Eine Impression im Beethovenjahr

VON TONI EICH

Die kostbare Amati-Geige aus der alten „Oberförsterei“ des Forstmeisters Franz Matthias Kauhlen zu Gemünd in der Eifel könnte einiges aus jener Zeit erzählen, als der junge Ludwig van Beethoven, vor seinem Weggang nach Wien, des öfteren im Hause des Rektors der Bonner kurfürstlichen Universität weilte, um mit der schönen Anna Maria Kaufmann zu musizieren. Ein Urenkel jenes Rektors, dem die „Amati“ als Erbstück überkommen ist, hellte die Spuren des Verweilens des Komponisten auf. Er schrieb ein wissenschaftlich und prosaisch bemerkenswertes Beethoven-Buch, das in seiner Einleitung die Erinnerung an die Begegnung des jungen Beethoven mit der Familie Kauhlen auffrischt. — Von dieser Eifler „Oberförsterei“ — sie wurde so im Volksmund genannt — spinnt sich auch ein-Faden in die nachstehende Erzählung ein, die keinen Anspruch auf wissenschaftliche Akribie erheben kann. Sie möge eher als ein traumverwobenes Erlebnis gelten, von Wahrheit und Dichtung durchwirkt. — Der Titan war ein Kind unserer rheinischen Heimat, die er nie vergaß. Und diese seine Heimat möchte im Jahre seines Gedenkens in aller Welt nicht hintanstehen. Es ist doch das Beethoven-Jahr!

Müde ob so viel Licht und Glut, dämmerte der Tag dem sanften Abend hin. Noch warf die Sonne flirrenden Lichtstaub aus klaffenden Wolkenrissen der lodernden Erde zu, die da sich mühte ums Blühen und Werden ringsum im Eifelland. Ach, es war ein glückseliger Tag der unbeschwerten Jugend, die ihre Träume so sinnenvoll an keimenden Dingen vergeudet: eingebettet in duftendes Gras mit seinem vielfältigen Leben, umgaukelt von glühenden Tropfen wetterharten Ginsters, zu andächtigem Schauen ermahnt in Anblick der wiegenden Wacholdersäule, die grünsternig dem Himmel entgegenspitzte. Oh! — dieses Wehen von Grünen und Blühen, rundum, im wogenden Segeln des Jungseins! War’s bloß ein Traum — der Nacht entgegen? Hör! — da blies ein Schäfer vom nahen Ufer her den Abgesang des Tages. Ein schmeichelnder Klang, den er der Flöte entlockte, wehte über die zupfende Herde dem Träumenden ZU. Der sann den rotbrandigen Wolken nach, die dem Wetter vorauseilten, das dunkelwandig sich auftürmte und gierig die Sonne verschlang. Und immerzu blies der Schäfer seine Melodie. Was fand er wohl dabei, der Einsame, der Stumme? Ich durfte allzeit zu ihm kommen, das litt er, eine Ehre, wie ich mir eingestand. Neugierig staunte ich ihn an. Was er denn da spiele?

— bohrte ich fragend in den Bärtigen. Er schlug die Augen bei, daß nur ein weißer Schlitz das hutumwolkte Antlitz überhellte. Ach so! — nun, das sei ein Lied, eher noch eine Hymne an die Nacht. Er liebe diese Melodie und spiele sie gern an solchen Abenden, wenn die Wetter brummig umgingen und das Land ängstigten. Sein Ohm, ein rechter Musikant, habe ihn diese Weise gelehrt. Diesem sei sie überkommen von einem fernen Ahn, der jener Oberförsterei in Gemünd zu Diensten stand, daselbst der Kompositeur oft geweilt. Dieser, schon in jungen Jahren Hoforganist am kurfürstlichen Hof zu Bonn, sei oft vom Rhein her ins Eifelland gezogen. Herb und schwermütig wie das Land, das er wohl geliebt, habe er dreingeschaut. Aber, dieser Mensch sei ganz Musik gewesen, grollend und doch so herrlich aufsteigend, wie das Wirken der Urgewalten, die unsere Heimat schufen…

