Wallfahrten und Prozessionen auf dem Rhein

Dr. Heinz Weber

»Geleite durch die Welle
Das Schifflein treu und mild,
Zur heiligen Kapelle,
Zu deinem Gnadenbild!
Und hilf ihm in den Stürmen,
Wenn sich die Wogen türmen!
Maria, Maria, o Maria hilf!« 

Unter den Klängen dieses von Guido Görres, dem Sohn des großen Mahners und Rufers Josef Görres, verfaßten Marienliedes verließ am 13. Juni 1973 der Fahrgastdampfer »Rüdesheim« mit mehr als 1 000 Pilgern Köln. Die Wallfahrer kamen aus Mönchengladbach-Rheindahlen und Umgebung und setzten mit ihrer Pilgerreise eine Tradition fort, die Pfarrer Augstein in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts begründet hatte. Das Ziel der Rheinfahrt war das Kloster Bornhofen mit dem Gnadenbild Unserer Lieben Frau. Die Besonderheit der Schiffswallfahrt besteht darin, daß der Gemeinschaftsgedanke auf einem Schiff besser gefördert wird als bei einer Fahrt per Eisenbahn, Omnibus oder bei einer Fußwallfahrt. Auf dem Oberdeck ist ein Altar aufgebaut, so daß die hl. Messe zelebriert werden kann, während das Schiff fährt. Die Gebete und Ansprachen werden durch Lautsprecher in alle Räume des Schiffes übertragen. Die Pilgergemeinde antwortet geschlossen beim Beten von Litaneien oder des Rosenkranzes. Zu alledem kommt die einmalige Schönheit der herrlichen Rheinlandschaft, die dem Pilger die wunderbare Natur Gottes während der Wallfahrtsliturgie sinnvoll nahebringt und das religiöse Erleben nachhaltig verstärkt. Zur Vorbereitung auf den Empfang der hl. Kommunion ist an Bord Gelegenheit zur Beichte in Kabinen, die der Kapitän zur Verfügung stellt. Selbstverständlich wird während der neunstündigen Fahrt nicht nur gebetet und gesungen. Zur Einnahme der Mahlzeiten und zu einem persönlichen Gedankenaustausch werden reichlich Pausen eingelegt.

Die Lage des Klosters Bornhofen unmittelbar am Rhein und der zweifellos gegebene religiöse Effekt einer Wallfahrt zu Schiff sind die Ursachen dafür, daß wir es bei den Pilgerfahrten nach Bornhofen mit einer der ältesten heute noch geübten Schiffswallfahrt auf dem Rhein zu tun haben. Die älteste mit Namen bekannte Wallfahrt nach Bornhofen ist die der marianischen Bürgersodalität von Koblenz, die im Jahre 1609 von Koblenzer Jesuiten gegründet und geleitet wurde. Einzeln wurde vermutlich schon im 13. Jahrhundert nach Bornhofon gepilgert. Die zum Wesen der Wallfahrt gehörige Frömmigkeit war nicht immer Anlaß oder Antrieb. In früheren Jahrhunderten, in denen es einen Tourismus vom heutigen Ausmaß noch nicht gab, war die Teilnahme an einer Pilgerreise, insbesondere an einer Schiffswallfahrt, vielfach von dem Wunsch bestimmt, einmal aus der heimatlichen, gewohnten Umgebung herauszukommen und »etwas von der Welt zu sehen«. Alban Stolz, der katholische Volks-SChriftSteller, sagt dazu: «Der arme Bauer, das ganze Jahr oft geplagt und geärgert, verläßt seine schmutzige Stube und das Kindergeschrei und Weibergebell und die Gasse, wo sein Gläubiger wohnt, und die Kirche, wo der Anblick des Nachbars, der mit ihm Prozeß führt, oder des unbeliebten Pfarrers ihm die Andacht verderbt. Und wenn er aus dem Ortsbann hinaus ist, kommt er erst wieder zur Besinnung über sich selbst und sein Leben … Er ist jetzt nicht mehr der Seppetoni oder der Fischernaz, sondern nach langer Zeit ist er jetzt zum ersten Male wieder nichts als ein Mensch.« Diese Verweltlichung der Wallfahrt hat wohl auch Thomas von Kempen im Sinne gehabt, als er meinte: »Wer viel wallfahrtet, wird selten selig.« An dem Abgleiten der erforderlichen Andacht und Frömmigkeit in profane und zu irdische Bereiche sind die Anliegen und Gebetsziele der Pilger nicht immer unschuldig gewesen; so hat das Anflehen eines Heiligen um einen Ehegatten der Wallfahrt nach Sechtem den Namen »Poussierprozession« eingebracht.

