrafen: Der nunmehr in den Ruhestand getretene Pfarrer Lic. Karl S a c h s s e    in Oberwinter. Als seine Gemeinde ihm zum 8. November 1959, dem Tage, da er sein siebzigstes Lebensjahr vollendete, in einer unvergeßlichen Feierstunde für seine Treue in fast vierzigjähriger Seelsorge dankte, hat der Jubilar sich über die Anhänglichkeit gefreut, aber das ihm gespendete Lob beiseite geschoben und in launigfrohem Ton, aber in tiefem Ernst, ein wenig in sein Innerstes blicken lassen: „Ich bin in meinem Leben fast immer vor Aufgaben gestellt worden, die meinen eigenen Wünschen nicht entsprachen.“

In der Tat! Der junge Theologiestudent, der Ostern 1908 in Bonn immatrikuliert wurde, hatte den Wunsch, in die Fußstapfen seines Vaters, des Bonner Professors für praktische evangelische Theologie, zu treten und selbst akademischer Lehrer zu werden. Der Anfang dieser Laufbahn schien erreicht, als er 1915 zum Licentiaten der Theologie promovierte und im gleichen Jahre als Inspektor an das Evangelisch=Theologische Stift der Universität Göttingen berufen wurde. Der Kriegsausbruch 1914 zerschlug den Fortgang. Aus dem angehenden Privatdocenten der Theologie wurde ein Kriegsfreiwilliger, den später der Vormarsch deutscher Truppen als jungen Reserveoffizier nach Palästina führte. Sein Einblick in das Leben der deutschen Siedler in diesem Land, in die deutschevangelische Gemeinde Jerusalem und die deutsch-evangelischen Liebeswerke im Heiligen Land ließ den eigenen Wunsch und den der dortigen Gemeinde aufkeimen, ganz in den Dienst der kirchlichen Arbeit in Palästina zu treten. Das Kriegsende zerschlug auch solche Hoffnungen. Konnte die 1920 erfolgte Berufung des Heimgekehrten in das Pfarramt der kleinen Evangelischen Kirchengemeinde Oberwinter mehr als eine Übergangslösung bedeuten? Das Evangelische Konsistorium, das dies Berufung aussprach, wollte dem jungen Pfarrer durch die Nähe der Universität Bonn eine Tätigkeit als Privatdozent dort ermöglichen und ihn zugleich, bis zum völligen Übergang in den akademischen Lehrberuf, wirtschaftlich sicherstellen.

Bald aber schon wurde die Zonengrenze zwischen Bonn und Oberwinter zu einer trennenden Schranke; die Inflation mit der sprunghaften Verarmung vieler wohlhabender Gemeindeglieder in Oberwinter, die Entwertung der kirchlichen Kapitalien und Einnahmen erforderten die volle Arbeitskraft des Pfarrers. Der passive Widerstand 1923 und die Weigerung der Eisenbahner, in den Dienst der „Regie“ zu treten, führten zu immer zahlreicheren Ausweisungen aus der Zone und spülten täglich Betroffen ne und Besorgte mit den Angehörigen an die Zonengrenze, von der sie nicht auf das rechte freie Rheinufer zu kommen wußten. Wo staatliche und kommunale Dienststellen nicht helfen konnten und durften, sprang der evangelische Pfarrer in Oberwinter furchtlos in die Bresche; sein Pfarrhaus wurde zur Beratungs= und Betreuungsstelle für viele. In jener Zeit der Not geschah es wohl, daß über der Hilfe an Hilfsbedürftigen Pfarrer lic. Sachsse fest in Oberwinter einwurzelte und sich in gleicher Weise die Achtung der evangelischen und katholischen Männer erwarb, weil seine Hilfe keine konfessionellen Schranken kannte.

Zehn Jahre später, 1933, wurde Pfarrer lic. Sachsse mit der gleichen Unerschrockenheit der Sprecher der Bekennenden Kirche am Mittelrhein und an der Mosel und der Leiter ihrer Versammlungen. Die Koblenzer Synode 1934 wählte ihn aus diesem Grund zum Assessor. Als Synodal=Assessor übernahm er 1937, nach der Emeritierung des Superintendenten Becker, die Wahrnehmung der Superintendenturgeschäfte, die 1941 zu seiner Einweisung in das Superintendentenamt führte. Was er am wenigsten sich gewünscht hatte, kirchliche Verwaltungsarbeit, davon kam er nun nicht mehr los, auch wenn die bald erfolgende Einberufung zu erneutem Wehrdienst seine Gedanken in andere Richtung wies. Als Superintendent lic. Sachsse aus diesem Dienst in seine Synode zurückkehrte, waren die evangelischen Kirchen, Gemeindesäle und Pfarrhäuser zum größten Teil vernichtet oder schwer beschädigt, entbehrte die Leitung der Kirche der Rechtsgrundlage, drohten die Besatzungszonen die Einheit der Evangelischen Kirchengemeinden im Rheinland zu sprengen, war Ratlosigkeit und Mangel, wohin man blickte.