Da er so sprach, der Schäfer, keilte ein Blitz aus dem Wolkengewirr steilab zur Erde. Der Donner fiel hinterdrein und stampfte grimmig durch die schwere Luft. Der Schäfer äugte ruhig zur Wetterwand und hieß mich in den Schäferkarren steigen. Eine angstvolle Einsamkeit umgab mich. Er müßte, so bedeutete er, nach dem Rechten schauen, was die Herde anginge. Dann stieg er zu mir, die Angst floh dahin. „Das Wetter wird sich bald verlaufen“, sagte er still. — Jetzt ist die rechte Zeit, da die Natur das ewig alte Lied ihrer Macht und Größe in die Nacht singt, von jenem Menschen zu sprechen, der dieses Urtönen der Schöpfung mit seiner Musik zu deuten verstand. So hör nur: Drunten am Rhein, wo das Eifelland sich sanft verliert, stand seine Wiege. Die Jugend, umdunkelt durch den frühen Heimgang der geliebten Mutter, brachte ihm vielerlei Sorgen zu, da der Vater, dem Trunke zugeneigt, sich selbst und die Familie vergaß. Fürwahr, kein leichtes Schicksal, das auf seinen Schultern lastete! Das Leben verlangte ach zuviel von ihm. Und doch bäumte er sich dem Schicksal entgegen. Er floh den Sorgen daheim, draußen in der Natur vergaß er sie. Das Eifelland hatte es ihm angetan. Im nahen Kottenforst, in der Einsamkeit des Waldes, fand er mit seinen Freunden die Lust herzensfroh zu leben. Er zog. das Felsental der Ahr herauf, hin zu den waldigen Höhen. Schau nur die Tafeln an den Häusern, die in so manchem Ort von seinem Verweilen künden! Den Jüngling, in höfischem Kreise wohlbeachtet, trieb es nach Wien. Die ferne Heimat vergaß er nicht!

*

Dann wurde es still im Schäferkarren. Draußen rollte das Wetter über uns dahin. Der Schäfer kramte in einer Truhe. Sieh nur! — auf diesen vergilbten Seiten hat der ferne Ahn alles verzeichnet, was diesen Musikus betraf. Ich hab’s zeitlebens immerzu gelesen, drum weiß ich, wie es um ihn stand. Bedenke, was ihn über alle seinesgleichen erhob, war sein Drang zur Freiheit des Schaffens. Nicht einem Großen hienieden diente er, wohl aber dem Großen, das seit Anbeginn der Schöpfung die Welt bewegt. Die Natur war für ihn alles, was das Leben umschloß. Ach, er dachte in Musik, noch mehr, er dachte Musik. Diese Musik greift nach dem Innern, sie umfängt den Menschen und die ganze Welt. Schaurig, sie zu erleben, überirdisch wegführend ihre Klänge. Er malte nicht in Tönen, vielmehr war seine Musik ein Seelenbild aus der unendlichen Fülle der Schöpfung. Was lag diesem Komponisten näher, der Natur eine seiner größten Symphonien zu widmen. Gleich dem Lavastrom unserer Vulkane, umflammt von Feuerglut, strömt die Musik dahin. Ein Sturm, der alles und jeden erzittern läßt, braust auf. Ist es die Urstunde der Schöpfung? Wer vermag’s zu ergründen! — Glaube mir, als ich sie in seiner Vaterstadt hörte, stand der Eifelheimat Urbild vor mir; ich erkannte im Tonstrom ihr flammendes Werden und ihre gültige Vollendung. Und dieses Werk schuf der Titan aus der Nacht der Taubheit. Mögen die Weisen sagen, was sie wollen, dieser Mensch konnte nur aus dem Naturerleben in seiner Jugend, daheim, dieses Werk schaffen. Ich bleib dabei, basta!

Sein irdisches Schicksal bannte er durch die Macht seiner Tonschöpfungen. Die freudlose Jugend, die aufkommende Taubheit, die Entsagung auf Liebe und Familienglück — die ganze Erdenschwere, das alles überwand er durch seine Musik. War er überhaupt noch ein Mensch, viel eher ein Gott — der Tragik und doch in letzter Sicht der Freude in Hinblick auf die Überwindung alles Irdischen? Bedenke, er beschloß sein Leben bei einem Gewitter, bei Blitz und Donner ging er hin in den Tod, um unvergessen zu bleiben.