Schiffswallfahrt auf dem Rhein. Aus: Rheinfahrt, 1875
Repro: Archiv

Außer der vorhin erwähnten Bornhofen-Wallfahrt der marianischen Sodalität aus Koblenz gab es in früheren Jahrhunderten auch andernorts kirchliche Kongregationen, die zu Schiff nach oder von Bornhofen pilgerten. Hierfür gibt es einen aufschlußreichen Beleg aus dem Jahre 1710, leider aus sehr traurigem Anlaß. In einer Beschreibung der Rheinlandschaft gegenüber Koblenz wird ein Kreuz erwähnt, das unweit Horchheim stand, »worauf zu lesen: Anno 1710, 8. September, seint alhie diese ertruncken aus Kell. Anna Nachtsheims, Elisabeta Nachtheims, Anna Rörig, Elisabeta The-obalds, Catarina Franck, Apollonie Engels.« Eine Ermahnung war beigefügt, für die von einer Wallfahrt nach Bornhofen heimkehrenden und hier im Rhein verunglückten Frauen zum frommen Gedächtnis ein Vater-Unser zu beten. Der erwähnte Ort Kell liegt in der Nähe des Brohltales zwischen Brohl und dem Laa-cher See, nicht weit vom Tönissteiner Sprudel. Der zuständige Pfarrer schreibt: »Die Erinnerung an dieses tragische Ereignis ist noch in der Gemeinde lebendig.« Von einem ähnlichen Unfall gibt uns Kunde die Inschrift eines Kreuzes, das im Weidengebüsch an der Grenze zwischen Urfeld und Wesseling steht und als Gedenkstein »für einen Einwohner von Keldenich errichtet wurde: Anno 1774 den 19. Nov. allhier vertruncken bei einer Pilgerfahrt N. Siebertz«. Ob die Pilgerfahrt eine Wallfahrt nach Bornhofen war, ist nicht erwiesen, jedoch naheliegend. Nach Bornhofen wird auch in unserer Zeit noch den ganzen Sommer und Herbst hindurch viel per Schiff rheinauf und rheinab gewallfahrtet. Im Jahre 1925 unternahm Pfarrer Bauseier aus Carweiler mit 777 Frauen und Jungfrauen auf dem Personendampfer »Rex Rheni« ab Rema-gen eine Pilgerreise nach Bornhofen. Ein ausgesprochenes Wallfahrtsschiff war die »Kronprinzessin Cecilie« aus Boppalrd, die vor dem Ersten Weltkrieg in Fahrt ging. Ihr Kapitän Bach aus Kamp am Rhein war mit der Zeit so fromm geworden, daß er auf seiner Kommandobrücke den Rosenkranz mitbetete. Von einer Kölner Schiffswallfahrt nach Bornhofen hören wir erst um die Jahrhundertwende. Sie ging von der am Rheinufer gelegenen Schifferkirche St. Maria in Lyskirchen aus, an der seit dem Jahre 1358 eine von Pastor Conrad gegründete Marienbruderschaft bestand. Bekanntlich waren in früheren Zeiten die Bruderschaften Träger der Wallfahrten. Unter der Regie des Grafen Spee, der vor 1914 Pfarrer an St. Maria in Lyskirchen war, unternahmen in Fortführung der Bruderschaftstradition die Gebrüder Weber mit ihren Dampfern Schiffswallfahrten Anfang September zur Schmerzhaften Mutter nach Bornhofen. Der Andrang war so stark, daß in dem heißen Sommer 1911 sogar zwei Schiffe zu einer Wallfahrt eingesetzt werden mußten. Auf einer solchen Pilgerfahrt geschah es, daß die Gebete und Hilferufe einer Frau, die ihrer schweren Stunde entgegensah, von der Gottesmutter allzu prompt erhört wurden. Auf der Heimfahrt kam sie nieder. Beherzte Frauen standen ihr bei, machten in der kleinen Schiffsküche schnell Wasser warm — dazumal war der Rhein noch rein — und bei Vallendar war der neue Erdenbürger da. Es war ein Mädchen, das »Aurora« getauft wurde nach dem Namen des Schiffes.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß auch von den Kölnern die Schiffswallfahrt nach Bornhofen zu profanen Zwecken »mißbraucht« wurde. Nämlich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Hunger größer war als die Frömmigkeit, machten Tausende von Kölner Frauen die Wallfahrt nach Bornhofen mit, um in den ländlichen Orten Kamp und Bornhofen, die in der französischen Zone lagen, Obst und Gemüse zu hamstern. Denn das Wallfahrtsschiff wurde von den Alliierten nicht kontrolliert. Und der Hunger war groß und der Zweck heiligt die Mittel.

