Sperber

VON DR. HERMANN OTTO PENZ

Seinen kalten Raubvogelaugen konnte nichts entgehen: Notfalls saß er in Wandschränken und auf stillen Örtchen, hockte auf der Orgelempore, stand plötzlich in der Eisdiele unter uns oder schnappte dem Primus beim Schlußball des Tanzkränzchens seine Dame weg. Auch das, was er nicht sah und hörte, wußte er. Ob man sich tot stellte, in einem Mauseloch zu verschwinden suchte oder im Dornengebüsch einer Schlehenhecke seine Rettung suchte, Sperber ließ sich seelenruhig in der Nähe auf einem Baum nieder und wartete, manchmal Stunden und Tage und Wochen, aber dann gewährte er stets freien Abzug, grüßte freundlich von seinem Ast herunter, spielte dabei mit seinen scharfen Krallen und flog lachend davon. So war er: Mit gekonnter Flanke sprang er aus dem Parterrefenster und hob blitzschnell den Papierfetzen auf, den gerade ein neuer Sextaner fallen gelassen hatte, reichte ihn dem Verdutzten zurück mit den Worten: „Du hast eben Papier verloren, da stand sicher was Wichtiges drauf.“ Noch ehe der puterrot angelaufene Kerl ein „Dankeschön“ stammeln konnte, war Sperber wieder mit lässigem Schwung im Direktorzimmer gelandet, von dessen Schreibtisch aus er mit souveräner Ruhe und der Überlegenheit eines alten Seebären seinen Schuldreimaster durch alle Stürme steuerte. Die Ruhe des Kapitäns gab uns, seinen Matrosen und auch den Lehrermaaten ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, das auch den letzten Schiffsjungen und Scheuermann ergriff und Sperber einen bunten Kranz von lustigen Anekdoten um den kurzen, sehnigen Hals legte. Auf unserem Schiff gab es keine Strafwachen und keine Schläge mit dem Tauende, keine Arrestzellen und keine Schikanen, es war wie in einer guten Familie, in der einer auf den anderen achtet, weil er sich für ihn mitverantwortlich fühlt. So erklärt es sich denn auch, daß bei Besuchen des Kulturadmirals die Salutschüsse einheitlich aus den Rohrluken donnerten, das Segelexerzieren wie auf keinem anderen Schiff der Flotte klappte und kein gewiegter Pirat besser durch die Korallenriffe der Schulbürokratie manövriert wäre als unsere stolze Dreimastbark, auf deren Brücke der Mann mit den Raubvogelaugen stand und lachte. Später verschwand Sperber, und es kam ein Neuer; der aber war kein Sperber, sondern ein Pfau, der zwar ein buntes Rad schlagen, aber keine Dreimastbark steuern konnte: er erließ Schiffsordnungen und brüllte wie ein Löwe über die Flure, teilte Aufseher und Oberaufseher ein und sprang niemals durchs Fenster. Die Mannschaften tuschelten sich böse Dinge zu und belauschten die feuchtfröhlichen Feste in der Offiziersmesse, auf denen der süße Wein in Strömen floß und der Pfau wohlklingende Reden hielt. Schon bald lief denn auch unsere Bark auf einer Sandbank auf, konnte zwar wieder für eine kurze Zeit flottgemacht werden, um endlich kläglich auf einem Felsenriff zu stranden. Die Rohre waren verrostet, das Segelwerk zerrissen, die Besatzung mürrisch, zerstritten und betrunken. Ein junger Maat, der nach Jahren die gerettete Fahne des Schiffes zu Sperber bringen wollte, fand in dessen Heimatdörfchen in den waldigen Bergen nur eine trauernde Witwe, die stumm auf das Bild ihres gefallenen Mannes zeigte.