Pastor i. R. Kirchenrat Lic. Sachsse

Was in dieser Situation Superintendent lic. Sachsse den Wunsch der „Vorläufigen Kirchenleitung“ in Düsseldorf, als hauptamtlicher theologischer Referent und Oberkirchenrat in die Gesamtleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland einzutreten, ablehnen ließ, kennzeichnet die innere Gelassenheit und Reife dieses Mannes, der für sich kein Amt begehrte, in dem er vom Dienst an Gottes Wort und der Seelsorge in der Gemeinde losgelöst war. So blieb er Pfarrer in Oberwinter, Superintendent seiner Synode Koblenz und wurde dazu noch „Bevollmächtigter der Vorläufigen Kirchenleitung für die französische Besatzungszone“. So unglaubwürdig es klingen mag: Die Gemeinde Oberwinter hat es kaum gemerkt, welche neue Arbeitslast auf die Schultern ihres Pfarrers gelegt war. Weder Predigt noch kirchlicher Unterricht kamen zu kurz. Es ist hier nicht der Platz, die kirchliche Arbeit zu umschreiben, die Kirchenrat lic. Sachsse in jener Not= und Hungerzeit mit beispielloser Härte gegen sich selbst gemeistert hat. Nur wenige ahnten, was er in jenen Nachkriegsjahren geleistet hat. Er selbst hat davon keinerlei Aufhebens gemacht. Die Besatzungsbehörden wußten es bald in Koblenz und Baden=Baden und haben seiner Sachkenntnis und seinem wohlabgewogenen Rat großes Gewicht beigelegt, sie haben es geschätzt, daß in sehr vielen Fällen der Bischöfliche Stuhl in Trier und der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Eintracht ihre Vorschläge auf kirchlichem und kirchensteuerlichem Gebiet, in Fragen der Sonntagsheiligung und der gesetzlichen Feiertage gemeinsam vortrugen. Es ist kein Zufall, daß, als Bund und Länder wieder beginnen konnten, die Verwaltung der inneren Angelegenheiten in ihre Hände zu nehmen, sehr bald schon — im April 1953 — Kirchenrat lic. Sachsse aus den Händen des Herrn Ministerpräsidenten von Rheinland=Pfalz das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik entgegennehmen durfte; es war die äußere Anerkennung für eine in aller Stille geleistete Aufbauarbeit, deren Wirkung schon damals deutlich zu werden begann.

Wer ahnte es 1953, vor welche neuen Aufgaben, über den Wiederaufbau aus Schutt und Trümmern hinaus, der Zustrom ostvertriebener und weithin evangelischer Volksgenossen Staat und Kirche auch in Rheinland=Pfalz stellen würden! An dem Ausschnitt des Landkreises Ahrweiler hat Kirchenrat Lic. Sachsse das als seinen Beitrag zu diesem Heimatbuch selbst veranschaulicht. Daß die Gründung neuer Kirchengemeinden in der Synode Koblenz, die Schaffung weiterer Pfarrstellen, der Bau neuer Gotteshäuser, die Einrichtung von Katechetenstellen zur Erteilung evangelischen Religionsunterrichts in den Diasporagebieten ihn vor allem beschäftigte, liegt auf der Hand. Gewiß war das alles „Verwaltungsarbeit“, die er sich nach seinem eigenen Wort am wenigsten gewünscht hatte! Sie war frei von Bürokratie. Hinter seiner Verwaltungsarbeit stand immer der Wille zur Hilfe, die Bereitschaft zum Dienen, das Wissen um das Stehen in eines höheren Herren Hand. Das gab seinem Wort und Rat den Nachdruck. Das ließ ihn im ersten Augenblick vielleicht etwas unnahbar erscheinen; in Wahrheit besaß der Vielbeschäftigte eine erstaunliche Geduld, Bitten in voller Aufgeschlossenheit anzuhören, und die Ausdauer, wo es nottat, nicht an der Oberfläche, sondern im Entscheidenden, ohne Ansehen der Person, zu helfen.

Niemand aber glaube, Kirchenrat lic. Sachsse wirklich zu kennen, der ihn nicht in „seiner“ Gemeinde in Gottesdiensten oder an Gemeindeabenden „erlebt“ hat. Hier war nichts Gekünsteltes in Ernst und Fröhlichkeit, hier bildeten Pfarrer und Gemeinde eine Gemeinschaft gegenseitigen Gebens und Nehmens. Und hier lag das Geheimnis seiner Persönlichkeit: Weil dieser begabte, hochgebildete Mann in dem Dienst an seiner kleinen Gemeinde so fest verankert und verwurzelt war, hat er hinauswachsen dürfen weit über seine Jugendwünsche als akademischer Lehrer der studierenden Jugend, mitten in Aufgaben und Verantwortung hinein, wie Gott sie in Zeiten des Umbruchs nur denen anvertrauen und gelingen lassen kann, die zum Dienst bereit sind.

Diese Zeilen des Heimatbuches wollten nichts anderes sein als ein Ausdruck des Dankes für dieses Wirken in die Weite aus der Stille der kleinen, über 400 Jahre alten Evangelischen Kirchengemeinde Oberwinter. Sie möchten dort den jetzigen „Pfarrer im Ruhestand“ in seinem neuen Heim mit dem Blick auf den Strom grüßen und ihm nach einem Leben voll Arbeit einen lichten Lebensabend in Gesundheit wünschen, will’s Gott, noch manche Jahre!