Ein anderer »Mißbrauch« hatte sich in der Zeit des Nationalsozialismus herausgebildet. Den katholischen Frauen- und Müttervereinen waren gemeinschaftliche, weltliche Veranstaltungen verboten, streng religiöse Zusammenkünfte dagegen erlaubt. Damit nun die Frauen und Mütter auf ihr sommerliches Schiffstoürchen nicht zu verzichten brauchten, stimmte bei der Abfahrt des Schiffes der Herr Pastor das Kirchenlied »Alles meinem Gott zu Ehren« an, das die Frauen kräftig mitsangen. Nach einer Stunde wurde dann aus der Wallfahrt ein regelrechter Schiffsausflug, Es geschah ja »Gott zu Ehren«, wie die Frauen bei der Abfahrt gesungen hatten.

Eine weitere Schiffswallfahrt ab Köln war die zum Haupte des hl. Apollinaris nach Remagen. Sie fand am 23. Juli — oder in der Oktav — statt, zum Patronatsfest des Heiligen. Der 23. Juli gilt deshalb als Festtag des hl. Apollinaris, weil an diesem Tage im Jahre 1164 das Haupt des Heiligen per Schiff rheinab nach Remagen kam, u. zw. in Gemeinschaft mit den Gebeinen der Hl. Drei Könige, die bekanntlich der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel von Kaiser Friedrich l. zum Geschenk erhalten hatte und die ebenfalls am 23. Juli in Köln eingetroffen sein sollen. Wenn der 23. Juli für Remagen zutreffend ist, wird das Schiff schwerlich noch an demselben Tage Köln erreicht haben. Denn für die damaligen Schiffe betrug die Fahrzeit von Remagen bis Köln je nach Wasserstand wenigstens 8 Stunden. Hinzurechnen muß man das Anlandbringen der Reliquien in Remagen und die feierliche Überführung der Drei-königen-Reliquien in Köln vom Rheinufer in den Dom; das kann unmöglich alles am 23. Juli geschehen sein. Vermutlich aus diesem Grunde wird im Kölner Dom die feierliche Überführung der Gebeine der Hl. Drei Könige seit 1915 nicht mehr am 23., sondern am 24. Juli festlich begangen.

In diesem Zusammenhang sei auf zwei Legenden hingewiesen, die zwar nicht schlüssig, so doch hilfsweise herangezogen werden können. Die erste Legende berichtet, daß das Schiff mit allen Reliquien — es sollen sich unter ihnen auch solche des hl. Nabor und des hl. Felix befunden haben — bei Remagen unbeweglich stehenblieb und erst weiterzubringen war, als man das Haupt des hl. Apollinaris an Land gebracht hatte. Das erforderte einige Stunden. Die zweite Legende erzählt, daß Rainald von Dassel in dem Remagen gegenüberliegenden Erpel, das als erster Ort des Erzstiftes Köln rheinab erreicht wurde und dem Kölner Domkapitel unmittelbar unterstand, den Reliquienschatz, der für Köln bestimmt war, in der Pfarrkirche deponierte, um in der Zwischenzeit mit seinem Gefolge nach Köln zu reiten und einen würdigen Empfang der Reliquien vorzubereiten. Ohne präzise Datenangabe sagen deshalb die Franziskaner auf dem Apollinarisberg heute: »… im Juli 1164 soll dann in feierlicher Schiffsprozession die Überführung nach Köln stattgefunden haben«. Und von Erpel heißt es: »Seit dieser Zeit ist die Zivilgemeinde Erpel berechtigt, in ihrem Wappen die dreifache Kön-nigskrone zu führen.«

Die Kölner Wallfahrt nach Remagen wird schon im 17. Jahrhundert erwähnt. Sie war ursprünglich eine Fußwallfahrt, die von Kölner Pilgern unternommen wurde, um den hl. Apollinaris um Hilfe bei Fallsucht anzuflehen. Träger dieser Wallfahrt war die Apollinaris-Bruderschaft beim Augustinerkloster, später bei der Pfarrkirche St. Georg. Aus der Fußwallfahrt wurde vor der Jahrhundertwende eine Schiffswallfahrt mit dem Rheindampfer. Brudermeister war der Küster Paffen, der auch das Amt des Vorbeters ausübte. Mikrophon und Lautsprecher gab es dazumal noch nicht. Paffen dirigierte mit seinem Vorbeterstab an Deck des Schiffes die Gebete. Wenn er das Vorschiff für den glorreichen Rosenkranz eingeteilt hatte, sagte er auf dem Achterschiff die Litanei vom hl. Apollinaris an. Zwischendurch wurden unter Begleitung einer kleinen Blaskapelle Wallfahrtslieder gesungen. Nach dem Tode Paffens zwischen den beiden Weltkriegen ist keine Schiffswallfahrt nach Remagen mehr unternommen worden. In den zurückliegenden Jahrhunderten sind zu den vielen Wallfahrtsorten und Gnadenstätten im ganzen Rheinland naturgemäß viele Schiffswallfahrten unternommen worden. Die Frage nach der ältesten Schiffswallfahrt auf dem Rhein ist nur schwer zu beantworten. Aus frü-hester Zeit ist uns die Legende von der Pilgerfahrt der hl. Ursula bekannt, die im Jahre 453 mit ihren Gefährtinnen per Schiff von Tiel rheinauf bis Basel fuhr und von dort nach Rom zu einem Papstbesuch reiste. Die Rückfahrt von Basel erfolgte ebenfalls zu Schiff bis Köln, wo die Pilgerschar am 21. Oktober 453 den Märtyrertod erlitt.