Der Schäfer schwieg. Das Wetter grollte nur noch schwach in der Ferne, blasse Blitze zackten über türmendes Gewölk in die Weite des Himmels. Der Regen verrauschte. Dann nahm der Schäfer seine Flöte und spielte andächtig die Weise. Und während er die knarrende Tür des Karrens aufstieß, brach er ab in seinem Spiel. Dieser Melodie sei auch ein Vers zugedacht, sagte er. Und es sang der Schäfer:

Heil’ge Nacht, o gieße du
Himmelsfrieden in dies Herz!
Bring dem armen Pilger Ruh‘,
holde Labung seinem Schmerz.
Hell schon erglüh’n die Sterne,
grüßen aus blauer Ferne:
möchte zu euch so gerne flieh’n
himmelwärts!

Das Lied verwehte in die Nacht. Fürwahr, da standen die Sterne, die ewigen Wächter am nachtblauen Himmel. Damit du es weißt, diese

Weise ist gar kein Lied, vielmehr ein Satz aus einer berühmten Klaviersonate. Ist diese Melodie nicht der Ausdruck der Nacht in Tönen? Dies alles sag‘ ich dir, damit du später, wenn noch so Weise deinen Sinn betören, nicht der Stunde vergißt, da wir der Schöpfung brausend“ Lied draußen wie in der Musik erlebten. Daß ich es nicht vergesse, sein Name war Ludwig van Beethoven!

*

Ich schloff ins Bett im Hause der Väter. Der berauschende Tag des werdenden Jahres, der Abend im Sang des paukenden Wetters, die Musik, das Leben und das Werk des Titanen, — die ganze Fülle des“ Erlebten hob mich in den Schlaf, der trunken meinen Sinn verhüllte. Man lernte einiges. Was galt es schon! Ach, dem Verstand sind Schranken gesetzt, dem Herzen hingegen nicht. Es drängt nicht nach Wissen. Seine Regungen entschleiern Empfindungen und Geheimnisse eines; fernen und doch so gegenwärtigen Waltens um alles in der Welt. Und sollte nicht gerade ein Schäfer des geheimnisdeutenden Empfindens mächtig sein ob seiner ewigen Zwiesprache mit der Natur, wenn sie auch stumm ist und schweigt. Denn eben das Schweigen bedarf eines Gefährten, allein ist man nur stumm, wie ein poetischer Grübler sagt. Die Wissenschaft mag um andere Deutungen wissen, denen Empfindungen abhold sind. Drum möge sie <es dem Schäfer und auch dem Erzähler zugute, halten — um des heurigen Beethoven-Jahres willen. Vielleicht reichen auch ihre Maßstäbe nicht hin, den Titan in seiner Seelentiefe zu ergründen. Es ist schon so, wie jener Grübler sagt, daß in uns allen das Beste stumm sei, in jedem Menschenkind, und ein solches war auch der Titan vom Rhein . . . Da saß ich nun, wider einen Baum gelehnt, umsponnen vom müden Licht des sinkenden Tages. Ein Rotschwanz schluchzte sein Liebeslied im Säulengerank des Waldes. Goldhähnchen spönnen dünne Fäden zirpenden Singens von Ast zu Ast, und die Abendkühle durchrieselte meine Glieder. Durch das wallende Geäst der Bäume erkannte ich die vertrauten Berge des Eifellandes. Sie wanden dünne Nebelschleier um ihre blauen Häupter. Da, es schien, als streue ein unsichtbares Wesen flimmerndes Goldgeriesel in das Himmelstuch. Die Sterne steckten ihr gütiges Licht auf. In dieses Verweben von Tag und Nacht klang in mir jene Weise, die der Schäfer Hymne an die Nacht nannte. War sie nicht eine andere Welt, fern der Irdischen, so wie sie der Titan empfunden haben mag, und der Schäfer? — So auch ich …