Köln war und ist aber nicht nur Ausgangspunkt mehrerer Schiffswallfahrten, sondern auch deren Ziel. Der bedeutendste Anziehungspunkt waren die Gebeine der Hl. Drei Könige, die, wie wir gesehen haben, anno 1164 nach Köln gebracht wurden. Den Rhein als Pilgerweg bis Köln benutzten nicht nur Dreikönigswallfahrer, sondern auch diejenigen, welche die alle sieben Jahre stattfindende Heiligtumsfahrt nach Aachen erleben wollten. Sie pilgerten von Köln zu Fuß nach Aachen. Unter ihnen sehen wir im 16. Jahrhundert viele Ungarn. Sie kamen im Rhythmus der Aachener Heiligtumsfahrt alle sieben Jahre nach Andernach, Köln und Aachen. Hierzu steht im Dom zu Andernach (Pfarrkirche Maria Himmelfahrt) zu lesen: »Die Ungarn waren aber keine Ungarn, sondern Rheinländer, die im 13. Jahrhundert nach Ungarn ausgewandert waren. Zur Erinnerung hieran besuchten sie alle sieben Jahre ihre alte Heimat.«

Es entspricht der Mentalität des Rheinländers, soweit er religiös ist, seinen Glauben auch auf dem Rhein zu bekunden. Viel mehr als heute stand der Strom in früheren Zeiten im Mittelpunkt des täglichen Lebens. Abgesehen von den Berufen, die unmittelbar mit dem Rhein verwachsen waren, wie Schiffer, Fischer, Schiffbauer, Rheinmüller und dergleichen, und die in der Frequenz relativ stärker waren als heute, waren auch die Städte und Dörfer ganz eng zum Rhein hin orientiert und hatten sich noch nicht von ihm weggewachsen. Zudem vollzog sich der Personen- und Güterverkehr zu einem ganz bedeutenden Teile per Rhein-schiff. Dieser nahe und tägliche Kontakt mit dem Rhein brachte es ganz von selbst mit sich, daß Prozessionen, wie sie am Lande üblich waren, auch auf dem Wasser abgehalten wurden. Das Fahren mit dem beflaggten und bewimpelten Schiff, dazu Blasmusik, Schießen, Singen und lautes Beten, kam dem Wesen der Prozession als einer echten Demonstration kirchlichen Lebens sehr entgegen. Als eine frühe Schiffsprozession auf dem Rhein dürfen wir wohl die Überführung der Reliquien der Hl. Drei Könige, des hl. Apollinaris und der hl. Felix und Nabor ansehen.

Auch in unserer Zeit werden noch feierliche Prozessionen auf dem Rhein abgehalten. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts gibt es die sogenannte Mülheimer Gottestracht, die alljährlich am Fronleichnahmstag von dem unterhalb Köln gelegenen Ort Mülheim als Bittprozession mit zahllosen Schiffen über den Rhein zieht. Die Rheinschiffer veranstalten alljährlich eine Schiffsprozession gewissermaßen »in eigener Sache«. Seit etwa 25 Jahren ziehen am Nikolaustage (6. Dezember) viele Personenmotorschiffe in feierlicher Prozession im Anschluß an einen in Aßmannshausen zelebrierten Festgottesdienst mit zahllosen Angehörigen des Schifferstandes an Bord von Aßmannshausen zu der von allen Rheinfahrern gefürchteten Felsenstelle, zum Binger Loch. In der am Ufer befindlichen Nikolaus-Kapelle erflehen sie den Schutz und Beistand ihres Patrons, des hl. Nikolaus, er möge ihnen allzeit sichere Fahrt und gutes Geleit geben. Anschließend segnet der Schiffer-Pastor von der Nikolaus-Kapelle aus die rheinauf und rheinab fahrenden Schiffe.

Und der Deutsche Katholikentag in Köln im Jahre 1956 und der letztverflossene Katholikentag im September 1982 in Düsseldorf fanden ihren krönenden Abschluß in einer feierlichen Schiffsprozession auf dem Rhein.